#FestivalTipp Viennale

 

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Eine kleine Auswahl grosser Filme

 

 

Vom 19.10. bis 31.10. findet die Viennale statt, das Programm ist wie immer üppig und vielfältig. Hier ein paar – wenige – Festival-Tipps.

Lang

Ganz dringend sollte man versuchen, den rumänischen Film Nu astepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much from the End of the World) von Radu Jude anzuschauen.
Jude gehört zu den originellsten, kompromisslosesten europäischen Regisseuren. Und auch wenn sein aktueller Film mit fast drei Stunden lang erscheint, wenn man erstmal schaut, vergeht die Zeit wie im Flug. Sein Sinn für subtilen und subversiven Humor und sein Gefühl für Rhythmus und Schnitt sind jedes Mal eine grosse Freude. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er-Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80er Jahren wären eine umfassende Analyse wert. In Locarno entschuldigte er sich vor der Premiere für die Länge, mit dem Hinweis, der Film musste so lang werden.
Er läuft an diesen Terminen.


Kürzer

Ein viel kürzerer Film, mit nur 65 Minuten, ist Yannick von Quentin Dupieux.
Aber auch das macht ihn für normale Kinoprogrammierung schwer vermittelbar. Und deshalb sei auch dieser fabelhaft groteske und intelligente Film dringend empfohlen.
Er ist ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.
Im Programm an diesen Terminen.


Noch kürzer

Bei den Kurzfilmen sei Kinderfilm des Kollektivs Total Refusal sehr empfohlen. Was dieses Regie-Kollektiv macht, ist eigentlich jedes Mal witzig, erstaunlich und wirklich innovativ. Die Geschichte findet komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) statt. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

Einer geht noch

Selbst wenn er demnächst sowieso in die Kinos kommt, Anatomie d’une chute von Justine Triet ist ein mit Recht hochgelobter und mit Preisen belohnter Film.
Er ist spannend, extrem gut erzählt und irre gut gespielt. Was bei diesem Gerichtsdrama, wenn man es so nennen mag, besonders gelungen ist, ist die Ungewissheit, in der der Zuschauer bis zum Schluss bleibt. Alle Möglichkeiten sind offen, alles kann passiert sein. Die einzigen Momente, in denen man wirklich Partei beziehen möchte, sind bei den immer kruder werdenden Aussagen des Staatsanwalts, aber dann wieder: wer weiss?
Hier die Spieltermine

Eine kleine Auswahl grosser europäischer Filme, die jenseits bekannter Pfade Geschichten erzählen.

Das gesamte Programm, inklusive Rahmenprogramm, findet sich auf der Festivalseite.

 

Locarno#76 Zum Schluss

 

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Vorhersagen

 

Jedes Jahr werden Filmkritiker in Locarno gefragt, welches ihr Favorit für den Pardo d’Oro ist. Sehr oft herrscht eine Art Einigkeit, aber kein Jahr war es so eindeutig wie diesmal.
Mit 12 Nennungen liegt Radu Judes Film Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, einsam an der Spitze. Sein Film vereint vieles, das gerade in Locarno wichtig ist: künstlerische Freiheit in der Wahl der Ausdrucksform, intelligent erzählte Geschichte, der trotzdem der Witz nicht fehlt, und Originalität in der Umsetzung. Am Abend wird sich zeigen, ob die Jury das genauso sieht.
Die beiden nächst häufig genannten Filme: Yannick von Quentin Dupieux und
The Vanishing Soldier von Dani Rosenberg, mit jeweils zwei Nennungen, sind definitiv auch sehr gute Kandidaten, in der Meinung der befragte Kritiker aber ganz schön weit abgeschlagen. Auch Stepne von Maryna Vroda wäre ein würdiger Kandidat und, möglicherweise, ein politisches Statement. Ob die Jury sich von Politik oder nur von künstlerischem Ausdruck leiten lässt, bleibt ihr Geheimnis.
Aber vielleicht verhält es sich mit Kritiker-Vorhersagen ähnlich wie mit Wettervorhersagen.

