In schweizerischen Nyon laufen wieder Dokumentarfilme. Visions du Réel findet in diesem Jahr natürlich wieder komplett physisch statt, dennoch ist eine Online-Akkreditierung möglich. Auch wenn Filme auf der Leinwand und mit Publikum viel besser sind, mehr Spass machen, mehr Emotionen transportieren und den Bildern gerechter werden, ist der Blick auf das aktuelle Dokumentargeschehen auch vom Sofa aus spannend und wertvoll. Ein kleiner Blick also auf das aktuelle Programm von Visions du Réel.
Die erste Auswahl fällt schwer, so viele Titel klingen interessant, so viele Vorschaubilder versprechen spannende Unterhaltung, neue Einsichten. Also einfach auf einen Film klicken und losschauen. Gleich der erste Klick ist ein Volltreffer.
Erbschaft und Chaos
La Maison von Sophie Ballmer Mit schwebender Kamera, die Bilder oft auf dem Kopf stehend, immer nur kleine Ausschnitte bietend, erzählt die Regisseurin von einem geerbten Haus, dass sie mit ihrem Mann versucht zu renovieren. Der Off-Text liefert Familiengeschichte(n) und Berichte vom Bau, springt aber oft assoziativ zu anderen Themen, um dann immer wieder treu zum Nichtfortschritt der Bauarbeiten zurückzukommen. So entsteht eine gleichermassen spannende, urkomische und originelle Erzählung, der man bis zum Schluss gerne folgt.
Recht auf Identität
Pure Unknown (Sconosciuti puri) von Mattia Colombo & Valentina Cicogna Aufgebaut fast wie ein Spielfilm, zeigt Pure Unknown den unermüdlichen Kampf der italienischen Forensikerin bei der Identifikation unbekannter Toten. Opfer, die irgendwo im Strassengraben gefunden wurden, sind da noch – fast – eine leichte Aufgabe. Aber die vielen Toten, die übers Mittelmeer versuchen, Europa zu erreichen, und die Überfahrt nicht überleben, sind ungleich schwerer zu identifizieren. Aber auch diese Toten haben ein legales Recht auf Identität, ihre Angehörigen ein Recht auf Abschluss. Der Film begleitet die Forensikerin bei der Arbeit, bei nächtlichen Spaziergängen mit ihren Hunden, aber auch auf der verzweifelten Suche nach finanzieller Unterstützung. Wenigstens ein geregelter Datenaustausch innerhalb Europas, der könnte helfen, die Daten von Vermisste mit denen von Gefundenen abzugleichen. Ein Kampf gegen bürokratische Windmühlen, geführt von einer mutigen Frau, in einem Film voller schöner, einfühlsamer Bilder und ohne jeglichen Kommentar, dafür mit einer vielschichtigen Tonbearbeitung.
Zeit
Le Fils du chasseur von Juliette Riccaboni Der 26-jährige Samir versucht bei einem Jagdausflug Nähe zu seinem Vater zu schaffen. Doch so leicht, wie er sich das denkt, ist es nicht. Ein wehmütiger, ruhiger Film, angesiedelt in den Walliser Alpen, bei oft grau-nassem Wetter, aber nicht Depression, sondern Hoffnung prägen den Film. Und so bleibt auch Samir hoffnungsvoll: wenn er es diesmal nicht geschafft hat seinem Vater näherzukommen, dann eben das nächste Mal, oder spätestens in zwei Jahren.
Auswahl
Alle Filme sind online abrufbar, aber erst, nachdem sie auch in Nyon in den Kinos ihren Spieltermin haben. Da muss man manchmal auf mehrere Filme klicken, bis dann einer freigeschaltet ist. Aber fündig wird man letztlich immer. Weiter geht es also im Programm.
