Locarno#76 Neue Bilder?

 

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Neue Bilder

 

Das Festival läuft seit einer Woche, langsam machen sich Ermüdungserscheinung breit. Die Augen hätten gerne eine Pause vom harten Wechsel zwischen dunklem Kino und gleissendem Draussen, auch Sitzen macht gerade nur bedingt Spass.
Aber weiterhin gibt es Filme zu entdecken, viele von ihnen sind Weltpremieren.

 

 

Machtmissbrauch

 

Mehr als zwei Stunden nimmt sich Touched von Claudia Rorarius Zeit.
Trotzdem weiss man nie so genau, geht es ihr darum Körper, die nicht der „Norm“ entsprechen, zu zelebrieren, oder möchte sie eine zeitlupenlangsame Studie zu Machtmissbrauch mittels Sexualität erzählen. In einer nirgends verorteten Pflegeeinrichtung, in Pastellfarben mit Science-Fiction-Ambiente gestaltet, liegt der querschnittsgelähmte Alex. Die neue Pflegerin, Maria, eine mehr als sehr runde junge Frau, kümmert sich um ihn. Fast gleich von Anfang an, mit noch etwas schüchternem Blick, so als wüsste sie nicht genau, was zu tun ist, fängt sie an, sexuelle Grenzen zu testen und schnell zu überschreiten. Es entsteht eine sehr ungleichgewichtige Beziehung, in der sich Alex zwar immer wieder als extrem ekelhaft und sexistisch zeigt, aber im Wesentlich ist er der Missbrauchte. Maria hat zu jedem Zeitpunkt die Oberhand, was sein Wachen, sein Schlafen, sein Lieben angeht.
Der Film verstört weniger wegen seiner Sexualität, oder der „unperfekten“ Körper, als durch seine grosse Sprachlosigkeit, sein Schweben in einem nicht benannten Ort und Kontext. Und er suggeriert, dass marginalisierte Personen in automatischer Solidarität verbunden sind und es hier um ein gegenseitiges Ausleben von Bedürfnissen geht. Über die Länge und Langsamkeit ist das etwas langweilig, ein Zuschauer hat tatsächlich den ganzen Film über auf seinem Handy ein Spiel gespielt.

 

Übungen

 

Das Kurzfilmprogramm heute ist etwas sperrig, und vor allem wirken viele der Filme, als wären sie in erster Linie als Kameraübung gedacht, das Erzählerische bleibt dabei zum Teil auf der Strecke.

Das scheint besonders bei The Island von Julien Pujol der Fall zu sein. In kontrastreichen Schwarzweiss-Bildern, auf Film gedreht, zeigt er eine Gruppe von jungen Menschen irgendwo in einem Wald in Estland. Es ist Mittsommer, und so unterstützt das eigentümliche Sommerlicht die sehr schönen Bilder. Aber was genau die Gruppe dort tut, und wie genau die Beziehungen unter ihnen sind, erschliesst sich nicht wirklich. Sie scheinen sich durch ein akademisches Jahr treiben zu lassen, von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent, wie die Schwalben und Störche, die man wiederholt sieht. Und mit denen der Zuschauer am Ende des Films im hell strahlenden Marokko landet. Eine schöne, lange (39 Minuten) Kameraübung zum Thema Darstellung von Licht in Schwarzweiss-Bildern.

Mátalos a todos von Sebastian Molina Ruiz hingegen ist ziemlich bunt. Aber auch hier scheinen Figuren durch die Zeit, durch den Film zu treiben. Vage ahnt man, dass zwei Mädchen einander Videobotschaften schicken, ein Treffen vereinbaren, das aber nicht stattfindet. Das Warum erschliesst sich eher nicht. Bildlich wechselt der Film von den Aufnahmen der Mädchen in „Amateur-Qualität“ zu den Aufnahmen von den Mädchen in Film-Qualität.

In I Used to Live There von Ryan McKenna visualisieren die verschiedenen Ästhetiken den Zustand, das Innenleben der Figuren. Das ergibt einen interessanten, originellen Effekt. Eine Schauspielerin sucht nach einem Photographen, um ihr neue Portraits für ihre Bewerbungsmappe zu machen, und findet ausgerechnet einen, der immer mehr erblindet. Komplett in Schwarzweiss gedreht, sind die Sequenzen des Erblindenden zusätzlich durchgängig als verkratzte, ausbleichende, rauschende Aufnahmen gestaltet. Das Konzept ist gut.

