Locarno#76 Farben

 

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Gelb-Schwarz und Pink

 

Die Wolken bleiben eher bedrohlich als niedlich, aber immerhin, fast alle nassen Klamotten vom vergangenen Abend sind trocken. Die Online-Rückmeldungen sind immer noch nicht befriedigend und die WLAN-Abdeckung spärlich. Letzteres ist besonders unverständlich, ist doch ein Telekom-Unternehmen seit Jahren einer der Hauptsponsoren des Festivals, da sollte es doch möglich sein, für Gäste einigermassen flächendeckend WLAN zur Verfügung zu stellen.

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Aber sonst zeigt sich Locarno von seiner bunten Seite, Leoparden selbst in Barbie-Pink, Zuschauer, die Varianten von Schwarz-Gelb tragen, und solche, die dem Pink-Trend frönen, schön ist das.

 

 

 

 

 

 

Träume in Gelb

 

Mit Yo y las bestias von Nico Manzano wird die Open Doors Sektion eröffnet. Wie auch schon im letzten Jahr sind Filme aus Lateinamerika eingeladen, Filme und deren Filmschaffende, die in Europa oft unbekannt sind, können hier entdeckt werden. Der Erstlingsfilm Yo y las bestias ist eine melancholische Träumerei in staubigem Gelb. Ein junger Musiker verlässt die Band, in der er spielt, um alleine eine andere, komplexere Art von Musik zu machen. Aber Venezuela und die wirtschaftlichen Probleme lassen das Projekt auf sehr schwachen Füssen stehen. Auch Unterstützung von Freunden ist eher überschaubar, und so arbeitet er sich alleine an seinem Projekt ab, umgeben von imaginierten, gelb verhüllten Mitstreitern. Ein sanfter Film, vielleicht noch etwas ungelenk, aber mit reichlich Potenzial.

 

Sommersonne

 

August im Tessin, das heisst, neben plötzlichen Regenschauern und Gewittern, vor allem Sonne und Hitze. Was weiterhin fehlt, sind konsumfreie Orte, mit Schatten, mit Sitzmöglichkeiten, wo man sich zwischen den Vorstellungen kurz aufhalten kann. Was es gibt, sind Orte in der prallen Sonne, oder kümmerliche Wiesen, mit etwas Schatten und vielen Ameisen, wo man aber bereit sein sollte, auf dem Boden zu sitzen. Oder aber eines der vielen Lokale, wo man sich den Komfort und den Schatten erkaufen muss.

 

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Stimmen sehen

 

Jeden Tag um halb drei heisst es: Leoparden von morgen. Der Nachwuchs, oft, aber nicht immer, aus Filmschulen weltweit, präsentiert seine Arbeiten.

Nocturno para uma floresta von Catarina Vasconcelos, ein eigentümlich künstlicher Film, in dem Untertitel die Stimmen der Seelen von im 17Jahrhundert ausgegrenzten Frauen übernehmen. Blätter, Blumen, Bäume, in verschiedenen Farben eingefärbt fungieren als Protagonisten. Tatsächlich funktioniert die Geschichte besser als befürchtet; ein Film über Frauenselbstverständnis im Wandel der Zeit.
Stop-Motion geht (fast) immer. So auch bei Canard von Elie Chapuis. Eine Art Entensplatter-Horror-Geschichte, Sex inklusive. Sehr lustig, sehr toll gemacht.

Der Versuch eines jungen, schüchternen Fabrikarbeiters, mit einer Kollegin anzubandeln, schlägt in Yi zhi wu gui de ben ming nian (A Tortoise’s Year of Fate) von Yi Xiong gründlich fehl. Dafür fällt er auf einen Wahrsager herein, der mit einer Riesenschildkröte vor allem eines macht: ein Riesengeschäft.

Künstler, schwul, Brasilianer und in Berlin auf Zimmersuche:
Du bist so wunderbar von Leandro Goddinho und Paulo Menezes. Das Ergebnis ist die erwartbare Frustration, Stereotypen inklusive, nicht uninteressant.

