Die 55. Ausgabe der Solothurner Filmtage, die erste Ausgabe unter der neuen Leitung von Anita Hugi endet mit folgenden Preisträgerfilmen:
Der Prix de Soleure geht an Boutheyna Bouslama für den Dokumentarfilm A la recherche de l’homme à la caméra, leider nicht gesehen. Der Prix du Public geht an Baghdad in my Shadow von Samir.
Thematisch dominierten Familiengeschichten und, ganz stark, Filme, die Identitätsfragen zum Thema hatten. Seine Identität hat der schweizer Film längst gefunden, sie ist vielfältig, vielsprachig, neugierig. Die Regisseure und Regisseurinnen blicken in der Wahl ihrer Themen auf ihre Wurzeln, erschliessen sich neue Perspektiven und tragen so zu einer bunten Mischung bei. Der wahre Gewinner dieser Mischung ist auf jeden Fall das Publikum. Bleibt also dem Publikum ausserhalb der Landesgrenzen viele schweizer Filme zu wünschen.
Das, letztes Jahr, unterzeichnete Abkommen zur Gleichstellung und Diversität in der Filmbranche wurde insofern erfüllt, dass mehr Filme von Regisseurinnen gezeigt wurden, auch wenn die Zahl immer noch etwas niedriger ist, als Filme von Regisseuren, einzig bei den Kurzfilmen wurde eine 50:50 Verteilung erreicht. Bei den Gewinnerfilmen ist dieses Jahr die Verteilung ausgeglichen.
Das genaue Datum für die Solthunrer Filmtage 2021 steht noch nicht fest, aber wer gegen Ende Januar noch nichts vorhat, könnte ja über eine Reise in die Schweiz nachdenken.
Der letzte komplette Kinotag in Solothurn. Und ein weiterer Frühfilm.
Die Erwartunge an Al-Shafaq (Wenn der Himmel sich spaltet) von Esen Isik sind gross. Die Geschichte klingt spannend aber insgesamt verwirrt sie mehr als sie unterhält, was wirklich schade ist. Eine türkische Familie in Zürich, Burak, der jüngste Sohn kann es keinem recht machen, er scheint nicht genug im Glauben zu Hause zu sein, er trinkt, versucht verschämt mit einer Mitschülerin anzubandeln, bekommt Ärger zu Hause. Da scheint ein neuer, aus Deutschland kommender Imam gerade richtig, um ihn auf den rechten Weg zurückzubringen. Was dann passiert ist eine Radikalisierung, die keiner in der Familie wahrhaben will. Parallel geht es um zwei jesidische Brüder aus Syrien, deren Familie vom IS ermordet und verschleppt wurde und die in einem türkischen Flüchtlingslager feststecken, wo der ältere Bruder bei einer Explosion stirbt. Von Zürich aus macht sich Burak auf den Weg nach Syrien, wo er als IS Kämpfer stirbt. Rückblenden in verschieden zeitlichen Ebenen verweben die Geschichten und schliesslich treffen der trauernde Vater und der trauernde, verwaiste Junge in der Türkei aufeinander. Das alleine ist schon relativ komplex, das Problem liegt auf zwei weiteren Ebenen: Warum spricht der Vater neben türkisch hochdeutsch, während der Rest der Familie immer wieder ins Schweizerdeutsche fällt? Was spricht er mit dem kleinen Jungen? Türkisch? Kurdisch? Wenn Kurdisch, wieso spricht er das nicht auch zu Hause? Warum spielen die Darsteller alle, als stünden sie das erste Mal vor der Kamera? Man kann an all diesen filmischen Ungereimtheiten natürlich freundlich vorbeisehen, nur das Drama sehen, das sich vor einem abspielt. Aber eben wegen der Komplexität der beiden Erzählstränge macht die mangelnde Logik oder Sorgfalt das ganze ärgerlich.
Ein Dokumentarfilm über den Reise- und Dokumentarfilmer René Gardi, einzig aus dem veröffentlichten und unveröffentlichten Material Gardisentstanden: African Mirror von Mischa Hedinger. Gardi, der mit seinen Filmen aus Kamerun nachhaltig das mediale Bild Afrikas geprägt hat, entlarvt sich mit eigenen Mitteln. Die Filmbilder, Tagebuchauszüge und TV Auftritte zeigen, wie sehr hier die eigene romantisierte und vor allem kolonial geprägte Sicht mit allen Mitteln verbreitet wird. Aus damaliger Sicht (ab den 1950er Jahren) mag das Inszenieren von „Alltagssituationen“, das Verniedlichen, aber auch Herabwürdigen der Kameruner, übliche Praxis gewesen sein, aus heutiger Sicht sind die Kommentare, die Inszenierungen und Einschätzungen nur schwer zu ertragen. Hedinger hat das Material strukturiert und dramaturgisch positioniert, bleibt zu hoffen, dass er, anders als Gardi so sorgfältig und ehrlich vorging, dass das Bild das auf der Leinwand entsteht nicht in ähnlicher Weise einzig den heutigen ethischen Maßstäben genügt, sondern auch denen der Zukunft. Das vorausgesetzt, ein sehr bewegender Film.