 

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Themen

Es war viel von Sexualität die Rede, aber auch wenn „sex sells“ für die Werbung gilt, das alleine macht noch keinen interessanten oder guten Film. Und in einigen Fällen waren die vermittelten Bilder und Werte sehr rückwärtsgewandt.
Gar nicht wenige Filme verlegten ihre Geschichten in die Vergangenheit, wobei nur bei wenigen mit der Zeit und ihren historischen Implikationen gespielt wurde.

 

Bildformate

Die Wahl des Bildformats, des Materials, der visuellen Ästhetik waren auch in diesem Jahr vielfältig. Die Leinwand wurde je nach Bedarf in voller Breite oder im reduzierten 4:3 genutzt, und fast immer entsprach die Wahl dem für die Geschichte besten Bildformat. Dass wieder vermehrt auf Film gedreht wird, und dass Schwarzweiss-Bilder als Ausdruck gewählt werden, ist eine schöne Entwicklung.

 

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Preise

Den Pardo d’Oro im Hauptwettbewerb gewinnt Mantagheye Bohrani (Critical Zone) von Ali Ahmadzadeh, den ich leider nicht gesehen habe.
Radu Jude bekommt für Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, neben anderen Preisen, den Spezialpreis der Jury und den Hauptpreis der Jugendjury.
Maryna Vroda gewinnt mit Stepne den Preis für die beste Regie im Hauptwettbewerb und den FIPRESCI Preis.
Im Wettbewerb Cineasti del presente, gewinnt Hao jiu bu jian (Dreaming & Dying) von Nelson Yeo den Pardo d’Oro und den First Feature Award.
Warum Katharina Huber für Ein schöner Ort den Preis als beste Nachwuchsregisseurin bekommt, erschliesst sich mir nicht.
Der Pardo Verde geht an Čuvari Formule (Guardians of the formula) von Dragan Bjelogrlić, der auf der Piazza an einem Regentag als zweiter Abendfilm lief, bedauerlicherweise nicht gesehen.
Besonders die Preise der Jugenjury an Radu Jude, an Maryna Vroda oder an Sweet Dreams von Ena Sendijarević beeindrucken. Die zukünftigen Kinozuschauer haben keine Berührungsängste mit komplexen Themen, Autorenkino oder Kinokunst. Das gibt Hoffnung und widerspricht dem, was sonst so pauschal vom Geschmack junger Zuschauer gesagt wird.
Europäisches Autorenkino ist gefragt, man muss nur den Mut haben, das dann auch im Kino zu zeigen.

Publikumspreis

Dann stellt sich weiter die Frage: Kann ein Film, in dem ein niedliches Haustier böse zu Tode kommt, den Publikumspreis gewinnen?
Wie schon direkt im Anschluss an Ken Loachs Auftritt auf der Piazza abzusehen war, gewinnt The Old Oak den Publikumspreis. Das damit verbundene Preisgeld, liess er durch seinen Schweizer Verleiher mitteilen, wird Loach an Flüchtlingsorganisationen spenden.
Und damit wäre auch die Frage beantwortet: Ja, selbst wenn niedliche Haustiere zu Tode kommen, kann ein Film das Publikum gewinnen.
Alle Preise sind auf der Webseite des Festivals zu finden.

 

 

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Abschied

Am Abend fängt es an zu regnen, aber trotzdem strömen Menschen auf die Piazza. Die Stühle sind nass, überall Regencapes. Wird die Schlusszeremonie wirklich auf der Piazza Grande stattfinden?

 

 

Punkt 21 Uhr ist es dann so weit, der Regen hat aufgehört, und zum letzten Mal für dieses Jahr heisst es: „Buona Sera, Piazza Grande“.
Die grössten Emotionen löst der letzte Auftritt von Marco Solari aus, er wird mit stehendem Beifall empfangen, wovon er sichtlich bewegt ist. Noch einmal beschwört er den freien Geist, der in Locarno herrscht, und von dem er überzeugt ist, dass auch die kommende Festivalpräsidentin ihn mit ihrem Team weiter tragen wird.
Als scheidender Präsident hat er einen Überraschungsfilm versprochen, und sich für Citizen Kane entschieden.