Ein Jahr in einem ukrainischen Dorf am Rand zur EU, auf der eine Seite die nahe Grenze zur Slowakei, auf der anderen die Grenze nach Polen. Ein Dorf, das still stirbt, und doch bleibt es wegen seiner Einwohnerinnen ein lebhafter Ort. Im Fokus stehen drei Frauen, zwischen 50 und 70, eine Bäuerin, eine Biologin, die Postbeamtin des Dorfs. Wenn am Anfang die Bäuerin das Filmteam noch böse zu verjagen versucht, werden Regisseur und Kameramann im Verlauf des Films immer mehr Bestandteil der Gemeinschaft, wie Söhne, sagt die alte Frau, die sie nicht selbst an der Brust genährt hat. Ein sehr schöner, warmherziger und lustiger Film.
Film kann bilden, bietet Blicke über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus. Im Idealfall entsteht eine Beziehung zu den Protagonisten und ihrer fremden Welt.
Bukolikavon Karol Palka ist so ein Idealfall. Mit grosser Feinfühligkeit portraitiert er zwei Frauen, die abgeschieden im ländlichen Polen leben. 6 Monate herantasten und 3 Jahre Drehzeit, Dokumentarfilmer brauchen Geduld, es kann sich aber auszahlen. Mutter und Tochter leben in einem winzigen Haus, ein Zimmer, eine Küche, nichts weiter. Die Bilder im Inneren des Hauses erinnern an Stillleben alter holländischer Maler, Abstufungen von Schwarz, Details zeigen sich nur langsam, oft ist das einfallende Licht durch das kleine Fenster die einzige Lichtquelle, bildet Lichtstreifen, die nur einen Ausschnitt beleuchten. Kein Kommentar, kein Werten, keine Erklärung. Die Frauen können alles zwischen 30 und 80 sein, Spannungen zwischen Mutter und Tochter entladen sich kurz und heftig, um dann wieder einer ländlichen Ruhe und Gleichmut zu weichen. An manchen Stellen des Films setzt kontrapunktisch schwere, laute, basslastige Musik ein, ein Widerspruch zur Szene, der dem Film eine weitere Dimension hinzufügt.
Maskeraden
An sich gilt in allen Kinos Maskenpflicht, heisst: Masken über Mund und Nase ziehen und dort lassen. Erstaunlich, wieviele Menschen das nach so langer Zeit immer noch nicht ganz schaffen. Aber die freundlichen, hilfsbereiten und aufmerksamen Saalhelfer leisten bereitwillig Aufklärung und erinnern an den korrekten Sitz der (nervigen) Masken.
Kurzfilme – Träume
Ein weiteres, durchgängig phantastisches Kurzfilmprogramm.
Der Dokumentarfilm Happyness is a journey von Ivete Lucas und Patrick Bresnan zeigt eine Nacht lang die Arbeit amerikanischer Zeitungsausträger. Als Einpersonen-Unternehmer sind sie auf sich allein gestellt, auch wenn es darum geht, den wirtschaftlichen Fall abzufedern. Spannend an dem Film ist die Machart. Es wird durchgängig in Splitscreen gearbeitet, was einerseits die Möglichkeiten bietet, mehr Bilder von Situationen zu zeigen, was aber auch einen starken Einfluss auf die Zeitwahrnehmung hat. Über den Film als Ganzes gibt es eine zeitliche Kontinuität, am Anfang steht das Packen und Abholen der Zeitungen, dann das Austragen bis zum Nachhausekommen. Innerhalb der Sequenzen ermöglicht die Bildteilung allerdings eine Verschiebung der Zeit, da Handlungen und Situationen nicht parallel und nicht konsekutiv ablaufen. Der Effekt ist verblüffend und man bekommt den Eindruck einer Universalität des Moments.
In Atrapaluz von Kim Torres schafft sich ein einsames Teenagermädchen ein Cyborg-Alterego. Die Geschichte ist still und gefühlvoll, auch ein wenig verwirrend, wie das Leben Jugendlicher, wenn man selbst nicht mehr dazu gehört.
Cavales von Juliette Riccaboni ist eine Geschwistergeschichte und eine Geschichte von Träumen und deren Einfluss auf das reale Leben. Die Geschwister werden weitgehend von ihrer Mutter sich selbst überlassen, wodurch eine besonders starke Verbindung der beiden besteht. Dem grossen Bruder erscheinen in Träumen die Gewinnerpferde von Pferderennen, er setzt, er gewinnt, und ist der Held seiner kleinen Schwester. Bis die Mutter mit einem Liebhaber auftaucht, der nächste Traum ist verwirrend und zeigt weniger das Siegerpferd, als die Gefahr, in der sich die Schwester befindet.
