59.Solothurner Filmtage Reisen

 

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Endspurt

 

Die letzten vier Filme, davon noch mal zwei, die für den Publikumspreis nominiert sind, es kann also noch Überraschungen geben.

 

Fahrende

 

Ein knapp zweistündiger Film über Jenische in Europa ist am Mittag komplett ausverkauft, das ist wirklich erstaunlich. Wenn man nach den Zuschauer-Vorlieben bei Festivals geht, sollten Kinobetreiber und Verleiher eindeutig mutiger in der Auswahl ihrer Filme werden.
Mit einem Wohnmobil folgen Andreas Müller und Simon Guy Fässler den Spuren der Jenischen,
Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa erzählt von dieser Reise.
Jenische, egal wo sie leben, bleiben immer noch eher ausgegrenzt, wenn sie sich als solche zu erkennen geben. Mit den Jahren haben sie die Strategie entwickelt, ihren jenischen Hintergrund eher für sich zu behalten. Behördenwillkür, was die Zuteilung von Stellplätzen angeht, ist wohl immer noch an der Tagesordnung, ebenso die Gefahr, dass Kinder behördlich von den Familien getrennt werden. Was den Film stark macht, sind die sehr guten Bilder, was ihn etwas konfus macht, ist die Suche an sich. Was sie zu suchen scheinen, ist einerseits eine Definition, oder auch Eigendefinition von Jenischsein, andererseits scheinen sie eine Homogenität zu suchen, die nur bedingt vorhanden ist. Ab der Hälfte des Films laufen die Fragen, die Beobachtungen im Kreis. Die Fragen wiederholen sich, die Fahrten, der Alltag, es kommt einfach kein neuer Aspekt dazu, und man verläuft sich in der Zeitlichkeit des Films, was dann das Anschauen und Sitzen etwas beschwerlich macht.

 

 

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Fahrt

 

Tatsächlich gibt es doch einen wirklich verrückten, originellen und humorreichen Film im Programm: Partners von Claude Baechtold.
Mehr zufällig als geplant, fährt der Regisseur 2002 als Beifahrer mit einem Reporter nach Afghanistan. Der Plan ist zunächst, dass er unmittelbar nach der Ankunft in Kabul zurück in die Schweiz fliegt. Zunächst und geplant, denn nichts wird so sein, wie vorhergesehen. In den ersten zwei Minuten des Films möchte man rausgehen, weil das Bild garstig aussieht, und ein Ich-Erzähler hektisch redet. In Minute drei ist man gefangen und es ist keine Rede mehr davon, das Kino zu verlassen. Aus Photos, in rasanter Frequenz aneinander geschnitten, und anfangs etwas wackeligen Video-Bildern entsteht ein sehr persönliches Tagebuch einer unglaublichen und nicht ungefährlichen Reise. Bei allem Witz, erzählt der Regisseur wie nebenbei auch die Geschichte des Konflikts in Afghanistan, erzählt von seinen eigenen Traumata, die er eines Nachts an einem reissenden Fluss endlich hinter sich lassen kann. Alles temporeich, gewitzt, ein bisschen schrullig. Und warum wird ein Film über eine Reise, die bereits 2002 stattfand, erst jetzt fertig?
Weil 20 Jahre lang die Kassetten verschollen waren. Aber vielleicht macht auch das gerade aus, dass die Geschichte so wunderbar schräg werden konnte.

 

Brüder

 

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Bisons von Pierre Monnard ist ein ganz klassisches Drama. Um den Hof im ländlichen Jura zu retten, lässt sich der sanfte, grosse und starke Bruder von seinem eher zwielichtigen Bruder zu illegale Kämpfen überreden. Aber anders als das Schwingen – der Schweizer Variante des Ringens – geht es bei diesen Kämpfen ohne Regeln und ohne sportliche Fairness zu. Die winterliche Landschaft ist malerisch dunkel, die Kampfstätten fast Schwarz in Schwarz und die unterschwelligen Streitereien unter den Brüdern kommt auch noch dazu. Drama pur. Trotz der vielen düsteren Bilder wirkt der Film zu sauber, und das Drama entwickelt sich wie erwartet. Aber gut gemacht ist der Film auf jeden Fall.

