Nabelschauen und schwarze Leinwände
Sich selbst zum Thema machen, die eigenen Befindlichkeiten offen legen, eigene Fragen öffentlich machen, nach Lösungen suchen vom Privaten ins Öffentliche, das kann reizvolle Dokumentarfilme ergeben, oder fatal daneben gehen. So weit ging das bei den bisherigen Filmen eher recht gut.
Um sich selbst kreisend
My Quarantine Bear von Weijia Ma
Ein gefilmtes Quarantänetagebuch der chinesischen Animantionsfilmerin. Die ersten Pandemiemassnahmen überraschen die Regisseurin in Frankreich, der Weg zurück nach China erinnert an einen Science-Fiction-Film. Am Anfang etwas zäh, nimmt der Film dann aber Fahrt auf, wird komödiantisch und phantasievoll. Und so reihen sich schräge Selbstaufnahmen an eigentümliche Blickwinkel und werden mit Stopptrickanimationen kombiniert. Zwei Wochen im Hotelzimmer in Shanghai: Warten, essen, weiter warten, aber eben auch kreativ sein, das 35 minütige Ergebnis kann sich sehen lassen.
Stefan Pavlović geht in Looking for Horses noch mehr in die Tiefen der eigenen Person.
Als Kind bosnischer Eltern, aufgewachsen in Holland und Montreal, findet sich der Regisseur in der Heimat seiner Familie seltsam sprachlos. Der Film ist das sehr intime Portrait einer ungewöhnlichen Annäherung. Er trifft auf einen alten Mann, der auf einem See in Bosnien fischt, auf einem Inselchen lebt und eigentlich keine sozialen Kontakte haben will. Die Kamera, als wesentlicher Akteur des Films, die über Sprachlosigkeit und Sprachdefizite hinweghilft. In weiten Teilen ein sehr schön und stimmungsvoll gedrehter Film, der eventuelle ein wenig gerafft hätte werden können.
Menschenskind! von Marina Belobrovaja stellt Fragen nach Familie und Verantwortung.
Kinderwunsch und Wunschkind, aber hat man als Mutter das Recht, sich ein Kind zu wünschen, auch ohne Partner? Und was für Rechte hat dann das Kind? Allen diesen Fragen geht die Regisseurin nach, denn ihre Tochter ist ein Wunschkind von einem Vater, den sie, und der sich, nur als Spender sieht. Verschiedene Familienkonzepte und wechselnde Sichten auf ein komplexes Thema und, natürlich möchte man sagen, keine klare Antwort, aber viele Denkansätze.
Heilen und zerstören
Marie-Eve Hildbrand reiht in Les Guérisseurs Heilende aneinander.
Einen Arzt unmittelbar vor der Pensionierung, Medizinstudenten, Alternativmediziner und sogar Pflegeroboter kommen vor. Aber ein echtes Konzept sucht man in diesem Film vergeblich. Der alte Arzt ist souverän und liebevoll, egal ob er gerade einen Säugling impft oder einer 93-jährigen Frau den Blutdruck misst, einige der Studenten werden von Zweifeln geplagt, die aber nur teilweise mit ihrem künftigen Beruf zu tun haben. Und so reihen sich Szenen, Situationen im Berufsleben aneinander, ohne dass sie in irgendeiner Form in Beziehung zueinander treten. So bleibt der Film etwas blutleer und der Zuschauer etwas ratlos.
Klarer sind die Kontraste und die Positionen in Bellum – The Daemon of War
von David Herdies & Georg Götmark.
Krieg und was aus ihm werden kann. Der Film kontrastiert amerikanische Veteranen und eine „Kriegsphotographin“ mit schwedischen Entwicklern der neuesten Generation von Waffen. Während sich die einen, trotz verschwommenem Heroismus, eingestehen, dass die Kriege, in denen sie waren, sie zerstört haben, spielen die anderen sich als wissenschaftliche Götter auf. Dickliche Mittvierziger, die nichts dabei finden, mithilfe künstlicher Intelligenz immer ausgefeiltere Waffen zu entwickeln, immer nach dem Motto: was machbar ist, muss auch gemacht werden. Dazwischen, die Praktiker real ausgeführter Kriege. Man muss schon abgebrüht sein, um sich dem Zynismus zu entziehen.
Was Krieg und Waffen anrichten, kann man seit Jahre in Syrien sehen.
Einen Blick auf eine oft vergessene Gruppe des Konflikts zeigt Little Palestine (Diary of a Siege) von Abdallah Al-Khatib.
Das Viertel Yarmouk in Damaskus ist seit 1948 Zufluchtsort für palästinensische Flüchtlinge, während des Bürgerkriegs in Syrien haben Assads Truppen das Viertel zwei Jahre lang abgeriegelt, belagert, die Bevölkerung ausgehungert und bombardiert. In diesen Jahren filmt Abdallah Al-Khatib den Alltag, ungeschönt und manchmal schmerzhaft rau. Während am Anfang noch eine fast trotzige und aufgewühlte Stimmung herrscht, weicht im Verlauf der Zeit und des Films jegliche Hoffnung, ein schneller Tod durch Waffen wird dem langsamen durchs Verhungern vorgezogen. Eine weiterer deprimierender Aspekt des entsetzlichen Konflikts in Syrien.
