Bei eisiger Kälte geht es morgens zur Früh-Vorstellung. Der Saal ist selbst um 9:15 sehr gut gefüllt. Die Belohnung fürs frühe Aufstehen lässt nicht auf sich warten.
Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani ist so weit der schönste Film im Programm. Zu schade, dass er nicht in der Auswahl zum Hauptpreis steht. Wie bei Naverianis letztem Film Wet Sand spielen auch hier Farben und Bildausschnitte eine zentrale Rolle, und begeistern und verzaubern jenseits der wunderbaren Geschichte. Ein kleines Dorf, irgendwo in Georgien, die Zeit ist daran vorbeigegangen, ein kleiner Laden für Seifen und Waschmittel, eine Frau, fast fünfzig, alleinstehend, zufrieden. Etero ist selbst dann mit sich und der Welt im Reinen, wenn sie von ihren Freundinnen übel verspottet wird. Unerwartet, und ganz schön spät im Leben, platzt die erste Liebe in ihr Leben, Gefühle, die sie so nicht kennt und über die sie auch nicht sprechen kann und mag. Jede Einstellung in diesem Film möchte man als Postkarte oder als Poster an die Wand hängen. Naveriani gestaltet ihre Szenen wie Gemälde, wählt Farben und Ausschnitte, jedes kleinste Detail gehört zur Inszenierung, kein Zufall, keine unnötige Bewegung. Die Farben der Orte spiegeln die Gefühle der Protagonistin wider. So dominieren in ihrem Zuhause warme Erdtöne wie bei niederländischen Meistern, bei den Dorffrauen sind es eher helle Töne, die nie ganz zusammenpassen. Das lesbische Paar in der nächsten Stadt wiederum ist in leuchtendes Pastell gehüllt wird, passend zur liebevollen Atmosphäre, die dort herrscht und mit der Etero dort empfangen wird. Der Film lässt offen, ob man am Anfang des Films bereits das Ende vorhersieht, oder ob das nur eine mögliche Vision von Etero ist; man kann also wahlweise traurig oder eher beschwingt den Saal verlassen. Beglückt ist man auf jeden Fall.
Klamauk
Wer behauptet, dass Schweizer keinen Humor haben, oder nicht über sich lachen können, sollte Bon Schuur Ticinovon Peter Luisi sehen. Der Film war im vorgegangen Jahr einer der erfolgreichsten in der Schweiz. Dabei veralbert er einige der „heiligen Kühe“ der Schweiz: die direkte Demokratie und die Viersprachigkeit. Eine Volksabstimmung bringt scheinbar den Willen zutage, dass in der Schweiz nur noch eine Sprache, und zwar Französisch, gesprochen werden soll. Besonders im Tessin wehrt sich die Bevölkerung dagegen, es formiert sich Widerstand, die Grenzen zum Rest der Schweiz werden geschlossen, ein Bürgerkrieg droht. Aber ein Polizist aus der Deutschschweiz, sein merkwürdiger welscher Kollege und eine Tessiner Wirtin decken in letzter Minuten die Geschichte auf. Es gab viel Gelächter und Szenenapplaus im restlos vollen Saal. Allerdings ist das ein Film, der es wohl eher nicht über die nahen Grenzen schaffen wird, zu viele Sprachen, zu viele Interna. Aber sehr lustig.
Heimat? – Heimaten?
Gibt es einen Plural zu Heimat, fragt der Regisseur am Anfang einen seiner Protagonisten. In Echte Schweizer versucht Luka Popadić diese und andere Fragen zu klären. Selbst stellt er sich im Film vor als: serbischer Regisseur und Schweizer Hauptmann. Und damit ist das Thema etabliert: Schweizer, deren Eltern als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, die in der Schweizer Armee nicht nur die Rekrutenschule gemacht haben, sondern auch Offiziere sind. Sie haben serbischen, tamilischen, tunesischen familiären Hintergrund, aber sie sind eben auch Schweizer, mit allem, was für sie dazu gehört, und das ist auch die Landesverteidigung. Der Film zeigt sie zu Hause und in ihrer Eigenschaft als Offiziere, lässt sie über die Ambivalenz ihrer Herkunft und ihrer Heimat sinnieren. Und darüber, dass die Schweiz wohl trotzdem noch nicht so weit ist, etwa einen muslimischen General oder Bundesrat zu bestellen.