 

 

Geister

 

Le Médium von Emmanuel Laskar ist hingegen hell und fast fröhlich, auch wenn der Film mit einer Beerdigung beginnt. Die Mutter, ein Medium, liegt unter der Erde, ihre Kunden wenden sich Hilfe suchend an die beiden erwachsenen Kinder. Und tatsächlich, der Sohn hat ihre Fähigkeit geerbt. Und recht schnell kommt nicht nur der Geist der Mutter zu Besuch, sondern es tummeln sich überall in der Gegend Geister, die mit ausgesprochener Freude Sex miteinander haben und sich eher nicht um die Lebenden kümmern. Ähnlich schräg geht der Film weiter, mischt eine Liebesgeschichte mit hinein und veralbert selbst einen Exorzismus, den der Pfarrer nach Anleitung aus dem Internet vornimmt. Luftig und albern, aber auch ganz gut gelungen.

 

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Diese beiden gegensätzlichen Filme sind beide für den Publikumspreis im Rennen, wobei es schwer vorstellbar ist, dass einer dieser beiden Filme den Preis wirklich gewinnt. Aber Gewissheit gibt es erst morgen Abend.

59.Solothurner Filmtage Landschaft

 

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Prognosen?

 

Die 59. Solothurner Filmtage sind auf den letzten Metern.
Bisher gab es viele schöne Filme zu sehen, der grosse Aha-Effekt, das wirklich originelle Werk, war bisher leider nicht dabei. Viel solides Handwerk, einige inhaltlich ungewöhnliche Perspektiven, aber keine Filme, die anecken könnten, die zu künstlerischen Diskussionen führen könnten. Welcher Film da also wirklich heraussticht, ist schwer zu sagen. Selbst beim Publikumspreis ist der akustische Applausmesser eher auf Mitte gestellt. Es wird also spannend.

 

 

Der Berg ruft zurück

 

Bergfahrt von Dominique Margot zeigt die Alpen in ihrer Gesamtheit als Natur-Kultur- und Wirtschaftsraum. Quer über die Staatsgrenzen sieht man Wissenschaftler, Künstler, Spinner, Anwohner und Bergsteiger, sieht, wie die Veränderungen in den Bergen untersucht und wahrgenommen werden. Klang und Frequenzaufnahmen lassen sich visuell darstellen und man sieht das Matterhorn tanzen, das ist witzig und anrührend und wirkt ein bisschen wie Zauberei. Das Tropfen, Zwitschern und Rauschen der Berge baut ein Tonkünstler zu einer Klanginstallation, und unter den Gletschern betreut ein Glaziologe die hochkomplexen Strukturen zum Messen der Wasserflüsse. Begleitet von spezialisierten Bergkameraleuten, steigt der Zuschauer mit zwei jungen Bergsteigern auf den Eiger. Alles zusammen lässt ein wahnsinnig schönes und manchmal auch erschütterndes Portrait der Alpen entstehen, jenseits von kitschigem Glühen und – weitgehend – jenseits von Tourismus Stereotypen. Bei einigen der Aufnahmen kann man dann feststellen, wie schwindelfrei man ist, selbst über den Umweg Leinwand kann das ganz schön am Gleichgewichtssinn ziehen.

 

Leere

 

Karim Sayad zeigt viel Leere in seinem Film 2G. Ehemalige Schlepper, die Menschen durch die Wüste von Niger nach Libyen gebracht haben, sind, nachdem die Regierung gegen Schlepperei vorgeht, faktisch arbeits- und perspektivlos. Was bleibt sind Mobiltelephone, die oft keinen Empfang haben, und ihre Autos, mit denen sie weiterhin versuchen Geld zu verdienen. Der Transport von Säcken voller Gestein, in dem sich – vielleicht – ein klein wenig Gold befindet, scheint die einzige Möglichkeit zu sein, irgendwie seinen Unterhalt zu bestreiten. Während die, die nach dem Gestein und dem versteckten Gold buddeln, die gänzlich Abgehängten der Region sind. Mit stimmungsvollen Bildern der Wüste, Nahaufnahmen der Gesichter und einem extrem langsamen Erzählrhythmus kommt man den Männern in der Gegend zunehmend nahe.

 

 

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Im Kreis gehen

 

Les histoires d’amour de Liv S. von Anna Luif fängt gut an und wird dann doch etwas seicht. Die diversen, fehl gelaufenen Lieben der Liv S. werden anfangs in kurzen Episoden und als kleine, lustige Rückblenden erzählt. Ist Liv doch gerade mit Geschrei und Türen knallend aus dem Haus ihrer aktuellen Liebe gerauscht. Rückblicke also, und Menschen auf ihrem Weg, die ihre Gedanken hören können und diese kommentieren und sie so zur nächsten Episode bringen. Aber im Lauf des Films fällt dieses versponnene Element der Interaktion weg, es bleiben die Rückblenden und die Episoden werden länger und sind weniger lustig. Mit dem Resultat, dass ein luftig-skurriler Film, trotz kurzer 76 Minuten, irgendwie lang wird. Das Beste, das man dann noch dazu sagen kann, ist: nett.

