Locarno#76 Zum Schluss

 

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Vorhersagen

 

Jedes Jahr werden Filmkritiker in Locarno gefragt, welches ihr Favorit für den Pardo d’Oro ist. Sehr oft herrscht eine Art Einigkeit, aber kein Jahr war es so eindeutig wie diesmal.
Mit 12 Nennungen liegt Radu Judes Film Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, einsam an der Spitze. Sein Film vereint vieles, das gerade in Locarno wichtig ist: künstlerische Freiheit in der Wahl der Ausdrucksform, intelligent erzählte Geschichte, der trotzdem der Witz nicht fehlt, und Originalität in der Umsetzung. Am Abend wird sich zeigen, ob die Jury das genauso sieht.
Die beiden nächst häufig genannten Filme: Yannick von Quentin Dupieux und
The Vanishing Soldier von Dani Rosenberg, mit jeweils zwei Nennungen, sind definitiv auch sehr gute Kandidaten, in der Meinung der befragte Kritiker aber ganz schön weit abgeschlagen. Auch Stepne von Maryna Vroda wäre ein würdiger Kandidat und, möglicherweise, ein politisches Statement. Ob die Jury sich von Politik oder nur von künstlerischem Ausdruck leiten lässt, bleibt ihr Geheimnis.
Aber vielleicht verhält es sich mit Kritiker-Vorhersagen ähnlich wie mit Wettervorhersagen.

 

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Themen

Es war viel von Sexualität die Rede, aber auch wenn „sex sells“ für die Werbung gilt, das alleine macht noch keinen interessanten oder guten Film. Und in einigen Fällen waren die vermittelten Bilder und Werte sehr rückwärtsgewandt.
Gar nicht wenige Filme verlegten ihre Geschichten in die Vergangenheit, wobei nur bei wenigen mit der Zeit und ihren historischen Implikationen gespielt wurde.

 

Bildformate

Die Wahl des Bildformats, des Materials, der visuellen Ästhetik waren auch in diesem Jahr vielfältig. Die Leinwand wurde je nach Bedarf in voller Breite oder im reduzierten 4:3 genutzt, und fast immer entsprach die Wahl dem für die Geschichte besten Bildformat. Dass wieder vermehrt auf Film gedreht wird, und dass Schwarzweiss-Bilder als Ausdruck gewählt werden, ist eine schöne Entwicklung.

 

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Preise

Den Pardo d’Oro im Hauptwettbewerb gewinnt Mantagheye Bohrani (Critical Zone) von Ali Ahmadzadeh, den ich leider nicht gesehen habe.
Radu Jude bekommt für Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, neben anderen Preisen, den Spezialpreis der Jury und den Hauptpreis der Jugendjury.
Maryna Vroda gewinnt mit Stepne den Preis für die beste Regie im Hauptwettbewerb und den FIPRESCI Preis.
Im Wettbewerb Cineasti del presente, gewinnt Hao jiu bu jian (Dreaming & Dying) von Nelson Yeo den Pardo d’Oro und den First Feature Award.
Warum Katharina Huber für Ein schöner Ort den Preis als beste Nachwuchsregisseurin bekommt, erschliesst sich mir nicht.
Der Pardo Verde geht an Čuvari Formule (Guardians of the formula) von Dragan Bjelogrlić, der auf der Piazza an einem Regentag als zweiter Abendfilm lief, bedauerlicherweise nicht gesehen.
Besonders die Preise der Jugenjury an Radu Jude, an Maryna Vroda oder an Sweet Dreams von Ena Sendijarević beeindrucken. Die zukünftigen Kinozuschauer haben keine Berührungsängste mit komplexen Themen, Autorenkino oder Kinokunst. Das gibt Hoffnung und widerspricht dem, was sonst so pauschal vom Geschmack junger Zuschauer gesagt wird.
Europäisches Autorenkino ist gefragt, man muss nur den Mut haben, das dann auch im Kino zu zeigen.

Publikumspreis

Dann stellt sich weiter die Frage: Kann ein Film, in dem ein niedliches Haustier böse zu Tode kommt, den Publikumspreis gewinnen?
Wie schon direkt im Anschluss an Ken Loachs Auftritt auf der Piazza abzusehen war, gewinnt The Old Oak den Publikumspreis. Das damit verbundene Preisgeld, liess er durch seinen Schweizer Verleiher mitteilen, wird Loach an Flüchtlingsorganisationen spenden.
Und damit wäre auch die Frage beantwortet: Ja, selbst wenn niedliche Haustiere zu Tode kommen, kann ein Film das Publikum gewinnen.
Alle Preise sind auf der Webseite des Festivals zu finden.

 

 

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Abschied

Am Abend fängt es an zu regnen, aber trotzdem strömen Menschen auf die Piazza. Die Stühle sind nass, überall Regencapes. Wird die Schlusszeremonie wirklich auf der Piazza Grande stattfinden?