Kinderfilm von Total Refusal ist die spannendste Arbeit dieses Programms. Im letzten Jahr gewann das Kollektiv bereits den Pardino d’oro. Diesmal kommen sie zurück, mit einer Geschichte, die wieder komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) stattfindet. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

 

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Tragisch-Komisch

 

Lousy Carter von Bob Byington ist ein altmodischer Film. Ein etwas schlampiger, etwas kindischer Literaturprofessor, der seit Jahren nur über Fitzgeralds „Grossen Gatsby“ unterrichtet, erfährt, dass er nur noch 6 Monate zu leben hat. Was folgt, ist eine tragische Komödie, weniger hektisch, aber einem Woody Allen Film nicht unähnlich. Wendungen folgen wie kleine Hiebe, unerwartet, manche lustig, manche hart, und am Schluss doch ganz schön drastisch.

 

Unfreiwillig Komisch

 

In letzter Zeit werden immer häufiger Filme vollmundig angekündigt mit „hier wird ein neues Frauenbild gezeigt“, dabei ist es egal, ob Regisseure oder Regisseurinnen das vorgeben. Leider ist fast nie ein neues Frauenbild im Film zu finden.

Auch Première affaire von Victoria Musiedlak wird auf der Piazza so angekündigt, aber auch hier gibt es wieder dasselbe, alte Frauenbild zu finden. Eine sehr junge Anwältin wird Abends auf dem Weg von einem Barbesuch von ihrem Chef zu einer Vernehmung geschickt. Im Pailletten-Minirock macht sie sich auf den Weg. Dass sie eigentlich eher mit Wirtschaftsrecht Erfahrung hat, und es hier um Strafrecht geht, wischt der Chef beiseite. Die Vernehmung des 18-Jährigen verwandelt sich recht schnell in eine Verhaftung wegen Mordverdachts, und ab da läuft der Film aus dem Ruder.
Einerseits will die Anwältin den Fall unbedingt behalten, andererseits lässt sie sich völlig sinnentleert auf ein Verhältnis mit dem ermittelnden Polizisten ein. Sie wurschtelt ein bisschen an ihrem Fall, lernt von ihrem Chef, dass es für Anwälte egal ist, ob der Klient schuldig ist oder nicht, solange er sagt, er sein unschuldig, habe man ihn auch so zu verteidigen. Auch die Affäre mit dem polizisten wird mit allen alten, dümmlichen Klischees abgehandelt, alles wie gehabt. Und spannend ist die Geschichte eigentlich auch nicht. Aber immerhin haben einige der Klischees auf der Piazza zu, vermutlich ungeplanten, Heiterkeitsanfällen gesorgt.

Wenn es also neue Bilder gibt, dann nur im rein visuellen Sinn, inhaltlich bewegen sich die Filme so weit alle auf bekanntem Territorium.

 

 

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Im Kino

 

Manchmal fragt man sich, was in anderen Menschen vorgeht. Warum glaubt man, keine zwei Stunden ohne E-Mails, Benachrichtigungen und Soziale-Medien auskommen zu können? Muss man wirklich im Kino, mitten während eines Films, aufs Handy schauen, mit grell erleuchtetem Display obendrein? Muss man, wenn am Ende einer Sitzreihe ein Platz frei ist, wirklich mit starrem Blick auf diesen Platz alle anderen Leute treten? Der Platz verschwindet ganz selten plötzlich in einer Dimensionsfalte.

 

Schwelende Feuer

 

Whispers of Fire & Water von Lubdhak Chatterjee ist ein bildlich und akustisch sehr intensiver Film. Die erste Hälfte des Films stromert ein Klangkünstler aus Kalkutta auf und um einen Braunkohle-Tagebau herum. Es qualmt, schwelt, ist dreckig, und doch arbeiten und leben Menschen in dieser Hölle, während man vom Zusehen schon Atemnot bekommt. Beindruckende Bilder und angsteinflössende Töne, und eine unterschwellige Bedrohung, durch die Polizei, lokale Behörden. Genau wie der Protagonist der Geschichte, weiss man nie genau, was los ist, von wo Gefahr droht; aber man ist mitten drin.
Ein Arbeiter des Tagebaus erzählt ihm von seinem Dorf, mitten im Wald, und der Künstler aus der Stadt folgt ihm in die Natur, die so dicht ist, wie vorher die Feuer der Braunkohle. Aber auch hier scheinen Bedrohungen in der Luft zu liegen, unbekannt ihr Ursprung, trotzdem vorhanden, und der Mann scheint sich in der Natur immer mehr zu verlieren.
Ausser, dass in den Dialogsequenzen die Sprache und die Geräusche alle leicht asynchron sind, ein erstaunlicher Film.

