#Diagonale 2024 Ins Kino gehen

 

(c) ch.dériaz

 

Ins Kino gehen

 

 

Heute noch vier Vorstellungen der Diagonale 2024, soweit hat mein interner Zufallsgenerator eher gute, interessante oder schräge Filme in mein Programm gespült. Von dem, was zu hören ist, waren sehr viele Vorstellungen zwischen gut besucht und ausverkauft. Es bleibt dieselbe Frage, wie bei oder nach allen Festivals: Wieso stürmen die Menschen Kinos, wenn es ein Festival ist, und wieso gehen sie, im Schnitt, unter „normalen“ Bedingungen weniger ins Kino? Möglich, dass sich für Festivals einige Besucher extra freinehmen, aber alle? Unwahrscheinlich. Was also macht den Reiz aus, der im Alltag fehlt? Und könnte man den übertragen? Ins Kino gehen ist und bleibt etwas anderes als Film schauen.

 

Wohngemeinschaft

 

Der morgendliche Film Mein Zimmer von Monika Stuhl straft mich lügen. Er ist mässig besucht und mässig gut. Schwer zu sagen, woran der Film wirklich krankt. Erzählt wird von einer Organisation in Perugia, die Wohngemeinschaften organisiert, in denen jeweils eine Person mit geistiger Einschränkung mit mehreren Studenten zusammenlebt. Der „Deal“ ist, kostenlos wohnen, gegen Beteiligung und Hilfe im Alltag. Das alles ist interessant, ist eine gute Sache, trägt aber mangels Weiterentwicklung der Protagonisten, der Situationen im Film, nicht 90 Minuten.

 

 

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Falscher Dokuspielfilm

 

Und schon wieder versöhnt mit der Programmwahl dank Sparschwein von Christoph Schwarz. Der Film schlägt so viele Räder, mal vorwärts, mal rückwärts, nennt sich erst Dokumentarfilm, läuft als Spielfilm, definiert sich im Verlauf des Films als „Mockumentary“, und ist insgesamt ein unfassbarer Spass. Eine Ebene: Regisseur und Protagonist Schwarz, der einen Film über sich, wie er ein Jahr lang einen Geldstreik lebt. Während dieser Zeit spiralt er vom Aktivisten-Kasper zum Aktivisten und zurück zum Regisseur. Verbrennt Geld, bepflanzt ein Cabrio, fährt, da im Geldstreik, schwarz mit der Bahn und rotiert so von Unfug zu ernstem Aktivismus und zurück (und zurück, und zurück…). Insgesamt ist es völlig unerheblich, welche Teile „echt“ oder „wahr“ sind, weil jeder Teil, für sich genommen, dazu anregen kann – und sollte – über vieles in unsere Welt nachzudenken. Mit Humor und Selbstironie kann man möglicherweise viel mehr weitergeben, als mit leichenbitter Miene.

 

Nichts Neues

 

Auch wenn die Programme seit einiger Zeit nicht mehr experimentell, sondern innovativ heissen, sie bleiben eher Experimente denn wirkliche Innovationen. Zumindest nach diesem einen Programm geurteilt.
Es wird viel auf Film gedreht, was schön ist, aber das alleine ist nicht zukunftsweisend.

Projektionskamera von Manfred Schwaba ist tatsächlich ein sehr schönes, kurzweiliges Experiment. Live aus der ersten Reihe auf die Leinwand projiziert er seinen Film, eine Minute kurz. Sehr schön.

Friedl von Christiana Perschon und Ich will nicht gefilmt werden, sondern selber filmen von Friedl vom Gröller funktionieren nur im Doppelpack.
Die Filme sind wie Frage und die Antwort.
Friedl, die nicht interviewt werden will, beantwortet auf Schwarz doch eine von Perschons Fragen, dazwischen sieht man sie rauchend, stumm.
Ihre gefilmte Antwort: Perschon schaut, neben einem Projektor sitzend, auf eine Wand in einer Spiegelung Gröller, die filmt. Licht, Schatten, stumm.
Im Doppelpack ansprechend.

In The Tuner von Sasha Pirker lässt sich das Konzept, die Rhythmik nicht erfassen. Ein Klavierstimmer bei der Arbeit, das sieht sehr schön aus, sehr ruhig. Aber dann verschiebt sich die Synchronität, Bilder des Raumes kommen dazu und ab da ist man verloren.

In Silent Conversations von Eva Giolo umarmen sich Paare, gedreht auf überlagertem und bearbeitetem Filmmaterial. Das führt zu verschiedensten Effekten, deren Rhythmus und interne Logik auch nicht wirklich fassbar sind.