 

 

Gewalt

Der Abschlussfilm Shayda von Noora Niasari erzählt von dem, das oft euphemistisch als häusliche Gewalt bezeichnet wird. Dass die Hauptfigur der Geschichte eine iranische Mutter in Australien ist, fügt dem Problem eine Dimension dazu. Aber im Kern, und das ist auch im Film deutlich, ist das Problem immer dasselbe, egal wo die betroffenen Frauen und ihre Kinder herkommen. Die titelgebende Shayda ist nach Gewalt und Vergewaltigung durch ihren Mann in einem Frauenhaus untergekommen, trotzdem versucht sie für ihre Tochter eine halbwegs normale Beziehung zum Vater zu ermöglichen. Dass das nur bedingt gut geht, liegt auf der Hand. Der Film ist sehr emotional und vor allem von der 6-jährigen Selina Zahednia toll gespielt.

 

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Das war es aus Locarno.
Nächstes Jahr am 7. August wird pünktlich um 21:30 die 77. Ausgabe beginnen.

Locarno#76 Farben

 

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Gelb-Schwarz und Pink

 

Die Wolken bleiben eher bedrohlich als niedlich, aber immerhin, fast alle nassen Klamotten vom vergangenen Abend sind trocken. Die Online-Rückmeldungen sind immer noch nicht befriedigend und die WLAN-Abdeckung spärlich. Letzteres ist besonders unverständlich, ist doch ein Telekom-Unternehmen seit Jahren einer der Hauptsponsoren des Festivals, da sollte es doch möglich sein, für Gäste einigermassen flächendeckend WLAN zur Verfügung zu stellen.

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Aber sonst zeigt sich Locarno von seiner bunten Seite, Leoparden selbst in Barbie-Pink, Zuschauer, die Varianten von Schwarz-Gelb tragen, und solche, die dem Pink-Trend frönen, schön ist das.

 

 

 

 

 

 

Träume in Gelb

 

Mit Yo y las bestias von Nico Manzano wird die Open Doors Sektion eröffnet. Wie auch schon im letzten Jahr sind Filme aus Lateinamerika eingeladen, Filme und deren Filmschaffende, die in Europa oft unbekannt sind, können hier entdeckt werden. Der Erstlingsfilm Yo y las bestias ist eine melancholische Träumerei in staubigem Gelb. Ein junger Musiker verlässt die Band, in der er spielt, um alleine eine andere, komplexere Art von Musik zu machen. Aber Venezuela und die wirtschaftlichen Probleme lassen das Projekt auf sehr schwachen Füssen stehen. Auch Unterstützung von Freunden ist eher überschaubar, und so arbeitet er sich alleine an seinem Projekt ab, umgeben von imaginierten, gelb verhüllten Mitstreitern. Ein sanfter Film, vielleicht noch etwas ungelenk, aber mit reichlich Potenzial.

 

Sommersonne

 

August im Tessin, das heisst, neben plötzlichen Regenschauern und Gewittern, vor allem Sonne und Hitze. Was weiterhin fehlt, sind konsumfreie Orte, mit Schatten, mit Sitzmöglichkeiten, wo man sich zwischen den Vorstellungen kurz aufhalten kann. Was es gibt, sind Orte in der prallen Sonne, oder kümmerliche Wiesen, mit etwas Schatten und vielen Ameisen, wo man aber bereit sein sollte, auf dem Boden zu sitzen. Oder aber eines der vielen Lokale, wo man sich den Komfort und den Schatten erkaufen muss.

 

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Stimmen sehen

 

Jeden Tag um halb drei heisst es: Leoparden von morgen. Der Nachwuchs, oft, aber nicht immer, aus Filmschulen weltweit, präsentiert seine Arbeiten.

Nocturno para uma floresta von Catarina Vasconcelos, ein eigentümlich künstlicher Film, in dem Untertitel die Stimmen der Seelen von im 17Jahrhundert ausgegrenzten Frauen übernehmen. Blätter, Blumen, Bäume, in verschiedenen Farben eingefärbt fungieren als Protagonisten. Tatsächlich funktioniert die Geschichte besser als befürchtet; ein Film über Frauenselbstverständnis im Wandel der Zeit.
Stop-Motion geht (fast) immer. So auch bei Canard von Elie Chapuis. Eine Art Entensplatter-Horror-Geschichte, Sex inklusive. Sehr lustig, sehr toll gemacht.