Ganz stark ist: The Currency – Sensing 1 Agbogbloshie von Elom 20ce, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper. Beeindruckende Bilder einer wilden Müllkippe in Ghana, zwischen Kühen, der Dreck unserer Zivilisation, schwarze Rauchsäulen, massenweise Handygehäuse, Plastik und ein Mann, der den Müllteilen Geräusche zu entlocken scheint. Der Film, unterteilt in 4 Kapitel, mischt immer mehr Geräusche zu Musik, jazzige Elemente, aber auch Afrikanisches, eine Symphonie unseres Mülls, die eigentümlich schön ist, während die Bilder Schauderhaftes zeigen.

Mit den letzten Tönen des Abspanns heisst es allerdings schon rausrennen und in die lange Schlange des nächsten Films einreihen.

Störung


Nur 65 Minuten lang ist Yannick von Quentin Dupieux, aber ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.

 

Ins Wasser gefallen

 

Und dann fängt es am Abend wieder an zu regnen, erst zaghaft und dann richtig stark. Also kein Abend auf der Piazza, kein La Voie Royale von Frédéric Mermoud.
Und besonders ärgerlich: nicht dabei sein, wenn für einmal ein Cutter einen Ehrenpreis erhält. Der gebürtige Italiener Pietro Scalia hat in den USA so ziemlich alles geschnitten, was gross und teuer ist, von Spiderman über Kick-Ass, Good Will Huntig bis zu Gladiator.
Stattdessen die Pressevorführung von La bella estate von Laura Luchetti, dem Piazza Grande Film von morgen – da soll es auch regnen!
Ein Sommer in Turin 1938, ein Geschwisterpaar vom Land lebt etwas ärmlich in der grossen Stadt, während der Bruder studieren will, arbeitet seine Schwester als Schneiderin in einem Modeatelier. Alles läuft ruhig und irgendwie spiessig, vorhersehbar, bis eines Tages eine junge Frau die Schwester in die wilden Künstlerkreise der Stadt mitnimmt. Wein, Sex, Drogen, ein völlig anderes Leben als das ruhige bisherige. Aber die wilde Welt verwirrt mehr, als dass sie Freude oder Klarheit bringt. Wozu der Film im Jahr 1938 spielt, ausser um ein ziemlich veraltetes Frauenbild zu zeigen, erschliesst sich nicht, ein Schnipsel Mussolini im Radio ist alles, was es an politischem Zeitbezug gibt. Ansonsten: hübsche Kostüme, schöne Ausstattung, gute, warm eingefärbte Bilder, stimmungsvoll einerseits, aber auch etwas langweilig über die doch langen 111 Minuten.

 

 

Schneiden

 

Pietro Scalia
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Nachdem Pietro Scalia gestern Abend geehrt wurde, führt er am Vormittag ein Publikumsgespräch. Also rasch vor dem ersten Film vorbeischauen. Der Italiener, der in Aarau aufgewachsen ist, verliebt sich früh und nachhaltig ins Kino, der Zufall will es, dass er in New York und dann in Los Angeles Film studieren kann, der Rest der Geschichte ist Hartnäckigkeit und Glück. Viel Glück, möchte man in seinem Fall neidlos sagen.

 

 

 

 

Gerüchte

 

Der Tag beginnt wolkig und verspricht, schlechter zu werden. Nun gut, im Kino ist das egal. Auch in Ekskurzija von Una Gunjak überwiegt ein vorstädtisches Grau. Für Iman und ihre Mitschüler, Jugendliche um die 15, dreht sich eigentlich dauernd alles um Sexualität. Aber alle sind auch zu jung, zu unerfahren und zu linkisch, um darüber zielführend zu reden. Sie verlieren sich in Spielchen wie „Wahrheit oder Pflicht“, und protzen immer wieder mit angeblich bestandenen sexuellen Abenteuern. So kommt auch das Gerücht auf, dass Iman mit einem älteren Jungen geschlafen hat. Heimlich verliebt in ihn, befeuert sie die Gerüchte, legt noch mehr dazu, bis die Konsequenzen nicht nur ihr selbst über den Kopf wachsen. Auch wenn in dem Film viel geredet wird, sind doch die Figuren sehr schön gezeichnet, die jungen Darstellerinnen sehr gut und die Entwicklung der Geschichte plausibel. Erwachsenwerden war noch nie ein Spass, heute scheint es, noch ein bisschen nerviger zu sein.