 

Veränderungen

 

Ein Kurzfilmprogramm zum Thema Veränderung in verschiednen Formen.
Solo la luna comprenderá von Kim Torres ist vielleicht der unverständlichste Film des Programms. Eine Off-Stimme erzählt von einem schrecklichen Tag, Jahre zurück, einem Tag, an dem der Ich-Erzähler fürchtete zu sterben. Die Filmbilder zeigen Jugendliche, die an einem Strand in Costa Rica spielen, lernen, Spass haben. Im Wasser liegt ein Schiffswrack, das möglicherweise den Erzähler 60 Jahre vorher an diese Küste gebracht hat.

Wenn man auf der „falschen Seite“ der Stadt geboren wurde, ist das Leben vom Anfang weg schwierig. Die falsche Seite von Salerno, und wie sich Jugendliche doch von ihrem Schicksal lösen, erzählt Z.O. von Loris G. Nese. In animierten Realbildern erfährt man von einer Jugend, wo man nur dazugehört, wenn man Schlimmes tut, wenn die Taten der Väter die Leben der Kinder bestimmen.
Und doch, manchmal schafft man es, den Weg zu verlassen, eine Änderung herbeizuführen.

Touristen verändern Orte durch ihre Anwesenheit. In Been There zeigt Corina Schwingruber Ilić Touristenziele haarscharf neben den Stellen, an denen sich alle tummeln, um die immer gleichen Photos zu machen. Venedig, Paris, Rom, Wien, Alpen. Immer die Touristen, oder wenigstens einige im Bild, aber nie den Hintergrund ihres Begehrens. Das ist irre komisch und auch sehr entlarvend.

Wieder eine im Off erzählte Geschichte. Remember, Broken Crayons Colour Too von Urša Kastelic und Shannet Clemmings schildert den brutalen Angriff auf eine jamaikanische Transfrau, und ihr anschliessendes Ankommen in der Schweiz. In den Bildern ist die Protagonistin bereits in Sicherheit, aber die zugefügten Schmerzen bleiben ihr.

The Lovers von Carolina Sandvik ist ein brillanter Stopp-Motion-Film. Ein Pärchen im Restaurant, plötzlich fängt der Mann an sich immer mehr aufzulösen. Seine Haut reisst, sein Fleisch blättert ab, bis beide zuhause sind, ist von ihm nur noch ein Skelett übrig. Sie scheinen sich mit dieser Veränderung dennoch zu arrangieren. Bis auch bei der Frau erste Risse in der Haut auftauchen, und die Auflösung beginnt. Veränderung auf die groteske Spitze getrieben.

 

Ungezogen

 

Am Ende von Rossosperanza von Annarita Zambrano gibt es frenetischen Applaus und wildes Johlen. Der Film erzählt, in verschiedenen, nonlinearen Zeitebenen, von einer Gruppe Jungendlicher, alles Kinder schwerreicher Familien, die alle irgendetwas „angestellt“ haben. Sie treffen in einer teuren, noblen psychiatrischen Einrichtung zusammen. Tatsächlich reichen ihre Untaten von Promiskuität über Brandstiftung zu Mord, zum Teil von allem ein bisschen. Durch die Zeitsprünge bleibt der Film in ständiger Spannung, während die Figuren immer mehr miteinander verwoben werden. Und auch der umherstreifende Tiger ist Teil der ineinandergreifenden Geschichten. Ein sommerlicher Horror nicht nur durch die Jugendlichen, sondern auch an den Jugendlichen. Der Schlussapplaus ist mehr als wohlverdient.

 

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Während Locarno mittags noch friedlich vor sich hin köchelt, ist es gegen Abend plötzlich drückend und bewölkt, Zeit das Regencape zu holen.

 

 

 

 

 

 

Tauchen und Kämpfen

 

Koreanisches Action-Kino am Abend. Milsu (Smugglers) von RYOO Seung-wan fängt etwas langsam an, wird dann aber in der zweiten Hälfte wirklich rasant.