Wann ist ein Film ein Film
Reicht es, eine schwarze Leinwand zu zeigen und einen Off-Text daraufzulegen?
Und wenn ja, wie viel schwarze Leinwand mit Off Text ist noch tolerierbar und ab wann wäre die Geschichte im Radio besser aufgehoben?
Und sollte ein Film nicht durch seine Bilder und deren rhythmische Abfolge seine Geschichte erzählen, statt durch Katalogerklärungen, Texteinblendungen oder epische Off Texte?
Nicolás Zukerfeld macht es einem mit There Are Not Thirty-six Ways of Showing a Man Getting on a Horse schwer diese Frage schlüssig zu beantworten.
Die erste Hälfte des knapp einstündigen Films ist pures Filmvergnügen. Eine rasante, intelligente Montage von Szenen aus Raoul Walsh Filmen – dem das titelgebende Zitat zugeschrieben wird – wirft einen witzigen und erhellenden Blick auf die Filmkunst. Dass der Regisseur und Filmprofessor diese Montage eigentlich nur auf sich genommen hat, weil er herausfinden wollte, ob das Zitat erstens echt ist, und zweitens nicht ohnehin heissen müsste „… keine fünf Arten, ein Zimmer zu betreten“, erfährt man dann in der zweiten Hälfte des Films. Allerdings nicht in Bildern, sondern in einem, wenn auch witzig erzähltem, Monolog über die Recherche des Regisseurs: als Off Text auf Schwarz.
Agustina Wetzels Film, Outside the Coverage Area, will politisch sein, will womöglich auch originell sein, bleibt aber weitgehend unverständlich.
In Splitscreen parallel laufende Bilder, einerseits gehende Beine, andererseits Googlemap Bilder, sollen die Abgrenzung von virtueller und realer Welt darstellen. Sofern man das aber nicht in der Katalogbeschreibung liest, erschliesst sich das Konzept nicht. Auch hier bleibt sehr viel Leinwand – oberhalb und unterhalb der (Lauf)Bilder– schwarz, dazu Off Texte – oder sind es nur zufällige Atmos? – die Untertitel so winzig, dass man kaum erfassen kann, ob der Inhalt überhaupt eine Bedeutung hat.
Träumen
Sortes von Mónica Martins Nunes
Wilde schöne Landschaften im Süden Portugals, eine Gegend, in der immer weniger Menschen leben und leben können, und doch so schön, dass man gleich seine Koffer packen möchte, um hinzufahren. Die schönen, ruhigen Bilder, nur untermalt von Geräuschen oder Gedichtzeilen, laden zum Tagträumen ein.
Statt Licht und Weite, Dunkelheit und die Enge des 4:3 Bildformates in:
Groupe merle noir von Anton Bialas.
Mit einem perfekten Gefühl für Schnittrhythmus und Bildgestaltung, zeigt der Film eine Gruppe Menschen in einem leeren, anscheinend stromlosen, Haus. Ein reduzierter Alltag, der etwas schwermütiges hat, begleitet von Stille und stiller Wut. Selbst am offenen Feuer scheinen die Bilder kalt, bläulich zu sein und die Stimmung im Haus zu reflektieren. Keine Erklärung, aber genug Raum, um als Zuschauer die Leerstellen mit eigenen Ideen zu füllen, wäre der Film eine Geschichte dann von Gogol oder Dostojewski. Update: auf der Webseite der Filmproduktion, wird der Film als „Fiktion“ ausgewiesen, Schauspielernamen inklusive! Wie er es trotzdem in ein Dokumentarfestival geschafft hat, bleibt rätselhaft.
Verwandlungen
In Radiograph of a Family von Firouzeh Khorovani wird Geschichte erfahrbar.
Der sehr starker Film, in dem anhand der Familiengeschichte der Regisseurin die Geschichte Irans von Mitte der 60er Jahre bis heute erzählt wird, begeistert auch durch seine Form. Die Collage aus Familienphotos, altem Filmmaterial und immer wieder dem Wohnzimmer im Elternhaus, das durch unterschiedliche Möblierung den Wechsel unterstreicht, ergibt eine einzigartige Stimmung. Die beiden gegensätzlichen Pole des Irans, hier weltoffen und laizistisch, dort verschlossen und religiös, spiegeln sich im weltlich orientierten Vater und der immer mehr in die Religiosität eintauchenden Mutter wider. Es entsteht ein Riss, der durch die Familie und durch das Land geht. Eine Geschichtsstunde, die mitreisst.
Völlige Ruhe herrscht in Spare Parts von Helga Rakel Rafnsdóttir.
Isländische Sommerlandschaft, tiefer, weiter Himmel, malerische Wölkchen, ein paar Schafe, wortkarge Menschen und ein Gespür für Schrott. Ein Autofriedhof voller Schätze, aus manchem Teil wird durch wissendes Basteln ein neuer Badeofen für einen ausrangierten Pool, eine andere Maschine spröttert beeindruckend vor sich hin. Sonst ist nichts passiert in diesem sommerlichen Fleckchen isländischer Natur, aber das ist sehr schön gefilmt und gestaltet.
Kino verführt zum Träumen, auch vom Sofa aus. Vielleicht also doch mal eine Reise nach Island ins Auge fassen.