#Diagonale: Gutgelaunt in Graz

 

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Entschleunigung

 

8:31 am ersten regulären Festivaltag, seit einer Minute ist es möglich, sich für den kommenden Tag Karten zu reservieren, und für die Abendvorstellung gibt es schon keine Plätze mehr. Gut für die Bilanz des Kinos, schlecht für mich.

3 Gs
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10:20 vor dem ersten Kino, nicht viel los, dafür werden Impfnachweise oder Tests kontrolliert, der Eingang in den Saal wurde um die Ecke verlegt, damit die Kontrollen – hier Gesundheit, dort Ticket – getrennt ablaufen können.

 

Kabelsalat

Nur insgesamt 20 Zuschauer finden sich im Kino ein, um Bitte warten von Pavel Cuzuio zu sehen. Das ist wirklich sehr schade, der Film verdient auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit. Der Dokumentarfilm begleitet vier Teams von Telekommunikationstechnikern am äusseren östlichen Rand Europas bei ihrer Arbeit. Ganz am Anfang werden einmal die Orte: Bulgarien, Moldavien, Rumänien und die Ukraine, eingeblendet, danach folgt Pavel Cuzuio den Teams und dem Rhythmus ihrer Arbeit. Sie entwirren Kabelsalat, richten Internetverbindungen auf altmodischen Rechnern neu ein, reparieren vorsintflutlich erscheinende Telephone. Alles im Dienst der Kommunikation, wobei die hauptsächliche Kommunikationsebene, der direkte Austausch, von Mensch zu Mensch stattfindet. Der Film vermischt unbekümmert Orte, Schauplätze und Kunden, ist dabei aber immer dem Schnitt und seinem Fluss verpflichtet. Daraus entsteht ein witziger, pfiffiger Dokumentarfilm, den es wirklich zu sehen lohnt.

Innovativ – Experimentell

 

Nach kurzer Pause geht es zum Programm innovatives Kino, der Saal ist schon deutlich voller als am Morgen. Die ersten drei Filme des Programms zeigen Varianten von Stoppmotion und Motioncontrol, jeder auf seine Art spannend.

Es ist genau genug Zeit ist ein Filmgewordenes Daumenkino, das Vermächtnis des 12-jährigen Oskar Salomonowitz, fertiggestellt von dessen Vater Virgil Widrich. In nur zwei Minuten entfaltet sich ein Strichmännchen-Actionfilm mit viel Witz und Herz.
O von Paul Wenninger ist ein ausgeklügeltes Werk aus vielen Bildebenen, in denen ein Raum um einen Protagonisten kreist, immer schneller, immer abgefahrener. Eine, auch technisch, spannende Arbeit.
Auch Warten von Bernd Oppl arbeitet mit Stoppmotion und ganz unmerklichen Veränderungen im Bildausschnitt, es entsteht eine Geschichte des Wartens, der Zeit, des Verfalls. Imperial Irrigation von Lukas Marxt ist eine Art experimenteller Dokumentarfilm. Marxt mischt verfremdete Photos mit zerhackt wirkenden Bewegtbildern, fügt unheimlich anmutende Geräusche hinzu und rundet alles mit einer monotonen Erzählstimme ab. Mit diesen verfremdenden Mitteln entsteht das Bild einer zerstörten, vernarbten Landschaft in Kalifornien, das ist informativ und auch irgendwie sehr unheimlich.

Die Pandemie betrachten

Während maskierte Gesichter mittlerweile zum Alltag geworden sind, man wie selbstverständlich vor jedem Kaffee einen Beleg der eigenen Gesundheit vorweist und sich namentlich registriert, sind Filme über die Pandemie immer noch eher selten. Kristina Schranz’ Abschlussfilm Vakuum zeigt den Verlauf der Pandemie im Burgenland, vom ersten Lockdown über das erste Öffnen und in den zweiten Lockdown. In statischen Totalen zeigt sie den Stillstand, die Leere, Menschen, die am Anfang des ersten Lockdowns aufräumen, organisieren, aber im Lauf der Zeit auch deutlich mutloser werden. Die Bilder, die Ausschnitte sind klug gewählt und spannend, schade nur, dass bei den Interviews dann auch kein Material vorhanden ist, um zu schneiden, so springen eben die Köpfe hin und her, was, egal wie man das künstlerisch findet, immer vom Inhalt des Interviews ablenkt. Trotzdem: ein spannender erster Langfilm.

Lieblingsplätze adé

 

 

Freie Sitze
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Durch das entzerrten Programm kann man tatsächlich nur 4 Projektionen pro Tag sehen, da bleibt Zeit zwischendurch in die Sonne zu blinzeln, die Maske abzunehmen, sogar etwas in Ruhe zu essen, statt zu schlingen. Auch das sonst eher übliche Rennen von einem Kino zum nächsten entfällt. Das Anstehen an der Kasse, um reservierte Tickets abzuholen, entfällt, statt dessen müssen die Plätze eine Stunde vorher nochmals online bestätigt werden. Allerdings fällt auch weg sich auf den persönlichen Lieblingsplatz zu setzten, zum Beispiel irgendwo im vorderen Drittel am Rand, das Onlinesystem weist Plätze zu, gnadenlos.
Diagonale entschleunigt. Also, ausser wenn es um das Reservieren von Tickets geht.