 

 

Rückkehr

 

1975 drehte der französische Dokumentarfilmer Pierre-Dominique Gaisseau bei den Kuna, einem indigenen Volk der Inseln Panamas, einen Film. Ein Jahr lang lebte er dort mit seiner Familie, filmte Alltag und Rituale und versprach, ihnen den fertigen Film zu zeigen. Aber dazu kam es nie. Fast 50 Jahre später dreht Andres Peyrot Dieu est une femme. Es ist die Geschichte des verlorenen Films, von dem im Ort immer noch erzählt wird. Es ist auch ein Zeugnis davon, wie früher Filmemacher eine ihnen fremde Kultur für ihre Zwecke nutzten und nach ihren Ideen von Exotischem umdeuteten. Und dann ist es doch noch eine Geschichte der Heimkehr. Denn in Frankreich tauchte doch noch eine Kopie des ursprünglichen Films auf, der restauriert und digitalisiert werden konnte. Peyrots erzählt feinfühlig, aber auch mit viel Kraft für Visuelles, egal ob es sich um sehr farbenfrohe Momente bei den Kuna handelt, oder ob es eine Montage der Restaurierung und ersten Vorführung in Paris handelt. Er spielt mit seinen Bildern, nutzt Farben und Bewegungen und kreiert daraus zum Teil überraschende Effekte.

 

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Der vorletzte Tag endet nass, aber mit einem Film, der ein bisschen von der bisher vermissten Originalität zeigt.

59.Solothurner Filmtage Heimat

 

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Farbspiele

 

Bei eisiger Kälte geht es morgens zur Früh-Vorstellung. Der Saal ist selbst um 9:15 sehr gut gefüllt. Die Belohnung fürs frühe Aufstehen lässt nicht auf sich warten.

Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani ist so weit der schönste Film im Programm. Zu schade, dass er nicht in der Auswahl zum Hauptpreis steht.
Wie bei Naverianis letztem Film Wet Sand spielen auch hier Farben und Bildausschnitte eine zentrale Rolle, und begeistern und verzaubern jenseits der wunderbaren Geschichte. Ein kleines Dorf, irgendwo in Georgien, die Zeit ist daran vorbeigegangen, ein kleiner Laden für Seifen und Waschmittel, eine Frau, fast fünfzig, alleinstehend, zufrieden. Etero ist selbst dann mit sich und der Welt im Reinen, wenn sie von ihren Freundinnen übel verspottet wird. Unerwartet, und ganz schön spät im Leben, platzt die erste Liebe in ihr Leben, Gefühle, die sie so nicht kennt und über die sie auch nicht sprechen kann und mag. Jede Einstellung in diesem Film möchte man als Postkarte oder als Poster an die Wand hängen. Naveriani gestaltet ihre Szenen wie Gemälde, wählt Farben und Ausschnitte, jedes kleinste Detail gehört zur Inszenierung, kein Zufall, keine unnötige Bewegung. Die Farben der Orte spiegeln die Gefühle der Protagonistin wider. So dominieren in ihrem Zuhause warme Erdtöne wie bei niederländischen Meistern, bei den Dorffrauen sind es eher helle Töne, die nie ganz zusammenpassen. Das lesbische Paar in der nächsten Stadt wiederum ist in leuchtendes Pastell gehüllt wird, passend zur liebevollen Atmosphäre, die dort herrscht und mit der Etero dort empfangen wird. Der Film lässt offen, ob man am Anfang des Films bereits das Ende vorhersieht, oder ob das nur eine mögliche Vision von Etero ist; man kann also wahlweise traurig oder eher beschwingt den Saal verlassen. Beglückt ist man auf jeden Fall.

 

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Klamauk

 

Wer behauptet, dass Schweizer keinen Humor haben, oder nicht über sich lachen können, sollte Bon Schuur Ticino von Peter Luisi sehen. Der Film war im vorgegangen Jahr einer der erfolgreichsten in der Schweiz. Dabei veralbert er einige der „heiligen Kühe“ der Schweiz: die direkte Demokratie und die Viersprachigkeit. Eine Volksabstimmung bringt scheinbar den Willen zutage, dass in der Schweiz nur noch eine Sprache, und zwar Französisch, gesprochen werden soll. Besonders im Tessin wehrt sich die Bevölkerung dagegen, es formiert sich Widerstand, die Grenzen zum Rest der Schweiz werden geschlossen, ein Bürgerkrieg droht. Aber ein Polizist aus der Deutschschweiz, sein merkwürdiger welscher Kollege und eine Tessiner Wirtin decken in letzter Minuten die Geschichte auf. Es gab viel Gelächter und Szenenapplaus im restlos vollen Saal. Allerdings ist das ein Film, der es wohl eher nicht über die nahen Grenzen schaffen wird, zu viele Sprachen, zu viele Interna. Aber sehr lustig.