Der Animationsfilm Mr.Pete and the iron horse von Kilian Vilim nutzt den Stil früher Mickeymouse Filme, um, fast gänzlich in Schwarz, Rot und Weiss gehalten, einen Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung zu zeichnen. Extrem beeindruckend gestaltet, die Stilelemente alter Animationsfilme bis hin zur Musik perfekt nutzend, und schafft dabei trotzdem Eigenes.
Somleng reatrey von Chanrado SOK und Kongkea VANN überzeugt vor allem durch die sehr schöne Kameraarbeit. Ein mobiler Nudelverkäufer im nächtlichen Kambodscha. Neonlicht, Strassenlaternen, eine Gaslampe am Wagen, daraus entstehen Bilder, die für sich eine ganz starke emotionale Sprache sprechen. Aber auch hier sind Träume und Wünsche das Thema. Was will der Sohn, der mit beim Verkauf hilft, aus seinem Leben machen? Was ist mit den Hoffnungen für die Tochter, die sich im Nachtleben verliert?
Selbstfindung
Die Stärke von Actual People von Kit Zauhar ist gleichzeitig seine Schwäche. Gedreht wie ein beiläufig entstandener Dokumentarfilm, bei dem die Kamera einfängt, was sie eben kann in Situationen, in denen Menschen reden, feiern, streiten. Das führt dazu, dass man hauptsächlich hektischen Dialogen folgt, Studentinnen, die Stress an der Uni haben oder Liebeskummer, Partys planen, saufen bis nichts mehr geht. Oft bleibt die Kamera in einer Einstellung, oder bewegt sich situativ mit den Figuren. Wege zum Selbst, laut Katalog, auch für die Regisseurin/Hauptdarstellerin. Anfangs ist das furchtbar anstrengend, mit der Zeit wird es etwas besser, aber es bleibt ein eher geschwätziger Film.
Experimenteller Spass
Statt eines japanischen Animationfilms auf der Piazza Grande, ein experimeteller Riesenspass. The case of the vanishing Gods von Ross Lipman ist uneingeschränkt witzig und intelligent gemacht. Eine Bauchrednerpuppe kommt zu einem Psychiater (ebenfalls eine Marionette), weil sie von Albträumen gequält wird und nicht weiss, wer sie ist. Daraus entspinnt sich ein wahnwitziger Reigen. Die Ursprünge des Bauchredens kommen ebenso vor, wie sämtliche denkbaren Variationen von Bauchrednerei und die – meist – bösen Puppen in der Kinogeschichte. Das alles ist geschickt und gekonnt zusammengefügt, 71 Minuten Kinovergnügen.
Die Hard auf isländisch
Der Tag fängt gut an. Sonnenschein und dann um 9 am Morgen die beste Persiflage auf alle Bad Ass und Hard boiled Action-Thriller überhaupt!
„Hey, wir haben das Jahr 2021, kein Schwein kümmert sowas mehr!“ Die Antwort des einen Superbullen an den anderen Superbullen, der ihm gerade, mitten in der ersten Phase des Showdowns, seine Liebe gestanden hat. Aber von Anfang: Leynilögga (Cop Secret) von Hannes Þór Halldórsson ist ein spannender Thriller, mit absolut allen genreüblichen Elementen: dem harten, saufenden Bullen im Angeberauto, der nie nach den Regeln spielt, die extrem bösen Verbrechern, die immer einen Schritt voraus sind, Verfolgungsjagden, Schiessereien, Politiker, die Angst um ihren Ruf haben, korrupte Polizisten, einfach alles! Aber der Film ist eben auch eine Persiflage und zeitgemäss politisch korrekt, aber mit sehr viel Humor. Dennoch, der Thriller wird durchgehalten und funktioniert, Showdown, parallel an vier Schauplätzen, am Ende inklusive. Aber alles ist immer ein bisschen neben dem, was man gemeinhin für normal hält im Genre. Genderfragen werden ebenso nebenbei verhandelt, wie sexuelle Orientierung, und das marode isländische Finanzwesen. Das Ergebnis braucht sich vor vergleichbaren Filmen nicht zu verstecken.