Korea in den 1970er Jahren, das Tauchen nach Muscheln und Fischen deckt den Lebensunterhalt nicht mehr, da kommt das Angebot, das Können der Taucherinnen zu nutzen, um Schmugglerware aus dem Meer zu holen, gerade recht. Als eine Ausfahrt an die Polizei verraten wird, kommt es zu einem Unfall, und die Taucherinnen werden, bis auf eine, eingesperrt.
Zwei Jahre später sind die Frauen wieder draussen, Gerüchte machen sich breit. Hat Choon-ja, die davon gekommen war, den Verrat begangen, wie ihre Freundin Jin-sook vermutet? Als Choon-ja wieder auftaucht, und neue Pläne für ertragreicheren Schmuggel mitbringt, sind alle skeptisch. Und langsam beginnt ein wildes Intrigenspiel, in dem man manchmal den Überblick verliert. Wer betrügt wen, und wer betreibt doppeltes Spiel? Es wird mit allen Mitteln gekämpft, gemetzelt, verraten, und zum letzten Showdown treten die Taucherinnen unter Wasser an. Trotz des langsamen Starts, viel Tempo und Action, und Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ach ja, und einige grosse Haie dürfen in dem Spektakel natürlich auch nicht fehlen. Der Piazza hat das gefallen.

Geregnet hat es dann doch nicht.

 

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#Locarno Halbzeit

 

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Lebensweisen

Film kann bilden, bietet Blicke über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus. Im Idealfall entsteht eine Beziehung zu den Protagonisten und ihrer fremden Welt.

Bukolika von Karol Palka ist so ein Idealfall. Mit grosser Feinfühligkeit portraitiert er zwei Frauen, die abgeschieden im ländlichen Polen leben. 6 Monate herantasten und 3 Jahre Drehzeit, Dokumentarfilmer brauchen Geduld, es kann sich aber auszahlen. Mutter und Tochter leben in einem winzigen Haus, ein Zimmer, eine Küche, nichts weiter. Die Bilder im Inneren des Hauses erinnern an Stillleben alter holländischer Maler, Abstufungen von Schwarz, Details zeigen sich nur langsam, oft ist das einfallende Licht durch das kleine Fenster die einzige Lichtquelle, bildet Lichtstreifen, die nur einen Ausschnitt beleuchten. Kein Kommentar, kein Werten, keine Erklärung. Die Frauen können alles zwischen 30 und 80 sein, Spannungen zwischen Mutter und Tochter entladen sich kurz und heftig, um dann wieder einer ländlichen Ruhe und Gleichmut zu weichen. An manchen Stellen des Films setzt kontrapunktisch schwere, laute, basslastige Musik ein, ein Widerspruch zur Szene, der dem Film eine weitere Dimension hinzufügt.

 

Maskeraden

 

Maskerade
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An sich gilt in allen Kinos Maskenpflicht, heisst: Masken über Mund und Nase ziehen und dort lassen. Erstaunlich, wieviele Menschen das nach so langer Zeit immer noch nicht ganz schaffen. Aber die freundlichen, hilfsbereiten und aufmerksamen Saalhelfer leisten bereitwillig Aufklärung und erinnern an den korrekten Sitz der (nervigen) Masken.

 

 

Kurzfilme – Träume

Ein weiteres, durchgängig phantastisches Kurzfilmprogramm.

Der Dokumentarfilm Happyness is a journey von Ivete Lucas und Patrick Bresnan zeigt eine Nacht lang die Arbeit amerikanischer Zeitungsausträger. Als Einpersonen-Unternehmer sind sie auf sich allein gestellt, auch wenn es darum geht, den wirtschaftlichen Fall abzufedern. Spannend an dem Film ist die Machart. Es wird durchgängig in Splitscreen gearbeitet, was einerseits die Möglichkeiten bietet, mehr Bilder von Situationen zu zeigen, was aber auch einen starken Einfluss auf die Zeitwahrnehmung hat. Über den Film als Ganzes gibt es eine zeitliche Kontinuität, am Anfang steht das Packen und Abholen der Zeitungen, dann das Austragen bis zum Nachhausekommen. Innerhalb der Sequenzen ermöglicht die Bildteilung allerdings eine Verschiebung der Zeit, da Handlungen und Situationen nicht parallel und nicht konsekutiv ablaufen. Der Effekt ist verblüffend und man bekommt den Eindruck einer Universalität des Moments.

In Atrapaluz von Kim Torres schafft sich ein einsames Teenagermädchen ein Cyborg-Alterego. Die Geschichte ist still und gefühlvoll, auch ein wenig verwirrend, wie das Leben Jugendlicher, wenn man selbst nicht mehr dazu gehört.