Palmer von Friedl vom Gröller ist wieder kurz und schmerzlos. Ein Mann, sichtbar vom Bauchnabel bis zum Anfang der Schenkel, in Unterhose, hinter ihm ein Spiegel und Hände, die von dort kommen, ihm die Unterhose runterzuziehen,

Saturn Return von Daniela Zahlner zeigt zehn erotische Kurzfilme. Neuinszenierungen von zwischen 1906 und 1911 entstandenem erotischen Filmen. Manche sind witzig, manche nerven. Im Ablauf ist etwas unklar, warum einige stumm, andere mit übertrieben lauten Geräuschen versehen sind. Manche sind sehr bunt, manche schwarzweiss, und noch andere mit den verschossenen Farben der 70-er Jahre. Vielleicht wäre das lustiger, wenn es nicht 30 Minuten dauern würde.

A Fat Person Goes to the Doctor von Veronika Merklein ist eigentlich eine tragische Geschichte. Eine dicke Frau liest Erlebnisse dicker Menschen bei Ärzten vor. Menschen, denen, egal weshalb sie zum Arzt kommen, immer (nur) gesagt wird, sie seien zu dick und müssten abnehmen. Trotz der sehr statischen Machart hat das was.

 

 

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Heilen

 

Restoration von Gudrun Gruber erzählt vom langen Prozess einer Heilung, einer Rückermächtigung.
Als Teenager wurde Sabrina in Detroit vergewaltigt, Hilfe aus ihrem Umfeld bekam sie zunächst nicht. Es schien auch alles vergessen zu sein, und die junge Frau führte ein „normales“ Leben. Aber Traumata verschwinden nicht einfach, und plötzlich wurde sie krank, bekam Angst- und Panikattacken, und Anfälle. Der Film erzählt ihre Geschichte, oder besser: Sie führt durch ihre Geschichte und nimmt dabei das Filmteam mit. Sabrina und ihre Familie sind sehr offene Protagonisten und Regie, Kamera und am Ende der Schnitt gehen behutsam und liebevoll mit dieser Offenheit um. So sieht man den Prozess einer Veränderung, den Anfang einer Heilung, einen Weg, der sicher noch nicht zu Ende ist. Ein sehr schöner Film.

 

 

Preise

 

Am Abend wurden die Preise vergeben, leider habe ich die meisten Filme nicht gesehen.

Der grosse Preis Spielfilm: Martha Mechow für Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin

Der grosse Preis Dokumentarfilm: Helin Çelik für Anqa

Kamera Spielfilm: Nora Einwaller für Asche

Kamera Dokumentarfilm: Julia Gutweniger für Vista Mare

Schnitt Spielfilm: Leandro Koch, Javier Favot für The Klezmer Project

Schnitt Dokumentarfilm: Sara Fattahi für Anqa

Was angenehm auffällt, nicht nur die beiden Regiepreise, sondern auch die beiden Kamerapreise gehen an Frauen. Nachdem das Verhältnis der Geschlechter in der Auswahl immer noch nicht ganz ausgeglichen ist, ist das nicht unwesentlich. Der Publikumspreis wird erst morgen Abend bekannt gegeben.
Alle Preise auf der Webseite der Diagonale.

 

 

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Die erste Diagonale unter der Leitung von Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar hat einen guten Jahrgang an Filmen zur Verfügung gehabt. Die Stimmung war sommerlich und entspannt, auf die konkreten Zuschauerzahlen muss man noch etwas warten, aber dem Augenschein nach war das Festival 2024 gut besucht.
Eine etwas nutzerfreundlichere Variante zum Buchen wäre weiterhin schön, aber das kann ja noch werden.

#Visions du Réel – Frauen

 

(c) ch.dériaz

 

Aus der Wundertüte des Programms

 

 

Drei Filme über Frauen, ganz unterschiedlich, sowohl stilistisch als auch in den Protagonistinnen, dennoch, dreimal Frauen, die am Ende als stark aus dem Film hervortreten.

Der Persönlichste

 

Fuku Nashi von Julie Sando. Die Regisseurin und ihre japanische Grossmutter. Zwei Frauen, die sich nur langsam öffnen und annähern. Die Frage der eigenen Identität steht im Raum. Ist sie Japanerin, ist sie Schweizerin? Die Grossmutter beantwortet die Frage für die Enkelin anders, als die Enkelin selbst. Das Selbstverständnis ist ein anderes. Wie gehört man dazu, wenn man in Japan als „Halbe“ und in der Schweiz als „Exotin“ gesehen wird?
Die letztgültige Antwort steht wohl noch aus.

