Viennale 2019

 

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Das Programm

Am 24. Oktober ist wieder soweit, zum 57. Mal findet in Wien die Viennale statt, das heisst: 14 Tage Filme zu fast allen Uhrzeiten.

Das Publikumsfestival bietet eine Art „Best of Festivals“, zusammengetragen und ausgesucht von Viennale Direktorin Eva Sangiorgi.

Die zuständigen Stellen der Kulturabteilung der Stadt Wien hat Sangiorgi bereits nachhaltig überzeugt, wurde ihr Vertrag doch jetzt schon, also nach „nur“ einem Jahr als Direktorin, vorzeitig verlängert.

Was auffällt, ist eine grosse Anzahl Filme aus Ländern der romanischen Sprachfamilie, aber auch Osteuropa und Asien sind in diesem Jahr stark vertreten.
Die Langfilme sind, erfreulicherweise, nicht nach Kategorien getrennt, und so finden sich Dokumentarfilme einträchtig neben Spiel- und Experimentalfilmen wieder.
Das tut der Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksform gut und bringt sicher auch den einen oder anderen „unaufmerksam“ kataloglesenden Zuschauer zu unerwarteten Kinoerlebnissen.

Neben dem Hauptprogramm gibt es auch dieses Jahr wieder eine Retrospektive in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Filmmuseum:
O Partigiano! Pan-European Partisan Film.
Sowie das Programm: Der Weibliche Blick, die Wiederentdeckung der Filme von Louise Kolm-Fleck in Zusammenarbeit mit dem Filmarchiv Austria.

Zusätzlich zu den vielen zu entdeckenden Filmen gibt es wie immer auch ein buntes Rahmenprogramm aus Musik, Begegnungen, Gesprächen und Cocktails.
Und, kein Festival ohne Preise, ausser dem Viennale Publikumspreis gibt es noch den Wiener Filmpreis, den MehrWert Filmpreis und den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik.

 

Auf jeden Fall zu empfehlen sind die Filme:

Space Dogs

Oroslan

Yokogao

Das gesamte Programm gibt es hier.

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Locarno #72 Warteschlangen

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Tag 7 fängt sehr gut an, der Himmel ist sommerlich blau, die Luft am Morgen noch mild, und der Philippinische Dokumentarfilm Overseas von YOON Sung-a sehr super. In ruhigen, manchmal langen Einstellungen folgt sie dem Alltag junger Philippinas in einem Trainingszentrum für zukünftige Hausmädchen, euphemistisch Helferinnen genannt. In diesem Training wird den Frauen nicht nur beigebracht perfekt Betten zu beziehen oder den Tisch zu decken, sondern sie spielen auch diverse Situationen durch, die sie im Job erwarten können. Erfahrungen von Demütigung und Missbrauch werden ausgetauscht, gleichzeitig wird vermittelt, dass sie sich wehren können und müssen, welches ihre möglichen Anlaufstellen sind und welches ihre (Menschen) Rechte sind. Erschütternd ist, dass diese jungen Frauen, oft Mütter kleiner Kinder, von allen Seiten ausgenutzt werden, der philippinische Staat sieht sie als wichtigen Wirtschaftsfaktor und lässt sie medial als Volksheldinnen feiern, in ihren eigenen Familien gelten sie schnell als faul, wenn sie nicht bereit zu solchen Auslandsjobs sind und werden zusätzlich auch immer wieder um ihr hart verdientes und nach Hause geschicktes Geld betrogen. Trotzdem bleiben sie dabei, nehmen mehrjährige Trennungen von ihren Kindern in Kauf und träumen von einer rosigen Zukunft für die Zeit „danach“, wenn sie genug Geld auf die Seite gelegt haben, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.