Golden Age von Beat Oswald zeigt Alter als lukratives Geschäftsmodell. Eine luxuriöse Seniorenresidenz und ihre skurrilen Bewohner im Süden Floridas gleichzeitig präzise beobachtet und peppig geschnitten. Ein Einblick in ein – sehr amerikanisches – Modell vom Leben im Alter, bei dem man sich die ganze Zeit fragt, ob man lachen soll oder sich fürchten möchte. Andererseits ist die Residenz so teuer, dass sich die Frage für die meisten Zuschauer wohl eher nicht stellt und man kann dann doch hauptsächlich staunen und lachend den Kopf schütteln über all den Prunk, die Happy Hour, den Ringelpietz mit Anfassen. Ein fröhlicher Film, der sein Thema trotzdem ernst nimmt.
Katalogtexte können einen wirklich in die Irre leiten, während Le pays von Lucien Monot spannend klang, erschien der im gleichen Programm laufende Sensing Bodies von Christoph Oertli eher öde. Genau das Gegenteil ist der Fall. Le pays erzählt von zwei jungen Männern, die auf einem Fährschiff auf dem Genfer See arbeiten. Die Familie des einen ist ursprünglich aus Palästina, die des anderen aus Lateinamerika. Off Dialoge umreissen diese Biographien, während relativ beliebige Bilder des Arbeitsalltags dazu laufen; mühsame 45 Minuten lang. Sensing Bodies zeigt in 48 kurzweiligen Minuten Menschen, die vor sehr aufgeräumter, gestalteter urbanen Kulisse vorbeihuschen, ihres Weges gehen, sich ausruhen, rauchen, immer wieder rauchen in dafür vorgesehenen und von der Umgebung abgeteilten Stellen. Einen ganzen Tageszyklus lang folgt man den Bewegungen, unterlegt hauptsächlich von sehr betonten Originaltönen, die Schritte klacken laut, musikalisch, Blätter rauschen, Stadtgeräusch, eine ganze Symphonie an Umgebungston. Nach ganz kurzer Zeit zieht einen dieser Film hinein ins Schauen und Staunen.
Der Dokumentarfilm des Journalisten und RegisseursDavid Vogel, Shalom Allah behandelt ein Thema, dem selten und wenn, dann selten sachlich, Beachtung geschenkt wird: Islam Konvertiten. Vogel begleitet, befragt, 4 Schweizer, die zum Islam konvertiert sind. Befragt sie nach ihren Motiven, ihren Erfahrungen und muss sich dabei mit seinem eigenen, nicht praktizierten, ja abegelegtem Judentum auseinandersetzen. Der Film ist sowohl kritisch, als auch selbstkritisch, hinterfragt immer wieder in Ich-Form vermeintlich Feststehendes, setzt sich mit den eigenen Zweifeln in Bezug auf das Thema auseinander und lässt dabei seinen Protagonisten allen Platz und wird mit Offenheit belohnt. Die Welt ist eben nicht einfach und auch nicht schwarz-weiss, es ist sowohl als auch und bietet Raum für stetigen Wandel.
Morgen Abend gibt es in Solothurn den Prix de Soleure und den Publikumspreis, soweit war es auf jeden Fall ein erfreuliches, vielschichtiges Festival.
Wer Filme macht, braucht einen langen Atem, fünf Jahre von der Idee zum fertigen Film hat Jonas Schaffter gebraucht. Sein Dokumentarfilm Arada (Dazwischen) ist eine eindrückliche, gesellschaftspolitische Geschichte. Drei Männer, zwei von ihnen in der Schweiz geboren, aber mit türkischen Pässen, wurden nach kleineren Straftaten und nach verbüssen ihrer Haftstrafen aus der Schweiz ausgewiesen. Wenn man sie anhört, sind sie einwandfrei Schweizer, vom Dialekt bis zu ihren Ideen, aber eben mit türkischen Pässen. Und so leben sie in einem Schwebezustand, in einem Land, das sie eher aus den Ferien kennen, denn vom Leben dort, ein Land in das selbst ihre, zuvor in die Schweiz ausgewanderten, Eltern nicht mehr zurückkehren. Videotelephonate und Callcenter Jobs bei Schweizer Firmen halten die Verbindung. Aber es bleibt ein Warten, für zwei auf unbestimmte Zeit, für einen mit einer besseren Prognose zurückzudürfen, da sein Einreiseverbot auf nur 5 Jahre angesetzt wurde. Fünf Jahre allerdings, in denen er seinen kleinen Sohn fast nie sieht und in denen seine Ehe scheitert. Was macht Heimat aus, was macht Zugehörigkeit aus? Fragen, die man sich in einer Welt, die Globalisierung predigt und Trennung praktiziert immer wieder wird fragen müssen. Der Film macht das auf interessante und bedrückende Weise klar. Dass Arada ein Hochschul-Abschlussfilm ist, sieht man ihm an keiner Stelle an.