Cavales von Juliette Riccaboni ist eine Geschwistergeschichte und eine Geschichte von Träumen und deren Einfluss auf das reale Leben. Die Geschwister werden weitgehend von ihrer Mutter sich selbst überlassen, wodurch eine besonders starke Verbindung der beiden besteht. Dem grossen Bruder erscheinen in Träumen die Gewinnerpferde von Pferderennen, er setzt, er gewinnt, und ist der Held seiner kleinen Schwester. Bis die Mutter mit einem Liebhaber auftaucht, der nächste Traum ist verwirrend und zeigt weniger das Siegerpferd, als die Gefahr, in der sich die Schwester befindet.

Der Animationsfilm Mr.Pete and the iron horse von Kilian Vilim nutzt den Stil früher Mickeymouse Filme, um, fast gänzlich in Schwarz, Rot und Weiss gehalten, einen Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung zu zeichnen. Extrem beeindruckend gestaltet, die Stilelemente alter Animationsfilme bis hin zur Musik perfekt nutzend, und schafft dabei trotzdem Eigenes.

Somleng reatrey von Chanrado SOK und Kongkea VANN überzeugt vor allem durch die sehr schöne Kameraarbeit. Ein mobiler Nudelverkäufer im nächtlichen Kambodscha. Neonlicht, Strassenlaternen, eine Gaslampe am Wagen, daraus entstehen Bilder, die für sich eine ganz starke emotionale Sprache sprechen. Aber auch hier sind Träume und Wünsche das Thema. Was will der Sohn, der mit beim Verkauf hilft, aus seinem Leben machen? Was ist mit den Hoffnungen für die Tochter, die sich im Nachtleben verliert?

 

Pause auf der Wiese
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Selbstfindung

 

Die Stärke von Actual People von Kit Zauhar ist gleichzeitig seine Schwäche. Gedreht wie ein beiläufig entstandener Dokumentarfilm, bei dem die Kamera einfängt, was sie eben kann in Situationen, in denen Menschen reden, feiern, streiten. Das führt dazu, dass man hauptsächlich hektischen Dialogen folgt, Studentinnen, die Stress an der Uni haben oder Liebeskummer, Partys planen, saufen bis nichts mehr geht. Oft bleibt die Kamera in einer Einstellung, oder bewegt sich situativ mit den Figuren. Wege zum Selbst, laut Katalog, auch für die Regisseurin/Hauptdarstellerin. Anfangs ist das furchtbar anstrengend, mit der Zeit wird es etwas besser, aber es bleibt ein eher geschwätziger Film.

 

Experimenteller Spass

Statt eines japanischen Animationfilms auf der Piazza Grande, ein experimeteller Riesenspass.
 The case of the vanishing Gods von Ross Lipman ist uneingeschränkt witzig und intelligent gemacht. Eine Bauchrednerpuppe kommt zu einem Psychiater (ebenfalls eine Marionette), weil sie von Albträumen gequält wird und nicht weiss, wer sie ist. Daraus entspinnt sich ein wahnwitziger Reigen. Die Ursprünge des Bauchredens kommen ebenso vor, wie sämtliche denkbaren Variationen von Bauchrednerei und die – meist – bösen Puppen in der Kinogeschichte. Das alles ist geschickt und gekonnt zusammengefügt, 71 Minuten Kinovergnügen.

 

 

Die Hard auf isländisch

 

 

Von allen Seiten schön, Piazza Grande
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Der Tag fängt gut an. Sonnenschein und dann um 9 am Morgen die beste Persiflage auf alle Bad Ass und Hard boiled Action-Thriller überhaupt!

Hey, wir haben das Jahr 2021, kein Schwein kümmert sowas mehr!“ Die Antwort des einen Superbullen an den anderen Superbullen, der ihm gerade, mitten in der ersten Phase des Showdowns, seine Liebe gestanden hat. Aber von Anfang:
Leynilögga  (Cop Secret) von Hannes Þór Halldórsson ist ein spannender Thriller, mit absolut allen genreüblichen Elementen: dem harten, saufenden Bullen im Angeberauto, der nie nach den Regeln spielt, die extrem bösen Verbrechern, die immer einen Schritt voraus sind, Verfolgungsjagden, Schiessereien, Politiker, die Angst um ihren Ruf haben, korrupte Polizisten, einfach alles! Aber der Film ist eben auch eine Persiflage und zeitgemäss politisch korrekt, aber mit sehr viel Humor. Dennoch, der Thriller wird durchgehalten und funktioniert, Showdown, parallel an vier Schauplätzen, am Ende inklusive. Aber alles ist immer ein bisschen neben dem, was man gemeinhin für normal hält im Genre. Genderfragen werden ebenso nebenbei verhandelt, wie sexuelle Orientierung, und das marode isländische Finanzwesen. Das Ergebnis braucht sich vor vergleichbaren Filmen nicht zu verstecken.