 

 

Punkt 21 Uhr ist es dann so weit, der Regen hat aufgehört, und zum letzten Mal für dieses Jahr heisst es: „Buona Sera, Piazza Grande“.
Die grössten Emotionen löst der letzte Auftritt von Marco Solari aus, er wird mit stehendem Beifall empfangen, wovon er sichtlich bewegt ist. Noch einmal beschwört er den freien Geist, der in Locarno herrscht, und von dem er überzeugt ist, dass auch die kommende Festivalpräsidentin ihn mit ihrem Team weiter tragen wird.
Als scheidender Präsident hat er einen Überraschungsfilm versprochen, und sich für Citizen Kane entschieden.

 

 

Gewalt

Der Abschlussfilm Shayda von Noora Niasari erzählt von dem, das oft euphemistisch als häusliche Gewalt bezeichnet wird. Dass die Hauptfigur der Geschichte eine iranische Mutter in Australien ist, fügt dem Problem eine Dimension dazu. Aber im Kern, und das ist auch im Film deutlich, ist das Problem immer dasselbe, egal wo die betroffenen Frauen und ihre Kinder herkommen. Die titelgebende Shayda ist nach Gewalt und Vergewaltigung durch ihren Mann in einem Frauenhaus untergekommen, trotzdem versucht sie für ihre Tochter eine halbwegs normale Beziehung zum Vater zu ermöglichen. Dass das nur bedingt gut geht, liegt auf der Hand. Der Film ist sehr emotional und vor allem von der 6-jährigen Selina Zahednia toll gespielt.

 

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Das war es aus Locarno.
Nächstes Jahr am 7. August wird pünktlich um 21:30 die 77. Ausgabe beginnen.

#Locarno75 Die Eröffnung

 

Locarno75_PardoKuh zur Stelle
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Wenn die Zukunft des Kinos 75 wird

 

Von Anfang an hat sich das Locarno Film Festival das Neue, das Andersartige, das Anspruchsvolle auf die Fahnen geschrieben. Von Anfang an war die Idee, grosses Kino zu zeigen, ohne die künstlerischen und intellektuellen Werte dabei zu verlieren.

Seit 75 Jahren gelingt das jeden Sommer aufs neue; ein A-Festival, das immer ein wenig anders ist als die anderen, und sich trotzdem nicht nur an Fachpublikum richtet. So treffen zukünftige Geheimtipps auf mögliche Blockbuster, Filme aller Genres, aus allen Ländern, messen sich in den diversen Kategorien und hoffen auf die begehrten Leoparden.
Auf der Piazza Grande müssen Filme vor einer der kritischsten Jurys überhaupt bestehen: dem Publikum; da sind schon grosse Namen preislos abgezogen, während scheinbar Unscheinbares Triumphe feierte.

 

Neustart mit 75

 

Giona A. Nazzaro (c) ch.dériaz

Für den künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro ist diese Jubiläumsausgabe so etwas wie die erste Ausgabe, ein Neustart, ein Wiederaufstehen nach den beiden letzten Jahren, die wegen der Pandemie irgendwie mit halber Kraft liefen.
Ein Neustart, der aber nicht versucht, andere Wege zu gehen, sondern der weiterhin das Kino in seiner Vielfalt zelebrieren will, und dabei darauf achtet, Neues zu integrieren. Neue Techniken, neue Sichtweisen, aber auch neues, und auch jüngeres Publikum, für Film und Film im Kino zu gewinnen.

Festivalpräsident Marco Solari unterstreicht diesen Geist des Aufbruchs, der immer auch ein Dialog mit dem Vergangen sein muss.
Wo kann das besser gelingen als im sommerlich-sonnigen Locarno, mit mehr Sponsoren im Rücken, mehr staatlicher (Film)Förderung und dem Zusammentreffen von Künstlern, Zuschauern und Urlaubern auf kleinstem Raum.

 

 

 

Warten (c) ch.dériaz

 

 

Action auf der Piazza

 

Vor dem Eröffnungsfilm ein erster Kurzfilm, aus einer Reihe mit dem hübschen Namen: „Postkarten aus der Zukunft“.
Der Kurzfilm von Natalka Vorozhbyt zeigt, wie das Trauma des Krieges, auch im Exil, weiter Macht über die Menschen hat. Wenn einfache, alltägliche Geräusche zu Angst und Panik führen, und der Abbruch eines Hauses Sirenengeheul und Bombenlärm zurückbringt. Der Film bewegt und macht nachdenklich.

Angesichts der aktuellen politischen Lage mag ein Film wie Bullet Train von David Leitch, der Gewalt geradezu zelebriert, zynisch wirken.
Davon abgesehen ist das blutrünstige Rachespektakel absolut unterhaltsam.
Sofern man sich an den Blutfontänen, der lauten Musik und der wilden Erzählstruktur nicht stört. Triaden, Auftragskiller, offene Rechnungen, Familienkonflikte und ein Auftragskiller mit Selbstzweifeln, dazu ein japanischer Hochgeschwindigkeitszug, eine Konstellation, die immer wieder schrägen Wendungen bringt. Laut, blutig, ein bisschen albern und sehr unterhaltsam.
Ob es wegen des Filmkrachs nur nicht zu hören war, aber es scheint, dass keine Stühle während dieser ersten Vorstellung zerbrochen sind.

