#Diagonale 2024 Im Rampenlicht

 

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Im Rampenlicht

 

So ganz scheinen die Intendanten noch nicht in ihrer öffentlichen Rolle angekommen zu sein, zumindest bei den Filmpräsentationen im Kino wirken sie immer noch etwas unsicher. Aber wie alle künstlerisch Verantwortlichen aller Filmfestivals sind die vorgestellten Filme immer ihr Herzenswunsch oder etwas ganz besonders Tolles. Die Filme, die ich bisher gesehen habe, waren tatsächlich durchwegs gut bis sehr gut, regelrechte Enttäuschungen waren noch nicht dabei. Gut gewählt.

 

Fragen stellen

 

Besuch im Bubenland von Katrin Schlösser, die gebürtige Leipzigerin erforscht die männliche Seele im Südburgenland. Das klingt zunächst wie ein aussichtsloses Unterfangen, funktioniert aber sehr, sehr gut. Einerseits hat sie wirklich interessante, spezielle Protagonisten, auf die sie sehr offen zugeht, andererseits stellt sie ihre Fragen so geschickt, dass selbst der schweigsamste Typ sich öffnet. Dabei scheint das System ganz leicht: einfache Fragen stellen und dann abwarten, auch schweigend, bis Antworten kommen. Und die kommen, selbst wenn die Männer teilweise sagen, dass sie zu einem Thema nichts sagen werden. Das Warten lohnt sich, die Geduld, und eben die einfachen Fragen. Scheinbar mühelos öffnen sich die Männer, lassen auf ihre Gefühle schauen, und scheinen sich dabei nicht unwohl zu fühlen.
Schlösser dreht mit ihrem Handy und macht den Ton auch selber, kleinstes Team also, mit kleiner Technik. In weiten Phasen des Films funktioniert das gut, schöne Bildkomposition, klarer Ton. Wo die Handykamera an ihre Grenzen stösst, tut sie das allerdings radikal und das macht das Anschauen auf der Leinwand manchmal unangenehm. Schnelle Bewegungen im Bild, zum Beispiel vorbeifliegende Vögel oder herumstiebendes Heu, erzeugen unangenehme digitale Spratzer. Seitlich aus dem Fenster gedreht während Autofahrten macht fast so etwas wie seekrank, und zarte Strukturen im Gegenlicht generieren unschöne visuelle Artefakte. Das alles beiseite genommen, ist der Film rundum gelungen.

 

 

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Haus – Heim – Zuhause

 

Das 4. Kurzdokumentarprogramm erforscht ausgiebig den Begriff Haus/Zuhause.
Essayistisch machen das Simona Palmieri, Esther Kreiner und Elisa Cabbai in ihrem Film Stanze / Zimmer. Unter einer Autobahnbrücke am Rand von Bozen hat ein Mann sich eingerichtet. Kunstvoll bemalte Betonpfeiler, Fundstücke, Müll für andere, hat er zu Kunstwerken zusammengestellt. Aber der Mann ist abwesend. Die Suche nach ihm, nach dem Warum, wird auch zu einer Frage nach dem Selbstverständnis, das wir von einem Heim, einem Zuhause haben. Aber muss es immer 4 Wände haben? Reicht vielleicht auch eine Art von Dach über dem Kopf? Oder reicht es vielleicht sogar, sich einen Ort zu eigen zu machen, in dem man ihn liebevoll behandelt?

Einen ganz ähnlichen Ansatz haben Marvin Kanas, Julia Obleitner und Helvijs Savickis in The Desert House. Sie folgen im südlichen Texas den mobilen Fertighäusern, auf riesigen Tieflader gepackt, sind sie „versandfertig“, bereit dort abgestellt zu werden, wo jemand entscheidet wohnen zu wollen. Ebenso schnell fertiggestellt, wie wieder verlassen. Aber sind sie ein Zuhause, oder „nur“ ein Haus? Mit dem europäischen Konzept der Immobilie kommt man da schnell an gedankliche Grenzen. Aber auch in Texas können diese mobilen Heime nicht mehr überall stehen, und so haltbar wie Lehmhäuser sind sie in der rauen Wüste auch nicht, aber auch dort fehlen Fachkräfte. Das Geschäft mit den Fertighäusern boomt.