Sie sind echte Schweizer, auch wenn man ihnen das ohne Uniform manchmal abspricht. Es wäre spannend gewesen, auch bei diesem „Heimatfilm“ die Reaktion des Publikums mitzubekommen, aber der Saal war restlos voll, daher blieb nur das Sichten am Computer, fern jeder Reaktion.
Leichtigkeit
Zum Abschluss des Tages, noch ein Film mit einer Frau, die mit sich im Reinen ist, und sich gegen ihre Umgebung behauptet. Le vent qui siffle dans les gruesvon Jeanne Waltz ist die Geschichte von zwei Familien und der scheinbaren Unvereinbarkeit ihrer Lebenswelten. Eine Liebesgeschichte, der soziale und ethnische Unterschiede im Weg zu stehen scheinen. Aber hauptsächlich ist es die Geschichte von Milenie, die ein bisschen verrückt, ein bisschen wortkarg, ein wenig anders ist, aber die mit ungebremster Lebensfreude alle Hürden und alle Gemeinheiten seitens ihrer Familie einfach überspringt, als wäre nichts im Weg gewesen. Sie ist dabei entwaffnend ehrlich, selbstlos und arglos. Der Film, macht trotz einiger böser Wendungen die Leichtigkeit und Sorglosigkeit der jungen Frau spürbar, setzt sie in Bilder um und ist einfach schön.
Das Festival Wochenende beginnt mit strahlend blauem Himmel und fast milden Temperaturen. Dafür hat die Festival App eine neue Idee, wie sie Reservierungen verkomplizieren kann; eventuell ist frühstücken ganz ohne Einsatz von Elektronik ein guter Plan für die kommenden Tage.
Kurzfilme-morgens
Souviens-toi hier von Juliette Menthonnex. Wie erinnert man sich an das verdrängte? Wie schafft man die Traumata, die einem das Leben verderben wieder aus sich heraus? Eine junge Frau entschliesst sich, lange nach einer Vergewaltigung, den Täter anzuzeigen. Ein bewegendes und bedrückendes Dokument einer Heilung.
2° von Christoph Oeschger. Ausgehend von der Unmöglichkeit 2° Erderwärmung zu verstehen, übersetzt der experimentelle Dokumentarfilm diese Problem in Bilder. 2° mehr in einem Filmbild bedeuten etwa 3 Blenden weiter auf, eine Visualisierung, die man verstehen kann. Gletscherbilder werden mittels Bearbeitungsapps zu abstrakten und verstörenden Konstrukten, mit Stoff bedeckte Gletscher sehen wie Kunstobjekte aus, Abstraktion macht manches sichtbar.Die menschengemachte Erwärmung entzieht sich dem Verstehen und zeigt doch den Imperativ zu handeln.
Fièvre von Michele Pennetta und Géraldine Rod. Ein junger Schauspieler in einem Luxushotel, der Drehbeginn steht unmittelbar bevor, da erfährt er, dass sein PCR test positiv ist. Nicht nur muss er jetzt 14 Tage in seinem Zimmer bleiben, er verliert auch die Rolle. Ein böser Spass, sehr gut gespielt.
Senza sturnizi – Richard Coray, constructur da punts persas vonSusanna Fanzun. Faszinierendes über den Gerüstkonstrukteur Coray, der Ende des 19. Anfang des 20.Jahrhundert nicht nur im heimatlichen Graubünden, sondern weltweit für die Hilfsbauten von Brücken und Seilbahnen verantwortlich war. Kreatives Genie und eine grosse Portion Schwindelfreiheit prägen die Geschichte. Fragil wirkenden Holzbauten, die so schön sind, dass man ihnen ein eigenständiges Dasein gewünscht hätte, werden mittels Filmtechnik in ihrem Kontext wieder sichtbar, und verschwinden wieder.