Mon Cousin Anglais von Karim Syad behandelt eine ähnliche Thematik. Der Cousin des Regisseurs hatte sich als Teenager von Algerien alleine nach London durchgeschlagen, mittlerweile lebt er fast 20 Jahre schon in England und ist doch irgendwie nicht dort zu Hause, allerdings ist er im heimatlichen Algerien auch nur noch fremd. Der Film ist in Kapitel unterteilt, in denen sich das Leben des englischen Cousins wie in Schleifen wiederholt. In England: früh aufstehen, arbeiten in der Fabrik, mit den Kumpels Bier trinken, auf dem Sofa dösen und alles wieder von vorne. Vorbereitung für die Reise nach Algerien: Einkäufe für die Familie, Gepäck wiegen, umpacken, wiegen… In Algerien: Ruhelosigkeit, Ziellosigkeit, auf dem Sofa dösen… Am Ende wird er Algerien zweimal vor den geplanten Ehen wieder verlassen haben, zurück nach England, den Kumpels, den miesen Jobs, dem Sofa. Nicht hier, nicht dort, schwebend. Von den Wölfen direkt ins nächste Kino und zu einer Gruppe Exiliraker und ihrem Treffpunkt, einem Café in London. Das Exil ist in Baghdad in my Shadow von Samir aber eigentlich nur der offensichtliche gemeinsame Nenner, die Verbindung für eine Geschichte, die auf mehreren Zeitebenen spielt. Erinnerungen an Folter unter der Saddam Diktatur vermischen sich mit kulturellen Belangen in Bezug auch auf Sexualität und Selbstbild, Verschiebungen innerhalb und über die Generationen, Fragen nach Identität und Zugehörigkeit, religiöse Auslegungen und Verrat. Und das alles spannend wie ein Krimi, weil wirklich erst am Schluss alle Puzzleteile dieser komplexen Geschichte offen liegen. Die schweizerisch-deutsch-englisch-irakische Koproduktion hat alles um international ein Erfolg zu werden: Spannung, Witz, tolle Schauspieler, intelligente Dramaturgie, gute Kamera. Am Ende des Films herrschte erstmal eine ganze Zeit Stille, bevor der Film seinen verdienten Applaus bekam.
Der heutige Tag hat es deutlich gezeigt: Eintönigkeit kann man dem schweizer Film wirklich nicht vorwerfen.
Halbzeit in Solothurn, thematisch zeigen sich zwei grosse Blöcke so weit, einerseits Familienangelegenheiten, egal ob als Spiel – oder Dokumentarfilm und andererseits Themen, die aktuell politisch bewegen und die Nachrichten beherrschen, auch hier ist die Auseinandersetzung sowohl fiktional als auch nonfiktional.
Mit dem feuchtkalten Nebelwetter breitet sich über der Stadt ein Geruch von warmen Holzfeuern aus, das verwandelt das kleinstädtische Ambiente in etwas ganz und gar Heimeliges. Die Wege quer durchs Städtchen bekommen so ein olfaktorisches Kuschelplus.
Sonntagmorgen, 9 Uhr Vorstellung, die Menschen drängeln sich in den Kinosaal oder stehen geduldig an der Kasse für die wenigen Restkarten; ins Kino gehen bleibt beliebt.