 

 

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Gefühle

 

Gerade in den Kurzfilmen dominiert Gefühl als zentrales Thema. In diesem Program besonders augenscheinlich, wenn auch nicht besonders gelungen.

In ALEXX196 & la plage de sable rose von Loïc Hobi vermischt sich das tägliche Leben eines Jugendlichen mit seinen Abenteuern und vor allem Freundschaften in einem Computerspiel. Das Spiel scheint die einzige Verbindung zu einer emotionalen Welt zu bieten, umso schlechter das Gefühl des Jugendlichen, als sein einziger Freund die Verbindung kappt. Visuell recht interessant gestaltet.

Der Animationsfilm Pado (The waves) von Yumi Joung zeigt einen schwarz-weiss gezeichnten Strand als Metapher auf den Gang des Lebens. Hübsch und verspielt.

I mitera mou ine agia (My Mother Is a Saint) von Syllas Tzoumerkas. Erinnerungen an die Mutter, anscheinend anlässlich ihrer bevorstehenden Beerdigung, ein bisschen wirr, aber nicht uninterssant.

Der stärkste Film dieses Programms ist En undersøgelse af empati (A Study of Empathy) von Hilke Rönnfeldt. Nicht die Geschichte transportiert die im Titel erwähnte Empathie(fähigkeit), sondern die Bilder, ihre Montage, der Ausdruck der Schauspielerin. Die Kraft der Empathie, oder eben ihr Fehlen, schleichen sich so subtil ins Bewusstsein des Zuschauers, eine eigene Geschichte entsteht jenseits der Filmgeschichte.

Slimane von Carlos Pereira ist definitiv wirr. Dialoge vor statischen, menschenleeren Bildern, lange Einstellungen, die einen eher nicht einnehmen, sondern dazu verführen die eigenen Gedanken ,irgendwohin schweifen zu lassen. Beeindruckend eigentlich nur das letzte Bild, eine Nahaufnahme des Protagonisten in Stroboskoplicht, der erst lange nur steht und schaut, um dann plötzlich loszutanzen.

 

 

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Tempo und Witz

 

Drei Stunden Tempo, Spass,Politisches und politisch Unkorrektes in:

Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much From the End of the World) von Radu Jude.
Dass einem dabei nicht langweilig wird, liegt an Judes Talent für Timing, Tempo und Erzählkraft. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80erJahren wären eine umfassende Analyse wert. Trotz der Länge und der Komplexität der Erzählung sind fast alle Zuschauer bis zum Ende geblieben, der Saal war voll, und es gab reichlich Applaus.

 

 

Traktor der Männlichkeit

 

Ausser Konkurrenz, aber im Wettbewerb für den Grünen Leoparden läuft:
5 Hectares von Émilie Deleuze. Lambert Wilson, dieses Jahr Jury-Präsident in Locarno, spielt darin einen Neurowissenschaftler, der sich ein altes Bauernhaus mit 5 Hektar Land gekauft hat. Natürlich gibt es gleich bei der ersten Begegnung mit dem bäuerlichen Nachbarn Ärger. In Abwandlung eines Weitpinkel-Wettkampfs versucht der Zugezogene sich mittels Traktorkauf Respekt zu verschaffen. Alles recht seicht, nett auch, aber vor allem sehr absehbar. Nur für Freunde der seichten Unterhaltung.

Geregnet hat es dann heute Abend doch nicht mehr.

 

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#Locarno Halbzeit

 

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Lebensweisen

Film kann bilden, bietet Blicke über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus. Im Idealfall entsteht eine Beziehung zu den Protagonisten und ihrer fremden Welt.