Kurzfilme – mittags
Was macht das fast völlige Fehlen weiblicher Vorbilder im Filmschaffen mit einer jungen Regisseurin? Dieser Frage geht Juliette Klinke in Dans le silence d’une mer abyssale auf den Grund. In einer Kollage aus Filmausschnitten von Regisseurinnen, Kamerafrauen und Produzentinnen aus den Anfängen der Filmkunst, komponiert sie einen Essay zu ihren Reflexionen. Ab den 30er Jahren des letzten Jahrhundert, als Film von einer abseitigen Kunst zu einer Industrie wurde, sind Frauen aus dem Blick, dem Gedächtnis sukzessive entfernt worden, bis zu einem heute nahezu völligen Vergessen. Es liegt also an heutigen, jungen Filmemacherinnen, diesen Kulturschatz wieder ans Licht zu bringen. In guten Händen von Philipp Ritler und Kezia Zurbrügg, zeigt einzelne Situationen, in denen Menschen Hilfe bieten, sich kümmern, alles in statischen, bühnenhaften Szenen. Tatsächlich ist das nicht wirklich interessant.
Ein weiterer Film, diesmal kurz und fiktional, der sich mit Krieg, Bildern und deren Deutungshoheit befasst. Real News von Luka Popadić kreiert eine Geschichte um einen jungen Reporter, der während des Kosovo Kriegs in Belgrad seine ersten Aufträge hat. Genau zu der Zeit, als die NATO das serbische Fernsehen bombardiert hat, er muss sich entscheiden, seine persönliche Betroffenheit zu formulieren oder seine Karriere weiter zu treiben. Kann man aus Dias aus den 80er Jahren unterlegt mit Tonaufnahmen aus der gleichen Zeit eine Film machen? Und wird dieser Film flüssig und schlüssig sein? Im Fall von TRAP NYC 1988 von Dieter Fahrer funktioniert das Experiment tatsächlich gut, der Film hat Rhythmus und Fluss, und lässt die Vergangenheit wieder aufstehen.
Familiensache
Der privateste Film so weit ist Pas de deux vonElie Aufseesser. Die Langzeitdokumentation einer Familie aus Genf, im Zentrum zwei Brüder, die sich gleichzeitig extrem ähnlich und völlig gegensätzlich sind. In der Familie treffen nicht nur verschiedene Temperamente, sondern auch verschiedene Ethnien, manchmal durchaus rabiat, auf einander. Der Film ist mit kleinsten Mitteln gedreht, heisst in diesem Fall, der Regisseur war mit seiner Kamera immer wieder präsent. Unter der Bedingung nicht einzugreifen, bekommt er so Zugang zu vielen sehr intimen Familienszenen. Er folgt der Familie in den Urlaub auf die Azoren, dem einen Bruder an eine amerikanische Uni, wo er als Turmspringer ein Stipendium hat. Dem anderen Bruder folgt er nach Jordanien, wo der mal einfach nur kichernd rumhängt, mal für einen Werbefilmdreh rekrutiert wird.
Der zeitliche Ablauf erscheint manchmal konfus, so dass man als Zuschauer die Orientierung verliert. Das Hirn wünscht sich Kohärenz in den Abläufen, aber im Endeffekt sind die Ereignissen keine Folge eines Zeitablaufs, sondern singuläre Ereignisse, die für einen Aussenstehenden in jedweder Reihenfolge Sinn ergeben, oder eben nicht.