 

 

Maskenfreiheit

 

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Die Pandemie ist für das Festival beendet, oder zumindest wirkt es so.
Keine Masken, keine festen Sitzplätze, Kinos voll. Immerhin ist die Reservierung von Plätzen geblieben, so könnte sich das Gedrängel an den Eingängen eventuell in Grenzen halten. Die nächsten 10 Tage werden es zeigen.

Locarno 2020 – eine Alternative

Leinwand, Laptop Pardokuh und Wien
Leinwand, Laptop, Pardokuh und Wien
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Hätte, würde, sollte, könnte….
2020 ist ein Jahr für Grammatikfans!

 

Am 5. August um 21:30 hätte auf der Piazza Grande in Locarno der Eröffnungsfilm beginnen sollen, es hätte vorher eine kleine, vermutlich launig-feurige Rede von Festivalpräsident Marco Solari gegeben und die künstlerische Leiterin Lili Hinstin wäre, mit neuer Frisur, in ihr zweites Jahr in Locarno gestartet. Mit Glück wäre es eine dieser schönen lauen Tessiner Nächte gewesen und mit Pech wären einige der Plastikstühle unter lautem Krachen unter jemandes Hintern zusammengebrochen.
Dieses Jahr also nicht, weil dieses Jahr alles, was Festivals, was Kultur angeht, anders funktioniert.

Locarno_Secret_screenings Lili Hinstin
Lili Hinstin
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Absage, Online, Online-Live Kombination

Das Festival von Locarno war zunächst komplett abgesagt worden, dann hiess es, die gesamten Kurzfilme würden online gezeigt und auch die Pardinos würden von der Jury vergeben. Ein bisschen später kamen Filme der Open Doors Sektion – dieses Jahr weiter mit Filmen aus Süd-Ost Asien – dazu. Es folgte die Entscheidung, die Hauptpreise an Filme für Übermorgen, Filme also, die wegen des dämlichen Virus nicht fertiggestellt werden konnten, aber schon so weit fortgeschritten sind, dass sie sich einer Jury präsentieren können.
Und dann, vor gar nicht so langer Zeit, fiel die Entscheidung, das abgespeckte, alternative Programm in drei Kinos in Locarno vor Publikum zu zeigen, zusätzlich zum Onlineangebot.
Das Einzige das es dieses Jahr gar nicht geben wird, sind Vorstellungen auf der Piazza Grande.

Locarno für alle

Wer sich also die Mühe macht, auf die Festivalseite zu gehen, findet dort alle Angaben wie und wo, kostenfrei, die Kurzfilme der Pardi di Domani zu sehen sind, oder kann sich Lang- und Kurzfilme aus Süd-Ostasien anschauen oder in der Sonderausgabe A Journey in the Festival’s History ausgewählte Filme der letzten Jahre entdecken oder wiedersehen. Einzig die von Lili Hinstin persönlich ausgesuchten Secret Screenings werden tatsächlich nur in Locarno zu sehen sein, dort heisst es dann, Karte besorgen, ins Kino setzen und sich überraschen lassen.
Aber auch Interviewrunden und Gespräche zu filmrelevanten Themen werden in der Zeit vom 5. bis 15. August online zur Verfügung stehen.
So kann dieses Jahr tatsächlich jeder sich ein bisschen Locarno nach Hause holen, und Filme sehen, die es sonst nicht so leicht zu sehen gibt.

Festival_Leitung_©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Festival_Leitung_
©SabineCattaneo_LocarnoFilmFestival
Filme für die Zukunft

Von den zwanzig Filmen –10 nationale und 10 internationale –, die für die Hauptpreise zur Verfügung stehen, wird man als Zuschauer nichts zu sehen bekommen, schliesslich sind die meisten gerade mal angefangen, angedacht, ein bisschen gedreht oder wurden kurz vor dem geplanten Drehbeginn ausgebremst.
Spannend ist diese Variante auf jeden Fall.
Und auf einige der Filme kann man ganz gespannt sein, wie zum Beispiel Cidade;Campo von Juliana Rojas, die mit dem fabelhaften Werwolf Film
As Boas Maniera (Good Manners) begeistert hat. Oder auch der neue Film der Anthropologen Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor De Humani Corporis Fabrica, die mit Leviathan den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik gewonnen hatten. In der nationalen Auswahl ist von Unrueh, dem nächste Projekt von Cyril Schäublin, nach seinem schräg-spannenden Erstling Dene wos guet geit einiges zu erwarten.

Die Juryentscheidungen werden dann am 15. August, am letzten Festivalabend bekannt gegeben.

Pardo im Regen
Pardo im Regen
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Die Eröffnungszeremonie ist übrigens auch Live online zu sehen:
Am besten also den Computer ins Freie tragen, bequem hinsetzen und Getränke zur Hand haben. Für das ultimative Locarnogefühl: bei jedem Wetter raussetzen, und dann viel Spass bei Locarno 2020.