 

Fuku Nashi (c) Julie Sando

 

Der Härteste

 

Chaylla von Clara Teper & Paul Pirritano ist das Protokoll einer Befreiung.
Eine junge Mutter, die versucht, aus einer gewalttätigen Beziehung herauszufinden, aber oft an sich selber scheitert. Ihr selbst fehlt der Glaube, dass sie ein Leben ohne physische und psychische Gewalt haben darf. Sie glaubt nicht, dass es Gerechtigkeit gibt, wenn sie ihren Mann wegen Körperverletzung oder Stalking anzeigt. Und sie glaubt auch nicht daran, dass es Beziehungen gibt, die anders laufen, in denen Respekt herrscht. Und so hadert sie, geht zurück zu ihrem Mann, bekommt ein weiteres Kind, geht weg, klagt an und zweifelt. Am Schluss kommt so etwas wie Hoffnung auf, dass sie jetzt, wo sie nach Jahren auch Prozesse gegen ihn gewonnen hat, endlich frei von Angst und Gewalt wird leben können. Erstaunlich, neben der sehr bewegten Kamera, die immer recht direkt auch die Gefühle zeigt, dass die doch sehr verunsicherte Chaylla diese Nähe über einen langen Zeitraum so zugelassen hat. Das zeugt vom gossen Respekt der Filmemacher ihrer Protagonistin gegenüber.

 

Chaylla (c)Clara Teper & Paul Pirritano

 

 

Der Lustigste

 

In Ardente·x·s von Patrick Muroni geht es um Pornos.
Eine Gruppe junger Frauen in Lausanne, sie haben sich vorgenommen, ethische und dissidente Pornofilme zu machen, und dafür eine Pornofilmproduktion gegründet. Sie arbeiten im Kollektiv, was dann manchmal zu lustigen Problemen führt, wenn zum Beispiel ein Film, trotz guten Drehbuchs, nicht fertig gemacht werden kann, weil zwar mit mehreren Kameras gedreht wurde, aber keine für den Überblick zuständig war. Ergebnis: unschneidbar.
An manchen Stellen ist der Film etwas zu geschwätzig. Die jungen Frauen erzählen sich, in schöner Umgebung oder auch in interessanten Situation, Geschichten aus ihrem Leben, oder reden über ihre Gefühle, man wird aber den Eindruck nicht los, dass das alles nur für die Kamera gedacht ist. Hervorragend sind die Szenen bei den Pornodrehs gestaltet, die Schwierigkeiten, die sich ergeben, weil mehrere Kameras um die Darstellerinnen und Darsteller herumstehen, gehen und filmen, werden als ästhetisches Mittel genutzt und bringen so sehr spannende Bilder vom Set. Eine Jugendfreigabe dürfte der Film nicht bekommen.

 

Ardente·x·s (c)Patrick Muroni

 

 

Die Kurzen

 

Zwei Kurzfilme, die das Medium Film für Abstraktes und Philosophisches nutzen, und dabei eigenständige, schöne Werke entstehen lassen.
The Demands of Ordinary Devotion von Eva Giolo bietet Sinnliches und Rundes. Handwerk und Säuglinge, Milch abpumpen und Nuckeln, eine Bolex laden, aufziehen, drehen. Kreise und Kreisbewegungen in einer Schleife aus Assoziationen. Hübsch.

Sad Machines (Las máquinas tristes) von Paola Michaels erkundet die Seele der Maschine. Diverse laufende Roboter klagen ihr Leid, nicht am richtigen Ort zu sein, nicht dazuzugehören. Aus verschiedenen Firmenvideos zu Bewegungsabläufen der Maschinen zusammenmontiertes philosophisches Werk zur Identitätsfrage. Kurzweilig.

 

Besser im Kino

 

Dass Filme auf einer Leinwand im dunklen Kino besser wirken, ist hinlänglich klar.
Dass aber beim Schauen eines Films sowohl ein Gewitter mit Hagelsturm stören, als auch Handwerker, die Wände aufstemmen, ist dann doch irgendwie unfair.
So verliert H von Carlos Pardo Ros eindeutig an Kraft. Der Film arbeitet mit sehr bewegter Kamera, mit Tonkollagen und mit Stille. Die Idee ist, die Stunden vor einem tödlichen Unfall beim Stierlaufen in Pamplona 1969 experimentell zu rekonstruieren. Und so tanzt und taumelt die Kamera im Heute durch die feiernden Massen in Pamplona, man ist sehr unmittelbar im Geschehen, und versteht auch, wieso die Gruppe von Freunden damals nicht zusammen fand. Zu voll, zu viel, zu viel Bewegung und Feierwut. Aus einem dunklen Kinosaal käme man vermutlich selbst feiertrunken heraus.

 

H (c)Carlos Pardo Ros