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Das Programm der Pardi di domani ist eher durchwachsen, stark ist allerdings gleich der erste Film: Tskhoveli (The animal) von Amiran Dolize. Besonders herausragend ist die Kamera, die in dramatischen, bläulichen Bildern die Tristesse in einem georgischen Dorf abbildet. Es scheint nichts zu tun zu geben und so verbringen vier Männer ihre Tage in schweigendem Stumpfsinn, mal trinkend, rauchend, selbstgemachte Drogen konsumierend, kein Ziel, keine Zukunft und selbstverständlich auch kein Geld.

Notre Territoire von Mathieu Volpe ist ein experimentelles Filmessay, eine Art Tagebuch in 8 mm Schwarz-Weiss Bildern. Einen Sommer lang begleitet er in Süditalien afrikanische Erntearbeiter, lässt sich durch das desolate Barackenlager treiben, zeigt ihre Gesichter, Hände, das Elend. Als OFF Stimme seine Gedanken zum Ort, aber auch zum Süditalien seiner Kindheit, das ganz noch anders aussah. Relativ unverständlich der thailändische Film Râang ton taan (enduring body) von Ukrit Sa-nguanhai. Einzelne Episoden, die sich alle um Krebserkrankung und Tod drehen, zusammengehalten mit etwas, das wie eine Science Fiction Vision einer neuen Welt aussieht, aber Sinn und Zusammenhang entziehen sich irgendwie dem Betrachter. Sas von Léa Célestine Bernasconi erzählt auch eher experimentell von Essstörung bei Jugendlichen. Sie wechselt die Formensprache ihres Films von klassischen Interviews zu rasanten Bildkollagen zu Sequenzen, in denen eine junge Frau wie von einer Kamera gehetzt durch eine Stadt rennt und Internetbildern, die Schönheitsideale vorgaukeln und wieder zurück zu Interviews. Die Idee insgesamt erschliesst sich, aber die Feinheiten gehen unterwegs verloren, und man bleibt etwas ratlos zurück.

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Die wichtigsten Accessoires bei diesem Festival: Wasserflasche, Regencape, bequeme Schuhe und viel Geduld. Gefühlt verbring man mehr Zeit mit Schlangestehen und Warten, als mit Film schauen. Die Wartezeit vor dem Film Oroslan von Matjaž Ivanišin ist besonders lang, statt um 18:30 anzufangen fängt aus unklaren Gründen erst um 18:45 der Einlass an, Unmut und Murren machen sich breit. Oroslan ist ein merkwürdiger Film, am Anfang viele originelle Detailbilder, ein Dorf, Beine, die rennen, Türen, dann wieder Totalen des Orts, Schweigen, Arbeiten im Schlachthof, und plötzlich wandelt sich die Form, war der Film gerade noch nahezu stumm, wird er geschwätzig. Zwei Männer am Tisch, im Auto, reden und reden, Belangloses. Erst wenn der Film vorbei ist erschliesst sich, dass die Erzählform dreifach verschachtelte ist, ein Film im Film der beim Entstehen gezeigt wird – und das auch nicht chronologisch – und auf einer Metaebene auch von Einsamkeit und Sterben erzählt.

Auf der Piazza Grande gibt es am Abend eine weitere Ehrung, kein Leopard diesmal, sondern der Tessiner Filmpreis für den Tessiner Regisseur Fluvio Bernasconi.
Die künstlerische Leiterin Lili Hinstin verbreitet weiterhin fröhlichen Charme, stolpert manchmal durch ihre auf Englisch oder Italienisch geführten Interviews und Ansagen, macht das aber entspannt damit wett, über sich selber lachen zu können. Gleichzeitig schafft sie auf der Bühne immer einen lockeren Plauderton zu treffen, Fragen zu stellen, die vielleicht nicht cineastisch relevant sind, aber dafür ist im Anschluss an die Filme bei den moderierten Publikumsgesprächen genug Platz.