 

Heimat? – Heimaten?

 

Gibt es einen Plural zu Heimat, fragt der Regisseur am Anfang einen seiner Protagonisten. In Echte Schweizer versucht Luka Popadić diese und andere Fragen zu klären. Selbst stellt er sich im Film vor als: serbischer Regisseur und Schweizer Hauptmann. Und damit ist das Thema etabliert: Schweizer, deren Eltern als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, die in der Schweizer Armee nicht nur die Rekrutenschule gemacht haben, sondern auch Offiziere sind. Sie haben serbischen, tamilischen, tunesischen familiären Hintergrund, aber sie sind eben auch Schweizer, mit allem, was für sie dazu gehört, und das ist auch die Landesverteidigung. Der Film zeigt sie zu Hause und in ihrer Eigenschaft als Offiziere, lässt sie über die Ambivalenz ihrer Herkunft und ihrer Heimat sinnieren. Und darüber, dass die Schweiz wohl trotzdem noch nicht so weit ist, etwa einen muslimischen General oder Bundesrat zu bestellen.
Sie sind echte Schweizer, auch wenn man ihnen das ohne Uniform manchmal abspricht.
Es wäre spannend gewesen, auch bei diesem „Heimatfilm“ die Reaktion des Publikums mitzubekommen, aber der Saal war restlos voll, daher blieb nur das Sichten am Computer, fern jeder Reaktion.

 

 

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Leichtigkeit

 

Zum Abschluss des Tages, noch ein Film mit einer Frau, die mit sich im Reinen ist, und sich gegen ihre Umgebung behauptet. Le vent qui siffle dans les grues von Jeanne Waltz ist die Geschichte von zwei Familien und der scheinbaren Unvereinbarkeit ihrer Lebenswelten. Eine Liebesgeschichte, der soziale und ethnische Unterschiede im Weg zu stehen scheinen. Aber hauptsächlich ist es die Geschichte von Milenie, die ein bisschen verrückt, ein bisschen wortkarg, ein wenig anders ist, aber die mit ungebremster Lebensfreude alle Hürden und alle Gemeinheiten seitens ihrer Familie einfach überspringt, als wäre nichts im Weg gewesen. Sie ist dabei entwaffnend ehrlich, selbstlos und arglos. Der Film, macht trotz einiger böser Wendungen die Leichtigkeit und Sorglosigkeit der jungen Frau spürbar, setzt sie in Bilder um und ist einfach schön.

 

 

59.Solothurner Filmtage eröffnet

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Heilig oder Tabu

 

Sieben Tage lang ist Solothurn wieder der Nabel der Schweizer Filmwelt. Da kann es dann auch egal sein, dass der Schnee hier in Form von hässlichem Regen auftritt, künstlerische Freiheit sozusagen.
Eine Woche wird es in den Solothurner Spielstätten zu sehen und zu bewerten geben, was im letzten Jahr an Schweizer Filmen entstanden ist – und es in durch die Auswahl ins Programm geschafft hat.

 

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Launig und doch auch kritisch zeigt sich der künstlerische Leiter Niccolò Castelli. Er versteht (Film)Kunst als Reflexionsfläche aktueller Diskurse, neuer Strömungen, kontroversieller Sichtweisen, die auch den zeitlichen Wandel dokumentieren. Die Aufreger von früher sind heute möglicherweise Kanon. Was heute vielleicht nicht verstanden wird, kann morgen Alltag sein, oder vergessen worden sein. Was heilig ist oder ein Tabu, das weiss man oft erst später, wenn das Fremde nicht mehr neu ist, sondern selbstverständlich geworden ist. «Solange es Tabus gibt, wird die Aufgabe des Kinos nicht erschöpft sein. Deshalb ist es nur richtig, dass die Öffentlichkeit, dass Sie und wir alle uns daran beteiligen, dass mutige Filme entstehen und dass sie gezeigt werden können».

 

Mutterschaft ablehnen

 

 

Und so eröffnet das Festival mit einem Film, der ein eher wenig öffentlich besprochenes, eher tabuisiertes Thema behandelt.