Einige Filme der Auswahl tragen den aktuellen Diskussionen und Sichtweisen Rechnung, ob das am neuen Team um Nazzaro liegt, oder ob einfach langsam mehr Filme existieren, die bei aller Genretreue mehr dem Zeitgeist entsprechen, muss sich weisen.

Kurzfilme – vielleicht sexy

Das Schönste in Fou de Bassan von Yann Gonzalez ist die sanft Sommerhitze suggerierende Saxophonmusik (Aymard Caillol, Antonin Roux). Dazu, in Blau getauchte, sehr gepflegte Bilder von SM und Lederlesben. Treffpunkt? Strassenstrich? Alles möglich, nicht wichtig, mit 4 Minuten gerade kurz genug, dass es keine Rolle spielt.

Criatura von María Silvia Esteve, noch einmal Frauenliebe, diesmal traurig, verloren, mit vielen bedeutungsschweren Bildern und Off-Texten. Eine Aufarbeitung womöglich.

Initiationsriten im U-Bahnschacht: The life underground von Loïc Hobi. Um dazuzugehören muss ein Junge, wie die anderen vor ihm, direkt vor der heranfahrenden U-Bahn über die Gleise springen. Aber will er überhaupt dazu gehören? Gehören die Machospiele und Sprüche überhaupt zu ihm? Oder will er nur seinem Kumpel gefallen?

FIRST TIME [The Time for All but Sunset – VIOLET] von Nicolaas Schmidt. Der Film schickt eine Cola-Werbung aus den 80er Jahren vorneweg, dann geht das Leinwandformat wieder auseinander: Hamburger U-Bahnstationen von aussen, interessante Einblicke in zum Teil scheussliche Architektur. Danach ca. 40 Minuten in einer statischen Einstellung in der Hamburger U-Bahn, ein junger Mann fährt und fährt, und fährt im Kreis, dazwischen trinkt einmal er, einmal sein Sitznachbar Cola. Ist das Satire oder die längste Werbung überhaupt?

 

 

Projektionskabine
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Hauptsache Liebe

Ein weiterer Film, der sich mit homosexueller Liebe beschäftigt, ist die georgisch-schweizer Koproduktion Wet Sand von Elene Naveriani. In einem kleinen Dorf am schwarzen Meer erhängt sich ein älterer Mann, die Nachbarn sind neugierig, tratschen und einige scheinen den Mann nie gerne in ihrer Mitte gehabt zu haben. Der Barbesitzer Amnon erklärt sich bereit, die Enkelin des Verstorbenen zu benachrichtigen, als diese aus Tiflis anreist, zeigt sich die ganze Dimension der Heuchelei im Ort. Männer, die ihre Frauen prügeln, spielen sich zu Sittenwächtern auf, als es um die Homosexualität des Mannes geht, und auch die Enkelin gerät schnell in ein schlechtes Licht. Die Geschichte entwickelt sich zwar langsam, wie im Rhythmus der Wellen, die vor der Bar auf den Strand laufen, ist deshalb aber nicht weniger eindrücklich. Ein in sehr schönen Bildern erzähltes Drama vom Anderssein in einer Gegend, wo das bis heute nicht akzeptiert wird.

Free Guy von Shawn Levy läuft am Abend auf der Piazza Grande, auch hier: Anderssein und Liebe. Eine Nebenfigur oder Statist in einem Computerspiel entwickelt ein Eigenleben, und verliebt sich in den Avatar einer der Entwicklerinnen. Ein bisschen ist es die Geschichte von den Geistern, die man ruft, oder eben programmiert, ein wenig auch ein Aufruf zur Selbstermächtigung, egal wie sehr man in einer Nebenrolle zu stecken scheint, und natürlich ist es auch eine Liebessromanze. Viel Action, viel Computeranimation, laut, bunt, albern, aber auch sehr witzig und kurzweilig und leicht genug für die einsetztende Hitzewelle.