Bukolika von Karol Palka ist so ein Idealfall. Mit grosser Feinfühligkeit portraitiert er zwei Frauen, die abgeschieden im ländlichen Polen leben. 6 Monate herantasten und 3 Jahre Drehzeit, Dokumentarfilmer brauchen Geduld, es kann sich aber auszahlen. Mutter und Tochter leben in einem winzigen Haus, ein Zimmer, eine Küche, nichts weiter. Die Bilder im Inneren des Hauses erinnern an Stillleben alter holländischer Maler, Abstufungen von Schwarz, Details zeigen sich nur langsam, oft ist das einfallende Licht durch das kleine Fenster die einzige Lichtquelle, bildet Lichtstreifen, die nur einen Ausschnitt beleuchten. Kein Kommentar, kein Werten, keine Erklärung. Die Frauen können alles zwischen 30 und 80 sein, Spannungen zwischen Mutter und Tochter entladen sich kurz und heftig, um dann wieder einer ländlichen Ruhe und Gleichmut zu weichen. An manchen Stellen des Films setzt kontrapunktisch schwere, laute, basslastige Musik ein, ein Widerspruch zur Szene, der dem Film eine weitere Dimension hinzufügt.

 

Maskeraden

 

Maskerade
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An sich gilt in allen Kinos Maskenpflicht, heisst: Masken über Mund und Nase ziehen und dort lassen. Erstaunlich, wieviele Menschen das nach so langer Zeit immer noch nicht ganz schaffen. Aber die freundlichen, hilfsbereiten und aufmerksamen Saalhelfer leisten bereitwillig Aufklärung und erinnern an den korrekten Sitz der (nervigen) Masken.

 

 

Kurzfilme – Träume

Ein weiteres, durchgängig phantastisches Kurzfilmprogramm.

Der Dokumentarfilm Happyness is a journey von Ivete Lucas und Patrick Bresnan zeigt eine Nacht lang die Arbeit amerikanischer Zeitungsausträger. Als Einpersonen-Unternehmer sind sie auf sich allein gestellt, auch wenn es darum geht, den wirtschaftlichen Fall abzufedern. Spannend an dem Film ist die Machart. Es wird durchgängig in Splitscreen gearbeitet, was einerseits die Möglichkeiten bietet, mehr Bilder von Situationen zu zeigen, was aber auch einen starken Einfluss auf die Zeitwahrnehmung hat. Über den Film als Ganzes gibt es eine zeitliche Kontinuität, am Anfang steht das Packen und Abholen der Zeitungen, dann das Austragen bis zum Nachhausekommen. Innerhalb der Sequenzen ermöglicht die Bildteilung allerdings eine Verschiebung der Zeit, da Handlungen und Situationen nicht parallel und nicht konsekutiv ablaufen. Der Effekt ist verblüffend und man bekommt den Eindruck einer Universalität des Moments.

In Atrapaluz von Kim Torres schafft sich ein einsames Teenagermädchen ein Cyborg-Alterego. Die Geschichte ist still und gefühlvoll, auch ein wenig verwirrend, wie das Leben Jugendlicher, wenn man selbst nicht mehr dazu gehört.

Cavales von Juliette Riccaboni ist eine Geschwistergeschichte und eine Geschichte von Träumen und deren Einfluss auf das reale Leben. Die Geschwister werden weitgehend von ihrer Mutter sich selbst überlassen, wodurch eine besonders starke Verbindung der beiden besteht. Dem grossen Bruder erscheinen in Träumen die Gewinnerpferde von Pferderennen, er setzt, er gewinnt, und ist der Held seiner kleinen Schwester. Bis die Mutter mit einem Liebhaber auftaucht, der nächste Traum ist verwirrend und zeigt weniger das Siegerpferd, als die Gefahr, in der sich die Schwester befindet.