Der Versuch eines jungen, schüchternen Fabrikarbeiters, mit einer Kollegin anzubandeln, schlägt in Yi zhi wu gui de ben ming nian (A Tortoise’s Year of Fate) von Yi Xiong gründlich fehl. Dafür fällt er auf einen Wahrsager herein, der mit einer Riesenschildkröte vor allem eines macht: ein Riesengeschäft.

Künstler, schwul, Brasilianer und in Berlin auf Zimmersuche:
Du bist so wunderbar von Leandro Goddinho und Paulo Menezes. Das Ergebnis ist die erwartbare Frustration, Stereotypen inklusive, nicht uninteressant.

Ganz stark ist: The Currency – Sensing 1 Agbogbloshie von Elom 20ce, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper. Beeindruckende Bilder einer wilden Müllkippe in Ghana, zwischen Kühen, der Dreck unserer Zivilisation, schwarze Rauchsäulen, massenweise Handygehäuse, Plastik und ein Mann, der den Müllteilen Geräusche zu entlocken scheint. Der Film, unterteilt in 4 Kapitel, mischt immer mehr Geräusche zu Musik, jazzige Elemente, aber auch Afrikanisches, eine Symphonie unseres Mülls, die eigentümlich schön ist, während die Bilder Schauderhaftes zeigen.

Mit den letzten Tönen des Abspanns heisst es allerdings schon rausrennen und in die lange Schlange des nächsten Films einreihen.

Störung


Nur 65 Minuten lang ist Yannick von Quentin Dupieux, aber ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.

 

Ins Wasser gefallen

 

Und dann fängt es am Abend wieder an zu regnen, erst zaghaft und dann richtig stark. Also kein Abend auf der Piazza, kein La Voie Royale von Frédéric Mermoud.
Und besonders ärgerlich: nicht dabei sein, wenn für einmal ein Cutter einen Ehrenpreis erhält. Der gebürtige Italiener Pietro Scalia hat in den USA so ziemlich alles geschnitten, was gross und teuer ist, von Spiderman über Kick-Ass, Good Will Huntig bis zu Gladiator.
Stattdessen die Pressevorführung von La bella estate von Laura Luchetti, dem Piazza Grande Film von morgen – da soll es auch regnen!
Ein Sommer in Turin 1938, ein Geschwisterpaar vom Land lebt etwas ärmlich in der grossen Stadt, während der Bruder studieren will, arbeitet seine Schwester als Schneiderin in einem Modeatelier. Alles läuft ruhig und irgendwie spiessig, vorhersehbar, bis eines Tages eine junge Frau die Schwester in die wilden Künstlerkreise der Stadt mitnimmt. Wein, Sex, Drogen, ein völlig anderes Leben als das ruhige bisherige. Aber die wilde Welt verwirrt mehr, als dass sie Freude oder Klarheit bringt. Wozu der Film im Jahr 1938 spielt, ausser um ein ziemlich veraltetes Frauenbild zu zeigen, erschliesst sich nicht, ein Schnipsel Mussolini im Radio ist alles, was es an politischem Zeitbezug gibt. Ansonsten: hübsche Kostüme, schöne Ausstattung, gute, warm eingefärbte Bilder, stimmungsvoll einerseits, aber auch etwas langweilig über die doch langen 111 Minuten.

 

 

Schneiden

 

Pietro Scalia
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Nachdem Pietro Scalia gestern Abend geehrt wurde, führt er am Vormittag ein Publikumsgespräch. Also rasch vor dem ersten Film vorbeischauen. Der Italiener, der in Aarau aufgewachsen ist, verliebt sich früh und nachhaltig ins Kino, der Zufall will es, dass er in New York und dann in Los Angeles Film studieren kann, der Rest der Geschichte ist Hartnäckigkeit und Glück. Viel Glück, möchte man in seinem Fall neidlos sagen.