Farbrausch
Youth Topia von Dennis Stormer spielt mit Farben und Formaten und erzählt eine Art 1984 auf LSD. Der „Grosse Bruder“ ist ein Algorithmus, der, anhand der Instagramauftritte, ermittelt, ob man ewig Jugendlicher oder Erwachsener wird, entsprechende „Beamte“ kommen einen dann informieren. So wird eine Gruppe von Freunden, die in einer alten Scheune leben, wilden Unfug treiben und das Leben geniessen, auseinanderdividiert. Während die Erwachsenenwelt in klaren Farben, die Räume aus Sichtbeton sind, ist die Welt der ewig Jugendlichen in grelle Fehlfarben getaucht. Wenn die Welten interagieren, verwischen die Verhältnisse etwas. Dazwischen Instagrampostings mit farbigen Filtern, Emojis, Kommentaren und in 1:1 Format. Ganz hält der Film das Konzept nicht durch, und leider geht im Verlauf des Films der Erzählstrang des „bösen“ Algorithmus verloren, er mischt sich nicht mehr ein, greift nicht mehr ein. Das ist ein bisschen schade, da wäre mehr möglich gewesen. Auch der sehr jubelhafte Schluss nimmt dem Film die Schärfe und das Originelle, ein offeneres Ende wäre eine denkbare Abhilfe gewesen.
Völlig Abgedreht
Wenn es einen Preis für den besten Filmtitel gäbe, Wer hat die Konfitüre geklaut? von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll, wäre der beste Kandidat dafür. Ihr zweiter gemeinsamer Langfilm ist eine wilde, durchgedrehte Mischung aus Horror, Science Fiction und Kaspertheater. Grell, bunt und unverfroren mischen sie alle Genres, jagen ihre Darsteller durch unglaubliche Situationen, mischen popkulturelles und Michael Jackson hinein und garnieren alles mit einer boshaften Drohne, und einem Algorithmus, der irgend etwas schwer giftiges verdaut haben muss. Ein Film, der sicher nicht jedem gefällt, für Fans des Abstrusen Kinos aber ist der Film eine Freude. Und ausverkauft war die Uraufführung auch.
Die App – Mission Impossible
Die Reservierungs-App hat eine neue Methode der Quälerei gefunden…. Filme im Programm werden im richtige Kino angezeigt, will man dann allerdings buchen, wird ein falsches Kino und ein falscher Tag angezeigt! Buchung unmöglich. Nach einem Update geht es ein bisschen besser.
Film? Kunst?
Während in Solothurn die sonntäglichen Bürgersteige noch verschlafen weggeklappt sind, gehen einige Mutige ins Kino.
Was Systemrelevant aber unsichtbar von Hedwig Bäbler bei einem Filmfestival zu suchen hat, erschliesst sich allerdings nicht. Der Film behandelt ein relevantes gesellschaftliches Thema, ist aber im besten Fall eine dürftige Tv-Reportage. Die Protagonisten sind gut gewählt und präsentieren ihre Schwierigkeiten auf verständliche Weise , aber die Bilder sind beliebig, die Dramaturgie uninspiriert und der Kommentartext ist ganz schlimmer, bedeutungsschwangerer Fernsehkommentar.
Der zweite Film in diesem morgendlichen Programm, Haltlos von Peter Guyer und Jürg Halter, zeigt eine Spokenword Performance. Die Performance ist gut, die Übertragung auf die Leinwand ist es nicht. Ohne einem nachvollziehbarem Konzept zu folgen, sieht man mal Vollbild, mal einen breiten, schmalen Schlitz oben, oder unten, mal Quadratisches Bild, mal Hochkant. Die „Vignetten“ sind dabei mal grösser, mal kleiner, werden von bunt zu schwarz-weiss gezogen und wieder zurück. Die sehr rhythmische Sprache der Performance wird dabei weder unterstützt, noch kontrapunktisch betont. Eher schaut man einer Spielerei am Schneidetisch zu. Was kann man alles mit Bildern machen?
Die Antwort wäre: viel mehr, als was hier zu sehen war.
Weltherrschaft
Sonntag viertel nach Zwölf, und der grosse Konzertsaal ist voller Zuschauer, die einen Dokumentarfilm über Pilze sehen wollen. Das ist echte Filmbegeisterung.