Der Animationsfilm Mr.Pete and the iron horse von Kilian Vilim nutzt den Stil früher Mickeymouse Filme, um, fast gänzlich in Schwarz, Rot und Weiss gehalten, einen Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung zu zeichnen. Extrem beeindruckend gestaltet, die Stilelemente alter Animationsfilme bis hin zur Musik perfekt nutzend, und schafft dabei trotzdem Eigenes.

Somleng reatrey von Chanrado SOK und Kongkea VANN überzeugt vor allem durch die sehr schöne Kameraarbeit. Ein mobiler Nudelverkäufer im nächtlichen Kambodscha. Neonlicht, Strassenlaternen, eine Gaslampe am Wagen, daraus entstehen Bilder, die für sich eine ganz starke emotionale Sprache sprechen. Aber auch hier sind Träume und Wünsche das Thema. Was will der Sohn, der mit beim Verkauf hilft, aus seinem Leben machen? Was ist mit den Hoffnungen für die Tochter, die sich im Nachtleben verliert?

 

Pause auf der Wiese
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Selbstfindung

 

Die Stärke von Actual People von Kit Zauhar ist gleichzeitig seine Schwäche. Gedreht wie ein beiläufig entstandener Dokumentarfilm, bei dem die Kamera einfängt, was sie eben kann in Situationen, in denen Menschen reden, feiern, streiten. Das führt dazu, dass man hauptsächlich hektischen Dialogen folgt, Studentinnen, die Stress an der Uni haben oder Liebeskummer, Partys planen, saufen bis nichts mehr geht. Oft bleibt die Kamera in einer Einstellung, oder bewegt sich situativ mit den Figuren. Wege zum Selbst, laut Katalog, auch für die Regisseurin/Hauptdarstellerin. Anfangs ist das furchtbar anstrengend, mit der Zeit wird es etwas besser, aber es bleibt ein eher geschwätziger Film.

 

Experimenteller Spass

Statt eines japanischen Animationfilms auf der Piazza Grande, ein experimeteller Riesenspass.
 The case of the vanishing Gods von Ross Lipman ist uneingeschränkt witzig und intelligent gemacht. Eine Bauchrednerpuppe kommt zu einem Psychiater (ebenfalls eine Marionette), weil sie von Albträumen gequält wird und nicht weiss, wer sie ist. Daraus entspinnt sich ein wahnwitziger Reigen. Die Ursprünge des Bauchredens kommen ebenso vor, wie sämtliche denkbaren Variationen von Bauchrednerei und die – meist – bösen Puppen in der Kinogeschichte. Das alles ist geschickt und gekonnt zusammengefügt, 71 Minuten Kinovergnügen.

 

 

Die Hard auf isländisch

 

 

Von allen Seiten schön, Piazza Grande
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Der Tag fängt gut an. Sonnenschein und dann um 9 am Morgen die beste Persiflage auf alle Bad Ass und Hard boiled Action-Thriller überhaupt!

Hey, wir haben das Jahr 2021, kein Schwein kümmert sowas mehr!“ Die Antwort des einen Superbullen an den anderen Superbullen, der ihm gerade, mitten in der ersten Phase des Showdowns, seine Liebe gestanden hat. Aber von Anfang:
Leynilögga  (Cop Secret) von Hannes Þór Halldórsson ist ein spannender Thriller, mit absolut allen genreüblichen Elementen: dem harten, saufenden Bullen im Angeberauto, der nie nach den Regeln spielt, die extrem bösen Verbrechern, die immer einen Schritt voraus sind, Verfolgungsjagden, Schiessereien, Politiker, die Angst um ihren Ruf haben, korrupte Polizisten, einfach alles! Aber der Film ist eben auch eine Persiflage und zeitgemäss politisch korrekt, aber mit sehr viel Humor. Dennoch, der Thriller wird durchgehalten und funktioniert, Showdown, parallel an vier Schauplätzen, am Ende inklusive. Aber alles ist immer ein bisschen neben dem, was man gemeinhin für normal hält im Genre. Genderfragen werden ebenso nebenbei verhandelt, wie sexuelle Orientierung, und das marode isländische Finanzwesen. Das Ergebnis braucht sich vor vergleichbaren Filmen nicht zu verstecken.