In Les paradis de Diane von Carmen Jaquier und Jan Gassmann lehnt eine junge Mutter unmittelbar nach der Geburt ihre Mutterschaft ab.
Mit dem Akt des Gebärens scheint sie sich auch von dieser Rolle abgenabelt zu haben. Mit einer fast schwebenden, zart bewegten und oft sehr nahen Kamera folgt man dem harten Gefühlschaos, das die junge Frau dazu bringt, in der Nacht nach der Geburt aus dem Krankenhaus abzuhauen. Gehetzt, wie ein verletztes Tier, flüchtet sie, um im Morgengrauen völlig fertig im trostlosen Busbahnhof von Benidorm zu landen. Der Film zerredet nichts, erklärt nichts, liefert weder Erklärungen noch Hintergründe. Er folgt einfach der Protagonistin, so wie diese einfach Schritt für Schritt weiterläuft. Eine Frau, die nicht weiss, ob sie ein Monster ist, weil sie davon ausgehen muss, dass man sie so sieht. Und so folgen schlafwandlerisch-rauschhafte Szenen auf Situationen voller stiller Zartheit. Und immer findet die Kamera die genau passende Nähe oder Distanz, setzt auf wilde Lichtreflexe und Spiegelungen oder auf sanft bewegte Begleitung der Bewegungen. Als Zuschauer fürchtet man sich gleichermassen mit und für die junge Frau, und das ist wohl das Beste, was ein Film bewirken kann. Dass das hier so fabelhaft zusammenspielt, ist der Kamera von Thomas Szczepanski und dem Spiel von Dorothée de Koon zu danken. Der Film ist auch zur Berlinale eingeladen, die Chancen, dass er europaweit in die Kinos kommt, ist also gross.

 

So weit also ein starker Einstieg in die 59. Solothurner Filmtage.

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# Vorschau nach Solothurn

 

 

Künstlerische und administrative Leitung Solothurner Filmtage
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Ein Blick in die Zukunft

 

An sich ist ja gerade die Jahreszeit der Rückblicke, des Besinnen auf das Vergangene; die Schweizer Filmtage in Solothurn lassen heute einen Blick in die Zukunft zu. Das Programm der 59. Filmtage wird vorgestellt.
Ein positives Relikt der Pandemie-Zeit: Online Programmpräsentationen.
Im Vorteil sind natürlich alle, die heute vor Ort dabei sind, schliesslich gibt es für sie zusätzlich zur Information noch Kaffee und Croissants.

 

Sofa statt Kinositz

 

Auf dem Computer erscheint, nach einem kurzen technischen Schwarz, der Saal des Rex in Bern, also zurücklehnen auf dem Sofa.
Einiges wird neu, anders werden im kommenden Jahr.
Die Programmschienen wurden neu gestaltet, sie sollen weniger „kleinteilig“ werden, und dadurch klarere Form bekommen.
Der Preis „Opera Prima“ für einen Erstlingsfilm wurde erweitert, darin sind jetzt erste bis dritte Langfilme, er läuft unter dem neuen Namen „Visioni“.
Die Idee dahinter: ein erweiterter Blick auf die künstlerische Kontinuität, auf Anfänger, deren zweiter (oder dritter) Film oft viel schwerer auf die Leinwand kommt, als der erste. Weiterhin werden der Publikumspreis und der Prix de Soleure vergeben werden. Zur Auswahl stehen jeweils sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme, oder alles was dazwischen mach- und denkbar ist.
Ein kurzer Blick ins Programm zeigt, es wird anstrengend, einfach, weil alle Filme spannend klingen.

 

Neben dem Hauptprogramm

 

Die morgendliche Gesprächsrunde „Fare cinema“ mit verschiedenen Filmarbeitenden zu spezifischen Themen wird fortgesetzt, was schön ist, da schon im letzten Jahr wirklich interessante Kollegen Rede und Antwort standen. Und dort auch Kollegen und Themen von hinter der Kamera, und somit jenseits der üblichen Sichtbarkeit, ins Bild zu Wort kommen.
In der Schiene „Histoires“ wird die älteste Schweizer Filmproduktion Praesens, 1924 gegründet, mit einer Filmreihe gefeiert und präsentiert. Da wird es Seltenes zu sehen geben. Auch dafür wird dann im engen Tagesplan Zeit gefunden werden müssen.

Eröffnet werden die 59. Solothurner Filmtage am 17. Januar 2024 mit der Weltpremiere von Les paradis de Diane von Carmen Jaquier, Jan Gassmann.

Das gesamte Programm gibt es auf der Festivalseite.

Soviel zur Vorschau auf das Programm von 2024, das eine Werkschau, eine Rückschau, auf das Schweizer Filmschaffen des Jahres 2023 sein wird, klingt komplizierter als es ist.

 

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