Was Jan Soldats After Work in dieser Reihe macht, erschliesst sich nicht ganz. Zwei ältere Männer treffen sich – nach der Arbeit – in der Wohnung des einen zum Sex. Ausziehen, kurz absprechen, was gewünscht wird, loslegen. Ob der Sex zwischen den beiden nicht so recht klappen will, weil sie dabei gefilmt werden, man weiss es nicht. Egal. Anziehen, verabschieden, fertig. Schneller Sex in einem Zuhause, vielleicht ist das der gedankliche Zusammenhang gewesen.

 

Böse

 

Veni Vidi Vici von Daniel Hoesl und Julia Niema ist eine zynisch-bitterböse Geschichte in schönen Hochglanzbildern. Ein schnöseliger Multimillionär, der zur Entspannung auf Menschenjagd geht. Einfach so, weil er es kann. Weil ihn niemand daran hindert, obwohl es völlig offensichtlich ist, dass er für die Morde verantwortlich ist. Die Verstrickungen aus (viel) Geld, Macht, Politik, Medien und Justiz ermöglichen es ihm und seiner Familie, mit allem durchzukommen, nicht nur mit willkürlichen Morden. Dabei sind alle stets freundlich, lächelnd, wirken engagiert, ihr Blick auf den Rest der Gesellschaft ist allerdings von zynischer Ekelhaftigkeit geprägt. Sie verachten die Anderen dafür, dass sie alles zulassen, nicht aufschreien, sich nicht wehren, das Offensichtliche nicht stoppen. Und die nächste Generation hat gelernt und steht schon bereit. Ein politisches Lehrstück in Form einer bitterbösen Geschichte.

 

 

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Körper

 

Corpus Homini von Anatol Bogendorfer zeigt die Arbeit am menschlichen Körper, eigentlich die Arbeit für den Menschen. Parallel zeigt er den Alltag eines Bestatter-Paares, einer Sexarbeiterin mit Zusatzausbildung für Sexarbeit mit körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen, einer Hebamme und einer Hausärztin. Der Film nähert sich den einzelnen Frauen und ihrer Arbeit sehr behutsam, und führt so die Zuschauer stückweise näher und tiefer in die Materie ein. Durch das langsame Herantasten entsteht ein grosses Verständnis für den Kern der Arbeit am und für den Menschen, man versteht, wie viel Kommunikation in allen vier Berufen nötig ist. Die Dramaturgie, die die Intensität der Arbeit immer weiter offenlegt, erzeugt dabei zusätzlich Spannung, und ist trotzdem nie voyeuristisch oder würdelos. Obendrein kommt der Film nicht nur ohne Kommentar, sondern auch ohne redende Köpfe aus! Ein toller Film, der sehr gut ankam und in einer angeregten Publikumsdiskussion endete.

Morgen Abend werden, bis auf den Publikumspreis, alle Preise vergeben, eine Spekulation, was den Jurys gefallen haben könnte, ist eher nicht möglich.

 

#Diagonale: Geschichte(n)

 

Gut, dass es Kino gibt

 

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Von Tigerinnen

 

Seiteneingang gefunden
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Die Diagonale nähert sich dem Ende, gleichzeitig wird das Wochenende wohl nochmal ein Zuschauerplus bringen.

Bereist am Morgen ist es beim Dokumetarfilm I am the Tirgress von Philipp Fussenegger, Dino Osmanovic ziemlich voll. Die titelgebende Tigerin ist kein Raubtier, sondern eine amerikanische Bodybuilderin Ende 40. Kein glamouröses Leben, sondern täglicher Kampf: Muskelaufbau, der schmerzt, blöde Kommentare zu ihrem Körper auf der Strasse, Rassismus, Shows, bei denen von Anfang an klar ist, wer gewinnen wird, dennoch, aufstehen und weitermachen scheint ihr Lebensmotto zu sein. Und dabei reisst sie die Zuschauer mit, schon von der Leinwand herunter verbreitet sie gute Laune, als sie und das Team am Ende vor der Leinwand stehen, gibt es tatsächlich Johlen und Jubeln. Eine starke Frau, die sich nicht scheut auch Verwundbarkeit zu zeigen, deren Muskeln kein Panzer sind, sondern ihr Mittel zu Selbstakzeptanz.