 

 

 

 

Gerüchte

 

Der Tag beginnt wolkig und verspricht, schlechter zu werden. Nun gut, im Kino ist das egal. Auch in Ekskurzija von Una Gunjak überwiegt ein vorstädtisches Grau. Für Iman und ihre Mitschüler, Jugendliche um die 15, dreht sich eigentlich dauernd alles um Sexualität. Aber alle sind auch zu jung, zu unerfahren und zu linkisch, um darüber zielführend zu reden. Sie verlieren sich in Spielchen wie „Wahrheit oder Pflicht“, und protzen immer wieder mit angeblich bestandenen sexuellen Abenteuern. So kommt auch das Gerücht auf, dass Iman mit einem älteren Jungen geschlafen hat. Heimlich verliebt in ihn, befeuert sie die Gerüchte, legt noch mehr dazu, bis die Konsequenzen nicht nur ihr selbst über den Kopf wachsen. Auch wenn in dem Film viel geredet wird, sind doch die Figuren sehr schön gezeichnet, die jungen Darstellerinnen sehr gut und die Entwicklung der Geschichte plausibel. Erwachsenwerden war noch nie ein Spass, heute scheint es, noch ein bisschen nerviger zu sein.

 

 

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Gefühle

 

Gerade in den Kurzfilmen dominiert Gefühl als zentrales Thema. In diesem Program besonders augenscheinlich, wenn auch nicht besonders gelungen.

In ALEXX196 & la plage de sable rose von Loïc Hobi vermischt sich das tägliche Leben eines Jugendlichen mit seinen Abenteuern und vor allem Freundschaften in einem Computerspiel. Das Spiel scheint die einzige Verbindung zu einer emotionalen Welt zu bieten, umso schlechter das Gefühl des Jugendlichen, als sein einziger Freund die Verbindung kappt. Visuell recht interessant gestaltet.

Der Animationsfilm Pado (The waves) von Yumi Joung zeigt einen schwarz-weiss gezeichnten Strand als Metapher auf den Gang des Lebens. Hübsch und verspielt.

I mitera mou ine agia (My Mother Is a Saint) von Syllas Tzoumerkas. Erinnerungen an die Mutter, anscheinend anlässlich ihrer bevorstehenden Beerdigung, ein bisschen wirr, aber nicht uninterssant.

Der stärkste Film dieses Programms ist En undersøgelse af empati (A Study of Empathy) von Hilke Rönnfeldt. Nicht die Geschichte transportiert die im Titel erwähnte Empathie(fähigkeit), sondern die Bilder, ihre Montage, der Ausdruck der Schauspielerin. Die Kraft der Empathie, oder eben ihr Fehlen, schleichen sich so subtil ins Bewusstsein des Zuschauers, eine eigene Geschichte entsteht jenseits der Filmgeschichte.

Slimane von Carlos Pereira ist definitiv wirr. Dialoge vor statischen, menschenleeren Bildern, lange Einstellungen, die einen eher nicht einnehmen, sondern dazu verführen die eigenen Gedanken ,irgendwohin schweifen zu lassen. Beeindruckend eigentlich nur das letzte Bild, eine Nahaufnahme des Protagonisten in Stroboskoplicht, der erst lange nur steht und schaut, um dann plötzlich loszutanzen.

 

 

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Tempo und Witz

 

Drei Stunden Tempo, Spass,Politisches und politisch Unkorrektes in:

Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much From the End of the World) von Radu Jude.
Dass einem dabei nicht langweilig wird, liegt an Judes Talent für Timing, Tempo und Erzählkraft. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80erJahren wären eine umfassende Analyse wert. Trotz der Länge und der Komplexität der Erzählung sind fast alle Zuschauer bis zum Ende geblieben, der Saal war voll, und es gab reichlich Applaus.

 

 

Traktor der Männlichkeit

 

Ausser Konkurrenz, aber im Wettbewerb für den Grünen Leoparden läuft:
5 Hectares von Émilie Deleuze. Lambert Wilson, dieses Jahr Jury-Präsident in Locarno, spielt darin einen Neurowissenschaftler, der sich ein altes Bauernhaus mit 5 Hektar Land gekauft hat. Natürlich gibt es gleich bei der ersten Begegnung mit dem bäuerlichen Nachbarn Ärger. In Abwandlung eines Weitpinkel-Wettkampfs versucht der Zugezogene sich mittels Traktorkauf Respekt zu verschaffen. Alles recht seicht, nett auch, aber vor allem sehr absehbar. Nur für Freunde der seichten Unterhaltung.