Einige Filme der Auswahl tragen den aktuellen Diskussionen und Sichtweisen Rechnung, ob das am neuen Team um Nazzaro liegt, oder ob einfach langsam mehr Filme existieren, die bei aller Genretreue mehr dem Zeitgeist entsprechen, muss sich weisen.
Kurzfilme – vielleicht sexy
Das Schönste in Fou de Bassan von Yann Gonzalez ist die sanft Sommerhitze suggerierende Saxophonmusik (Aymard Caillol, Antonin Roux). Dazu, in Blau getauchte, sehr gepflegte Bilder von SM und Lederlesben. Treffpunkt? Strassenstrich? Alles möglich, nicht wichtig, mit 4 Minuten gerade kurz genug, dass es keine Rolle spielt.
Criatura von María Silvia Esteve, noch einmal Frauenliebe, diesmal traurig, verloren, mit vielen bedeutungsschweren Bildern und Off-Texten. Eine Aufarbeitung womöglich.
Initiationsriten im U-Bahnschacht: The life underground von Loïc Hobi. Um dazuzugehören muss ein Junge, wie die anderen vor ihm, direkt vor der heranfahrenden U-Bahn über die Gleise springen. Aber will er überhaupt dazu gehören? Gehören die Machospiele und Sprüche überhaupt zu ihm? Oder will er nur seinem Kumpel gefallen?
FIRST TIME [The Time for All but Sunset – VIOLET] von Nicolaas Schmidt. Der Film schickt eine Cola-Werbung aus den 80er Jahren vorneweg, dann geht das Leinwandformat wieder auseinander: Hamburger U-Bahnstationen von aussen, interessante Einblicke in zum Teil scheussliche Architektur. Danach ca. 40 Minuten in einer statischen Einstellung in der Hamburger U-Bahn, ein junger Mann fährt und fährt, und fährt im Kreis, dazwischen trinkt einmal er, einmal sein Sitznachbar Cola. Ist das Satire oder die längste Werbung überhaupt?
Hauptsache Liebe
Ein weiterer Film, der sich mit homosexueller Liebe beschäftigt, ist die georgisch-schweizer Koproduktion Wet Sand von Elene Naveriani. In einem kleinen Dorf am schwarzen Meer erhängt sich ein älterer Mann, die Nachbarn sind neugierig, tratschen und einige scheinen den Mann nie gerne in ihrer Mitte gehabt zu haben. Der Barbesitzer Amnon erklärt sich bereit, die Enkelin des Verstorbenen zu benachrichtigen, als diese aus Tiflis anreist, zeigt sich die ganze Dimension der Heuchelei im Ort. Männer, die ihre Frauen prügeln, spielen sich zu Sittenwächtern auf, als es um die Homosexualität des Mannes geht, und auch die Enkelin gerät schnell in ein schlechtes Licht. Die Geschichte entwickelt sich zwar langsam, wie im Rhythmus der Wellen, die vor der Bar auf den Strand laufen, ist deshalb aber nicht weniger eindrücklich. Ein in sehr schönen Bildern erzähltes Drama vom Anderssein in einer Gegend, wo das bis heute nicht akzeptiert wird.
Free Guy von Shawn Levy läuft am Abend auf der Piazza Grande, auch hier: Anderssein und Liebe. Eine Nebenfigur oder Statist in einem Computerspiel entwickelt ein Eigenleben, und verliebt sich in den Avatar einer der Entwicklerinnen. Ein bisschen ist es die Geschichte von den Geistern, die man ruft, oder eben programmiert, ein wenig auch ein Aufruf zur Selbstermächtigung, egal wie sehr man in einer Nebenrolle zu stecken scheint, und natürlich ist es auch eine Liebessromanze. Viel Action, viel Computeranimation, laut, bunt, albern, aber auch sehr witzig und kurzweilig und leicht genug für die einsetztende Hitzewelle.