In The Mushroom Speaks von Marion Neumann geht es um die Welt der Pilze, in all ihren oft unterschätzten und wenig bekannten Facetten. Pilze beherrschen die Welt und sind überall, nicht die Fruchtkörper, die man gemeinhin als Pilze sieht, sondern das was sie wirklich ausmacht, das Unterirdische, Vernetzte. Lange Zeit wurde diese Spezies vernachlässigt. Neumann nähert sich dem Thema sowohl poetisch, als auch wissenschaftlich. Pilzkenner, Wissenschaftler, Aktivisten, Pilzgurus aller Arten teilen ihr Wissen und ihre Hoffnungen, mit Hilfe der Pilze einige menschengemachte Probleme der Welt zu beheben. Gegen Ende verliert der Film etwas an Spannung, macht noch einen, eher entbehrlichen, Schlenker zu psychoaktiven Pilzen und verliert den Weg zu einem sauberen Schluss aus den Augen. Insgesamt aber eine gut gemachte Dokumentation.
DIe Maskensisziplin ist tasächlich hoch, ganz selten sieht man Masken als Kinnschutz getragen.
Mut
Laurence Deonna libre von Nasser Bakhti. Das Portrait der Genfer Journalistin und Schriftstellerin zeigt eine mutige Frau, die familiären und gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz ihren Weg gegangen ist. Für die Tochter aus „gutem Haus“, 1937 geboren, war es keineswegs vorgezeichnet, dass sie als Reporterin hauptsächlich den Mittleren Osten bereisen und Reportagen liefern würde, in denen sie sehr oft die Frauen der Region in den Fokus stellte. In ihrer aktiven Zeit ist sie sicher nicht immer bequem gewesen, aber eine Journalistin, die einiges bewegt hat, auch in ihre Funktion bei Reporter ohne Grenzen.
Träume
Aya von Lorenzo Valmontone und Thomas Szczepanski zeigt zwei Menschen am Rand der Gesellschaft, ohne zu werten dafür mit einem sanften Blick. Ein in Calais gestrandeter Migrant, der im mittlerweile abgerissenen Lager „Dschungel“ eine Schule auf die Beine gestellt hat und eine arbeitslose Französin, die im Lager als Freiwillige geholfen hat. Das triste, graue und sturmgebeutelte Calais bietet die Bühnen auf der beide immer wieder von Grossem träumen. Zimako, ursprünglich aus Togo, hat, so scheint es, ständig neue Ideen, wie die Welt ein besserer Ort werden kann.Mal will er leerstehende Häuser für Migranten und Obdachlos herrichten, oder einen Film machen, den er dann nur noch einem Hollywood Produzenten verkaufen muss, auch eine Karriere als Rapper hält er für denkbar. Auch Lydie träumt von einer Welt, in der Menschen ohne Vorurteile miteinander umgehen, von einem vernünftigen Job, von einem Leben als Fahrerin. Zwei Träumer in einer unwirtlichen Landschaft, in einer Welt, die mit solchen Träumern nicht viel anzufangen weiss.
Bisher war noch kein Film dabei, der wirklich umwerfend war, eine originelle oder neue Handschrift oder Bilderwelt gezeigt hätte, aber ein bisschen geht das Festival ja noch weiter.
Nach den ersten Tagen mit Regen ist jetzt die Hitze in Locarno angekommen.
Die Frage See oder Kino drängt sich auf…
Auch wenn das Sitzen langsam schwerfällt und die Ohren jede einzelne Maske verfluchen, die Entscheidung fällt aufs Kino.