Geregnet hat es dann heute Abend doch nicht mehr.

 

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Zombies und Wildleder

Stadtkino_Zombi Child
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FilmTipp im Dopplepack

Weil es so lange kein Kino gab, diesmal gleich ein Doppeltipp, schliesslich muss man ja irgendwie das Verpasste aufholen. Zwei französische Filme, zwei eigenwillige Geschichten, ernsthafter der eine, schräger der andere.

Voodoo und Rap

Wer bei Zombi Child von Bertrand Bonello an schwankende, grunzende und vor allem blutrünstige Gestalten denkt, wird enttäuscht sein. Allen anderen sei der Film wärmstens empfohlen.
Erzählt werden gleich mehrere Geschichten oder Stränge miteinander verwobener Geschichten, in verschiedenen Zeitebenen. Teils 1962 in Haiti, teils heute in einem Eliteinternat in Frankreich. Orte und Zeiten wechseln, lassen kleine Spannungsbögen kurz hängen, wechseln hin und her, aber auch innerhalb der Zeiten und Orte wird nicht immer linear erzählt. Ereignisse bedingen sich, gehören zusammen, aber was Ursache und was Wirkung ist, bleibt auch immer wieder offen. Einerseits die Geschichte des Grossvaters in Haiti, der zum Zombie gemacht wird, aus Rache, aus Berechnung, um wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen, seiner Erinnerung und seiner Freiheit beraubt, andererseits in Frankreich die Geschichte seiner Enkelin, die das Internat besucht. Zusammen ergibt das eine märchenhafte Mischung aus Brauchtum, Überlieferung, Erwachsenwerden und der Frage nach Zugehörigkeit.

Zombi Child_Plakat
Zombi Child_Plakat
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Mélissa, die Enkelin des Zombies, lebt zwei Traditionen, die ihrer Heimatinsel, Kolonialismus inklusive, und die Frankreichs, wo sie als Tochter einer Ordensträgerin der Ehrenrennlegion Anspruch auf einen Platz im altehrwürdigen Internat hat, Voodoo und Rap geben sich hier die Hand.
Und auch hier sind die Antworten nicht eindeutig, bewegen sich in Raum und Zeit, verschieben sich, je nach Perspektive. Das mag verwirren, aber hauptsächlich ist das spannend-schön und ganz am Ende fast ein wenig kitschig.
Der Film läuft zurzeit im Stadtkino.

 

 

Votivkino
Votivkino
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Durchgedrehte Wildlederjacke
Le Daim Filmplakat
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Wer sich an dem (schwachsinnigen) deutschen Verleihtitel: Monsieur Killerstyle orientiert und nicht weiter nachliest, worum es in Quentin Dupieux Film Le Daim (Wildleder, aber auch Hirsch) geht, mag hier eine böse Überraschung erleben. Auch das Plakat wird dem Film nicht gerecht und scheint eher zu einer albernen, kleinen Komödie zu gehören.

Zum Glück ist das nicht der Fall.

 

Was man bekommt, wenn man den Film trotzdem anschaut, ist eine schräge Geschichte voller Wahn und Witz, mit surrealen Dialogen zwischen der Wildlederjacke und ihrem Träger, mit wüstem Gemetzel und einem Einblick in die Obsession des Filmemachens. Das alles kurzweilig erzählt und brillant beendet. Einzig die etwas matschigen Filmbilder stören etwas, vor allem am Anfang, bevor man atemlos und lachend der Geschichte folgt.
Le Daim läuft zurzeit im Votiv Kino.

 

Abgelenkt und abgekühlt
Sommerliches Kino
Zombi Child- sommerliches Kino
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In allen Kinos wird weiterhin auf Hygiene und Abstand geachtet. Es gibt Warnhinweise und Desinfektionsmittel und die Kinokarten werden nicht abgerissen, sondern nur angeschaut, wirklich voll sind die Säle, vielleicht wegen des sommerlichen Wetters, zurzeit noch nicht. Wer also auf andere Gedanken kommen will und dabei bequem im Kühlen sitzen will, sollte dringend den einen oder anderen Besuch im Kino seines Vertrauens in Erwägung ziehen.

 

 

Abstands Hinweise
Abstandsregeln und Hinweise
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