Motorengeheul

 

Für Motorcity von Arthur Summereder hätte es angeblich auch keine Karten zu reservieren gegeben, aber das Kino ist weit davon entfernt, voll zu sein, und das nicht nur, weil jeder zweite Platz frei bleiben muss. Summereder erzählt Detroit, die Stadt der Autos, der Motoren, aber nicht anhand der Automobilindustrie, sondern in dem er Fahrern und Fahrerinnen von Dragraces, also Beschleunigungsrennen, folgt. Obwohl der Film schräge und interessante Protagonisten, röhrende Motoren und abgeriebenes Reifengummi zeigt, fehlt ihm über die Dauer eine sinnvolle Struktur. Da hilft auch der etwas elegische, wenn auch sehr persönliche, Off-Text, oder die diversen Archivfilme der Autoindustrie nicht, die Dramaturgie hakt.

 

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Ein erster Festivaltag endet, er endet früh, draussen ist es noch nicht mal richtig dunkel, aber Kino gibt es für den Tag nicht mehr. Die Laune in Graz ist dennoch gut, es ist eben alles etwas gemütlicher als sonst.

Tunnelblicke

Warten
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Vom Warten

 

Wenn man statt auf den neuesten Kinostart auf die neueste Pressekonferenz der (österreichischen) Regierung wartet, dann weiss man, dass man weiterhin mitten im kulturellen Ödland der Pandemie feststeckt.
Und während die Kunststätten, Museen ausgenommen, weiterhin warten und geschlossen sind, bedient sich die Politik zunehmend obskurer Metaphern um – ja um was zu erreichen? – Beschwichtigung? Erklärung? Ablenkung?

Jetzt liegt also unser aller Zukunft und Normalität in weiter Ferne, aber weiterhin in der Vergangenheit. Der Tunnel, in dem wir reisen ist weiterhin dunkel und das Licht am nicht vorhandenen Ende ist eine Illusion oder eine Phototapete. Der Marathon hat eine vorher nicht genau definierte Länge und wird täglich länger, obwohl wir uns immer wieder den letzten Metern nähern. Und dann werden auch noch Ketchupflaschen herbeizitiert, um das zähe Voranschreiten von Verbesserung zu bebildern.
Wenn das keine Kunst ist!

 

Fast wie Theater

 

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Bei Licht betrachtet sind auch die Pressekonferenzen, die eher Verkündigungen zu nennen sind, hohe Kunst. Mehr oder minder modisch gekleidete Herren erscheinen, nachdem das geneigte Publikum lange, sehr lange gewartet hat, im Gänsemarsch und maskiert, stellen sich brav hinter Plexiwänden auf, üben synchrones Ablegen der Masken, und – ja: verkünden. Also einer verkündet, die anderen üben sich in der Kunst der Paraphrasierung, mit dem absoluten Höhepunkt in Form eines Valentin Zitats „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“. Grosses Kino!
Man nimmt, demütig, was man bekommt, wenn einem alle Kunst vor der Nase verschossen bleibt. Traurig ist das.

Warteschleife

 

Leere
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Die Filmkunst arbeitet weiterhin im Hintergrund. In Berlin läuft eine für Presse und Fachpublikum/Einkäufer adaptierte online Version der Berlinale, physische Festivals sind auf den Frühsommer verschoben. Da wird es dann eng werden im Terminkalender, fast möchte man sagen: hoffentlich.
Aber gut, die Hintergrundarbeit ist wichtig, denn wenn dann irgendwann Kinos öffnen werden können, dann wird es auch Filme geben. Auch gedreht wird, und geprobt und gestreamt. Und auch Konzepte zur gefahrreduzierten Öffnung liegen in den Schubladen der Kinos, Theater und Konzerthäuser.
Aber der traurige Zuschauer, Kunstkonsument übt sich weiter in Geduld und hofft dabei, nicht gänzlich geistig zu verhungern. Sehr traurig ist das.

Nein, nicht nur die Kunst leidet, aber die Kunst wird häufig vergessen, wenn es darum geht abzuschätzen wie gross die Schäden sein werden. Die Kunst und der Breitensport, Luxusgüter einer zivilisierten Welt, oder Ausdruck von zivilisierter Welt?

Vielleicht wird man das besprechen müssen, irgendwann dann, wenn im Tunnel Licht erstrahlt, die Ketchupflasche ihren zähen Massnahmeninhalt ausgespuckt hat und Theater nicht mehr in Form von Pressekonferenzen stattfindet.
Bis dahin ein Zitat-Vorschlag:
Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.(K.Valentin)