Krieg in den Köpfen
Brotherhood von Francesco Montagner. Ländliches Bosnien, Schafherden, ein paar verstreute Häuser, sonst nicht viel, auch nicht viel zu tun. Während der Vater eine zweijährige Haftstrafe als Syrien-Heimkehrer verbüsst, sind die drei Brüder auf sich selbst gestellt. Vom Vater haben sie klare Anweisungen, wer was zu übernehmen hat. Die Jungs zwischen 18 und 12 gehen sehr unterschiedlich mit der Situation und den Aufgaben um. Besonders der Mittlere scheint gleichzeitig jeder Anweisung, auch den religiösen, exakt folgen zu wollen, und ist doch derjenige, der das schlechtesten schafft. Eine Langzeitbeobachtung, in der sich nicht viel bewegt, die Entwicklung, das Erwachsenwerden der Jungs stagniert irgendwo in Perspektivlosigkeit und Verblendung.
Kurzfilme – Gewalt
Kazneni udarac (Elfmeter) von Rok Biček ist ein sehr stimmungsvoller, aber auch grausamer Film. Zwei kleine Jungs spielen Fussball, träumen dabei von den Grossen des Sports, von ihren Wünschen, ihren Aussichten. Bis eine Gruppe viel älterer Jungs ankommt, zunächst schmeicheln sie dem aufgeweckteren der beiden Kleinen, schiessen sanfte, leichte Bälle auf sein Tor, die er gut halten kann. Als er sich sicher fühlt, glaubt bei den Älteren mitspielen zu dürfen, fangen sie an, gezielt und brutal Bälle direkt auf das Kind zu schiessen. Das kann nicht gut ausgehen, und tut es auch nicht.
Um häusliche Gewalt geht es in Imuhira (Zuhause) von Myriam Uwiragiye Birara. Eine junge Frau mit einer Kopfwunde flüchtet sich zu ihrer Familie. Dort ist sie aber weder willkommen noch erfährt sie Unterstützung. Ein Film, der seine Stimmung fast ausschliesslich aus den schönen Bildern zieht, die wenigen Dialoge unterstützen, was man auch so verstanden hätte.
Das genaue Gegenteil passiert in Four Pills at Night von Leart Rama. Die Bilder von einer Techonparty irgendwo am Rand von Prishtina erzeugen zwar Stimmung, aber das, was sie erzählen sollen oder wollen, funktioniert nur über die Dialoge, die allerdings wie Fremdkörper in diesem Film wirken.
Dōng dōng de shèng dàn jié (Weihnachten) von Fengrui Zhang, hier stimmt die Balance zwischen spärlichen Dialogen und Bildern wieder. Ein Vater, sein Sohn, irgendwo in der chinesischen Provinz. Es ist Weihnachten, aber, Chinesen feiern kein Weihnachten, weshalb der Wunsch des Jungen, nach einem Geschenk unerfüllt bleibt. Die Bilder zeichnen ein intimes Bild der beiden Figuren, verloren in ihrer Entfremdung und in der Weite der Stadt.
In Strawberry Cheesecake von Siyou Tan wehren sich drei Schülerinnen gegen die Direktorin ihrer Schule, die droht sie rauszuwerfen, weil sie eine E-Zigarette geraucht haben. Die Wahl der Mädchen fällt auf Psychoterror durch blutigen Horror. Schön gemacht.
Berge, Teufel und Familie
Um sich vor dem Teufel Alkohol und ihren Sohn vor allen Teufeln zu bewahren, lebt eine Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn weit oben, einsam in den Tiroler Bergen. Soweit der Hintergrund in Peter Brunners Luzifer. Gefangen im christlichen Wahn und der übersteigerter Mutterliebe hat der, nur wenige Worte stammelnde, Johannes wohl nie eine Chance auf ein eigenständiges Leben und so liegt sein gesamter Fokus auf dem religiösen Irrsinn seiner Mutter und der naiven Hingabe an seine Raubvögel. Die düstere Idylle wird plötzlich bedroht, als das Stück Land gebraucht wird, um einen Skilift zu bauen. Auf ersten Drohungen gegen die Mutter folgen handfeste Taten, der leibhaftige Teufel scheint die beiden gefunden zu haben. Die Spirale aus Gewalt und Wahnsinn dreht sich immer enger zusammen. Tolle Bilder der dramatisch wirkenden Berglandschaft, schaurige Aufnahmen von herannahenden Drohnen, die wie böse Insekten, einfallen und das sensationelle Schauspiel von Franz Rogowski machen diesen düsteren Film aus. Im Vergleich zu Brunners früheren Filmen ist Luzifer, trotz seiner Qualitäten, deutlich konventioneller, was schade ist. Warum auch hier wieder ein Warnhinweis für sensible Zuschauer nötig war, erschliesst sich nicht.