Der bislang lustigste Abendfilm: Days of the Bagnold Summer von Simon Bird. Ein nahezu dauerhaft übelgelaunter Teenager muss notgedrungen den Sommer mit seiner etwas trutschigen Mutter verbringen. Mit subtilem Witz fechten die beiden jeden sich nur bietenden Streit aus. Während die Mutter versucht zu verstehen was in ihrem Sohn vorgehen könnte, ist er damit beschäftigt sich mittel Kopfhörern hinter Heavy Metal Musik zu verschanzen. Im Hintergrund schwingt aber durchgängig eine liebevolle Basis mit und beide Figuren sind jederzeit offen im Umgang, auch wenn dies manchmal noch mehr Krach und Streit zur Folge hat, es bietet eben auch Spielraum für Verständnis und Versöhnung.
Auf britischen Humor ist Verlass.

 

Enge Räume

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Tag 8, das Festival nähert sich seinem Ende.

O Fim do Mundo von Basil Da Cunha spielt in der Enge eines Stadtrandviertels von Lissabon, wo es ausser Armut und Kriminalität nicht viel gibt. Ein Junge, vielleicht gerade 19, kommt nach 8 Jahren aus dem Erziehungsheim zurück in sein Viertel und befindet sich gleich wieder mitten drin in kriminellen Machenschaften, aber etwas ist leicht verschoben, er wirkt eher wie ein Rächer, der mit seinen Taten Übles zurechtrücken will. Mit vielen Laien aus dem Viertel und gedreht mit einer sehr bewegten, lauernden Kamera und nur geringer Tiefenschärfe entsteht eine besondere Dichte und Nähe zu den Figuren. Gesichter wie Landkarten vor einem ins Abstrakte verschwommenem Hintergrund, der die Welt, die sowieso nicht zu erreichen ist in Bedeutungslosigkeit verwandelt. Intensiv, laut und gut.

Die Figuren in Pa-go (Height of the wave) von PARK Jung-bum bewegen sich in der Enge einer Insel und verstrickt in ihre diversen Ängste und Geheimnisse. Eine neue Polizeichefin mit Tochter kommt auf die Insel, begegnet dort einer jungen Frau, von der nicht klar ist, ob sie missbraucht wird oder sich prostituiert, einem Dorfchef, der seine Insel für den Tourismus attraktiver gestalten will und daher keinen Ärger will und einem ganzen Dorf das schweigt. Das sind die Komponenten, aus der die nicht ganz durchsichtige Geschichte gewebt ist. Während die junge Frau, seitdem sie als Kind ihre ganze Familie bei einem Unfall auf dem Meer verloren hat, Angst vor Wasser hat, und so auf der Insel gefangen ist, leidet die Polizeichefin an einer jobbedingten posttraumatischen Belastungsstörung, ihre Tochter wiederum fühlt sich von den Scheidungsplänen der Eltern überfordert, somit stossen permanent persönliche Ängste gegeneinander und es entsteht eine Spirale, in der anscheinend jeder, jedem etwas Anhängen will und keiner Verständnis für den Nächsten aufzubringen vermag.

Chaos in einem Londoner Wohnblock gibt es in Cat in the wall von Mina Mileva und Vesla Kazakova. Mit Sohn und Bruder lebt eine junge Bulgarin in London und obwohl beide Geschwister einen Uniabschluss haben, gibt es für sie in London nur Hilfsjobs. Als sie einen Benachrichtigung bekommen, dass sie für notwendige Sanierungen im Haus eine grosse Summe zu zahlen haben werden, fangen sie an Kontakt aufzunehmen zu anderen Wohnungseigentümern, aber auch zu den von Sozialhilfe lebenden Mietern im Wohnblock. Und dann läuft ihnen auch noch eine Katze zu, die alles verkompliziert. Wechselnde Allianzen entstehen, viel lautes Geschrei, und eine ordentliche Portion Rassismus in alle Richtungen, trotzdem herrscht ein komödiantischer Unterton im Film und das Geschrei hat oft etwas Slapstickhaftes. Ein Film zum Lachen und Nachdenken.

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Ein Abend ohne Piazza Grande, aber ein Film über Diego Maradona klingt einfach nicht attraktiv.