Einige Filme der Auswahl tragen den aktuellen Diskussionen und Sichtweisen Rechnung, ob das am neuen Team um Nazzaro liegt, oder ob einfach langsam mehr Filme existieren, die bei aller Genretreue mehr dem Zeitgeist entsprechen, muss sich weisen.

Kurzfilme – vielleicht sexy

Das Schönste in Fou de Bassan von Yann Gonzalez ist die sanft Sommerhitze suggerierende Saxophonmusik (Aymard Caillol, Antonin Roux). Dazu, in Blau getauchte, sehr gepflegte Bilder von SM und Lederlesben. Treffpunkt? Strassenstrich? Alles möglich, nicht wichtig, mit 4 Minuten gerade kurz genug, dass es keine Rolle spielt.

Criatura von María Silvia Esteve, noch einmal Frauenliebe, diesmal traurig, verloren, mit vielen bedeutungsschweren Bildern und Off-Texten. Eine Aufarbeitung womöglich.

Initiationsriten im U-Bahnschacht: The life underground von Loïc Hobi. Um dazuzugehören muss ein Junge, wie die anderen vor ihm, direkt vor der heranfahrenden U-Bahn über die Gleise springen. Aber will er überhaupt dazu gehören? Gehören die Machospiele und Sprüche überhaupt zu ihm? Oder will er nur seinem Kumpel gefallen?

FIRST TIME [The Time for All but Sunset – VIOLET] von Nicolaas Schmidt. Der Film schickt eine Cola-Werbung aus den 80er Jahren vorneweg, dann geht das Leinwandformat wieder auseinander: Hamburger U-Bahnstationen von aussen, interessante Einblicke in zum Teil scheussliche Architektur. Danach ca. 40 Minuten in einer statischen Einstellung in der Hamburger U-Bahn, ein junger Mann fährt und fährt, und fährt im Kreis, dazwischen trinkt einmal er, einmal sein Sitznachbar Cola. Ist das Satire oder die längste Werbung überhaupt?

 

 

Projektionskabine
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Hauptsache Liebe

Ein weiterer Film, der sich mit homosexueller Liebe beschäftigt, ist die georgisch-schweizer Koproduktion Wet Sand von Elene Naveriani. In einem kleinen Dorf am schwarzen Meer erhängt sich ein älterer Mann, die Nachbarn sind neugierig, tratschen und einige scheinen den Mann nie gerne in ihrer Mitte gehabt zu haben. Der Barbesitzer Amnon erklärt sich bereit, die Enkelin des Verstorbenen zu benachrichtigen, als diese aus Tiflis anreist, zeigt sich die ganze Dimension der Heuchelei im Ort. Männer, die ihre Frauen prügeln, spielen sich zu Sittenwächtern auf, als es um die Homosexualität des Mannes geht, und auch die Enkelin gerät schnell in ein schlechtes Licht. Die Geschichte entwickelt sich zwar langsam, wie im Rhythmus der Wellen, die vor der Bar auf den Strand laufen, ist deshalb aber nicht weniger eindrücklich. Ein in sehr schönen Bildern erzähltes Drama vom Anderssein in einer Gegend, wo das bis heute nicht akzeptiert wird.

Free Guy von Shawn Levy läuft am Abend auf der Piazza Grande, auch hier: Anderssein und Liebe. Eine Nebenfigur oder Statist in einem Computerspiel entwickelt ein Eigenleben, und verliebt sich in den Avatar einer der Entwicklerinnen. Ein bisschen ist es die Geschichte von den Geistern, die man ruft, oder eben programmiert, ein wenig auch ein Aufruf zur Selbstermächtigung, egal wie sehr man in einer Nebenrolle zu stecken scheint, und natürlich ist es auch eine Liebessromanze. Viel Action, viel Computeranimation, laut, bunt, albern, aber auch sehr witzig und kurzweilig und leicht genug für die einsetztende Hitzewelle.