Ida Red von John Swab, der Abendfilm auf der Piazza, kommt ohne Warnung aus, und das, obwohl bereits in den ersten Minuten Blut aus Köpfen spritzt, die mit grosskalibrigen Waffen durchlöchert wurden. Ida Red ist eine klassische (amerikanische) Kinogeschichte. Eine mörderische Familie, die, obwohl die Mutter, als Kopf der Bande, im Gefängnis sitzt, einen Ort in Oklahoma fest im Griff hat. Blut ist hier dicker als Gesetz, als Vernunft oder als das eigene Leben. Der Film verhandelt das alles in einem atemberaubenden Tempo, und reiht Gewalt an mehr Gewalt: Wer nicht mit uns geht, ist gegen uns. Auf jeden Fall packend.
Mondschein und Statistik
Auf den ersten Blick scheint in Locarno alles wie all die Jahre vorher, aber bei genauerem Hinsehen fällt auf, die Kinos sind zwar gut besucht, aber längst nicht so voll wie üblich. Auch auf der Piazza Grande ist es, trotz vieler Zuschauer, deutlich leerer als üblich, nicht nur auf Grund der Begrenzung auf 5.000 Plätze (statt möglicher 8.000). Die genauen Zahlen wird man sich noch anschauen müssen, aber subjektiv ist es weniger voll.
Weil weniger Menschen angereist sind?
Weil doch die Angst vor Ansteckung grösser ist, als der Wunsch nach Kunst? Dafür bietet Locarno dieses Jahr mehr Uraufführungen als sonst, auch auf der Piazza. Auch das mag an dem gerade erst wieder anlaufenden Kinobetrieb liegen.
Und wieso ist im Film der Mond immer voll?
Nur mal so in den Raum gefragt.
Reden aber nichts sagen
Manchmal sollte man, wenn einen kein Film wirklich anspricht, gar nicht ins Kino gehen. Aber, nein, tapfer I gigantivon Bonifacio Angius ausgewählt, obwohl die Beschreibung nicht wirklich aufregend klingt. Das Bauchgefühl hatte Recht. Der Film hat zwar eine sehr schöne Bild-und Lichtgestaltung, mit viel dunkelstem Schwarz und Braun, und das wenige, das beleuchtet ist, schimmert expressionistisch in schmutzigem Gelb. Das hilft aber nicht darüber hinweg, dass die Geschichte der 5 alten Freunde, die sich in einem Haus treffen, Drogen konsumieren und aneinander vorbeireden, nicht wirklich interessant ist. Das Beste, das man dazu sagen könnte wäre: Ein absurdes Gedicht.
Kurzfilme –Vermissen
Se posso permettermi von Marco Bellocchio ist der corti d’autore dieses Programs, aber so richtig überzeugen mag der Film nicht. Ein Mann, der anscheinend gerade seine Mutter verloren hat, verbringt seine Zeit auf Strassen und Plätzen und beobachtet Menschen. Unvermittelt macht er dann Bemerkungen, gibt (unerwünschte) Ratschläge : Sie sehen so traurig aus…..So hohe Absätze sind nicht gut für das Gleichgewicht….. Sie essen ganz schön viel…. Ungefragt, zum Teil grenzüberschreitend, immer an Frauen gerichtet. Und in Wahrheit ist alles sowieso nur ein Tagtraum. Naja.