 

Beifall für: I am the Tigress
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Wann ist wo Heimat?

 

Weiyena – Ein Heimatfilm von Weina Zhao, Judith Benedikt. Weina Zhao, gebürtige Chinesin, aufgewachsen in Wien, sucht nach den Wurzeln ihrer Familie, und erzählt dabei die Geschichte Chinas seit dem frühen 20. Jahrhundert. Eine harte Geschichte, die auch in ihrer Familie Spuren hinterlassen hat, und die die Beziehung zu Heimat noch weiter hinterfragt. Ein Film, der über mehrere Jahre hinweg entstanden ist, sehr persönlich und trotzdem sehenswert für Aussenstehende.

 

Geschichte – Oscarnominiert

 

Neuere Geschichte, direkt vor unserer Haustür, als Spielfilm verdichtet, personalisiert, so kann man Quo vadis Aida? von Jasmila Žbanić kurz zusammenfassen.
Die Bilder sind seit 25 Jahren immer wieder Teil der Fernsehnachrichten: Menschen, die vor der UN-Schutzzone warten, in der Sonne, hilflose UN-Blauhelmsoldaten, das Aufteilen in Männer und Frauen, Busse, die die Gruppen abtransportieren.
Kann man aus dem Massaker von Srebrenica einen Spielfilm machen?

Die UN-Dolmetscherin Aida, die in dem Chaos in der UN-Schutzzone neben ihrer Arbeit auch noch versucht, ihren Mann und ihr beiden Söhne zu retten, macht aus Geschichte eine Geschichte. Das ist gut und das ist wichtig. Was neben dem tollen, ausdrucksstarken Spiel von Jasna Đuričić besonders überzeugt, ist die Bildgestaltung. Kamerafrau Christine A. Maier orientiert sich an der Farb- und Lichtstimmung der 90er Jahre Bilder, erschafft dabei Neues und baut das Bekannte nach. Das Ergebnis ist gleichermassen beeindruckend wie auch erschütternd. Die Kriege, besonders die in unserer Nachbarschaft, dürfen nicht vergessen werden, wenn Spielfilme dazu beitragen können, dann ist das gut.
In Österreich kommt der Film Ende Juni in die Kinos.

 

Keine Lobby

 

Eine ganze Kategorie Filme hat es besonders schwer ausserhalb von Festivals gesehen zu werden, die sogenannten Innovativen- oder Experimentalfilme.

 Fragebogen von Antoinette Zwirchmayr, legt im OFF gestellte Fragen aus einem Buch von Max Frisch über statische, stumme, schwarz-weiss Bilder ihres Grossvaters. Antworten gibt es keine. Eine eigenartige Komposition.

film von Marlies Stöger, André Tschinder ist Teil einer Idee, die schon einige Ausführungen hatte: das Erstellen der neuen Kunstform Zu-Realismus. Mit sparsamen, aber intelligenten Mitteln wird das zu-realistische Manifest erklärt.

We’ll always have Paris von Ella Raidel ist ein Spiel mit Erwartungen. Was sehen wir, wenn wir etwas sehen? Und können wir uns immer auf unsere Sinne verlassen? Besonders im Kino sollte man das infrage stellen.

Traces von Stephanie Rizaj, Marvin Kanas verwirrt mit wechselnden Motiven. Einerseits karge Landschaften, dann wieder städtische Oberflächen, Häuser, Risse, Wege, dazu Kinderstimmen, die von Träumen erzählen. Der Reiz dabei: Welchen Reim man sich darauf macht, muss man selber finden.

Ruins in reverse von Olena Newkryta ist ein langes Philosophieren über die politische, ideologische Implikation von Bauruinen. Auch das ist zunächst sehr fremd, aber auch wieder spannend.
Filme zum Nachdenken, zum Weiterdenken, die man vielleicht doch auch bei Gelegenheit einem breiteren Publikum zutrauen kann.

 

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