Fantasma neon von Leonardo Martinelli hingegen schafft eine Brücke zwischen Kritik am Brasilianischen Staat und getanztem Musical, und das auch noch mit Leichtigkeit. Seine Protagonisten, alles Essenslieferanten, wechseln von kurzen Statements zu ihrer Lage, und der Lage im Land, zu Tanzeinlagen auf der Strasse. Mühelos, schön, und doch auf den (wunden) Punkt gebracht.
And then they burn the sea von Majid Al-Remaihi ist ein experimenteller Abschiedsbrief an eine Mutter, die ihre Erinnerung verliert. Ein bisschen verwirrend.
Für Real News nutzt Luka Popadić sowohl Spielszenen als auch originale Nachrichtenbilder. 1999, der Kosovokrieg ist in vollem Gang, eine Gruppe internationaler, aber auch serbischer ,Journalisten wird vom serbischen Militär zu Schauplätzen der NATO Bombardierungen gebracht, um zu berichten. Ein junger, amerikanischer Journalist, will sich dem gewünschten Verhalten aller Kollegen nicht beugen, stellt Fragen, schaut genauer hin. Und wird jedes Mal zurückgepfiffen. Dann wird im April das Gebäude des serbischen Fernsehens bombardiert, es sterben Techniker und Journalisten, er muss sich entscheiden, vor Ort bleiben und weiter berichten, oder so berichten, wie er es für richtig hält und nach Hause geschickt werden.
Yi yi von Giselle Lin ist ein weiterer Film, der nicht weiss, ob die Bilder oder die Dialoge die Geschichte transportieren sollen. Fatalerweise wählt die Regisseurin Bilder mit eher wenig Aussagekraft und lässt fasst alle Dialoge in grossen Totalen stattfinden. Das Ergebnisberührt nicht wirklich, entgegen der Ankündigung.
Und noch ein Film, den man sich problemlos hätte sparen können: Zeros and ones von Abel Ferrara.
Laut Katalog findet die Geschichte in einem postapokalyptischen Rom nach einer Belagerung statt. Aber ein Wer oder ein Was erschliesst sich überhaupt nie im Film. Statt dessen durchweg nicht nur dunkle, sonder vor allem grieselige Bilder, auf denen selten irgendetwas zu erkennen ist. Das was an Handlung da sein könnte versinkt damit in Unsichtbarkeit. Das Ganze unterlegt mit Musik, die wahlweise böse wummert oder symphonisch ein kommendes Drama ankündigt – das dann nicht kommt. Ein wirrer Quatsch, mit aufdringlichen Bezügen zu allen Coronamassnahmen – ständig desinfiziert jemand Hände, oder auch Dollarnoten, werden Masken auf und abgesetzt – in dem einzig die Zufahrten auf die ständig irgendetwas filmende Sony-Kamera halbwegs gut im Bild sind. Warum dieser Film ausgewählt wurde ist wirklich unverständlich.
Auf der Piazza Grande gibt es, nach dem Ehrenleoparden für sein Lebenswerk an den Kameramann Dante Spinotti, einen bunten Animationsfilm.
Yaya e Lennie – The walking Liberty von Alessandro Rak ist ein Sciencefiction Märchen, mit Anklängen an Endzeitactionfilme. Sehr schön gezeichnet, modelliert, animiert, phantasievoll und ein ganz kleines bisschen kitschig. Die junge Yaya und ihr etwas tumber Kumpel Lennie durchstreifen eine Welt, in der der Dschungel die Städte überwuchert, Menschen nur noch selten anzutreffen sind. Eine Gruppe hat allerdings ein totalitäres System aufgebaut, fängt Kinder ein, unterwirft und beutet aus, dieser „schönen neuen Welt“ gilt es unter allen Umständen nicht in die Hände zu fallen.
Und damit nähert sich das Festival langsam seinem Ende, ein kompletter Festivaltag noch und die Preisverleihung. Echte Favoriten gibt es nicht, wenn man sich umhört.