Verantwortung
Das letzte Buch von Anne-Marie Haller und Tanja Trentmann erzählt vom Leben der Autorin Katharina Zimmermann. Als Pfarrersfrau folgt sie ihrem Mann mit drei kleinen Kindern in den 60er Jahren nach Indonesien. Eine Zeit der politischen Umbrüche im Land und eine immense Herausforderung für sie. Sich selbst beschreibt Zimmermann nicht als Kämpferin, wenn man aber den Geschichten und Wendungen in ihrem Leben zuhört, dann kann man nicht anders, als sie genau dafür zu halten, eine Kämpferin. Neben allem, was sie in Indonesien für Aufgaben übernommen hat, fing sie dann auch an zu schreiben, Kinderbücher zunächst, dann Bücher für Erwachsene, und bis heute, mit über 80, schreibt sie weiter. Das titelgebende letzte Buch, das im Film ein wenig wie ein roter Faden auftaucht, ist dann doch nicht wirklich das letzte. So spannend diese Lebensgeschichte ist, gegen Ende weiss der Film nicht mehr so recht wohin, zu viel wird im letzten Drittel noch verhandelt, Themen, die unvermittelt auftauchen und den Film damit leider holprig werden lassen.
900 Zuschauer fasst die Reithalle und um 11 Uhr ist sie für die zweite Vorführung vonPierre Monnards Platzspitzbaby restlos ausverkauft. Und von Anfang an ist man gebannt, hauptsächlich, weil die junge Hauptdarstellerin, Luna Mwezi, einfach unglaublich ist. Wo lernen Kinder das? Wie schafft sie diese Bandbreite an Emotionen glaubhaft zu spielen, von kindlich verspielt bis ins Mark erschüttert und verzweifelt? Sie spielt die Tochter einer Drogensüchtigen Mutter, die ihr immer und immer wieder verspricht mit den Drogen aufzuhören, aber diese Versprechen noch häufiger bricht. Und so kümmert sich das Kind um die Mutter, verteidigt, sorgt sich, stiehlt für die Mutter und besorgt ihr die Drogen. Ein Teufelskreis, der nicht gut gehen kann. Die Geschichte ist gut, wenn auch in der Konstellation nicht neu, aber wirklich sensationell wird sie aufgrund ihrer kleinen Hauptdarstellerin, die sich von der Leinwand direkt in die Herzen des Publikums spielt. Am Ende hörte man nicht nur aufgrund grassierender Erkältungen eindeutiges Schniefen.
Verspielt und surreal ist: Sekuritas von Carmen Stadler. Ein grosses Bürogebäude als Hauptdarsteller, es ächzt und knurrt, klickt und zirpt, Lichter, Schatten, lange Gänge und dazwischen Nachtgestalten. Die Hauptfigur, eine Frau vom Sicherheitsdienst, sie geistert durch die leeren Gänge, schmiegt sich an Heizkessel, scheint mit dem Bau verschmelzen zu wollen. Ein irakischer Putzmann taucht auf, die Wege kreuzen sich in einer sprachlosen Übereinstimmung, als Statisten des Baus. Aber auch der Direktor der Firma, die pleite gemacht hat, ein Koch, der im Keller versucht seinen verlorenen Geschmackssinn wiederzufinden, eine Sekretärin, all diese Gestalten treffen aufeinander wie in einem Tanz, angezogen und im nächsten Moment wieder alleine weiter schwebend, umgeben von all den merkwürdigen Tönen und Lichtern. Wunderbar gedrehte Bilder, eigenwillige Komposition der Figuren, verspielt und surreal und: sehr schön.
Grosses Kostümkino ist Insoumises von Laura Cazador und Frenando Perez. Kuba im 19. Jahrhundert, ein Schweizer Arzt, zierlich und mit revolutionären Meinungen und Methoden spaltet die lokalen Honoratioren, die einen bewundern ihn, weil er heilt, die anderen verabscheuen ihn, weil er ohne Ansehen von Rang und Stand alle Menschen, also auch Sklaven behandelt. Aber in Wahrheit ist alles viel verwickelter, unter der Verkleidung des Arztes steckt eine Frau. Früher oder später muss so etwas aufliegen, da Enrique Faber in der Zwischenzeit aber auch noch geheiratet hat kocht die Wut im Ort umso höher und der Prozess wird auch zu einer Frage der Ehre derer, die ihn bislang unterstützt haben. Sehr dicht und atmosphärisch gedreht, toll gespielt und spannend.
Der Wunsch nach Vielsprachigkeit erfüllt sich hier leicht, schweizer Filme kommen nicht nur in den 4 Landessprachen vor, sondern auch, wie in Insoumises, auf Spanisch, das sollte beim Export in andere Länder doch hilfreich sein.
Mit dem Wochenende werden die Vorstellungen noch voller und der weiterhin über Solothurn klebende zähe Nebel tut ein weiteres, um die Säle zu füllen.
Familien –Therapien
Ein ganz normal verrückte Familie oder überambitionierter Familienwahnsinn? Wir Eltern von Eric Bergkraut, lässt die 20jährigen Zwillinge, ihre Eltern und den Nachzügler Bruder aufeinander krachen. Im Haushalt der Familie herrscht das pure Chaos, die Eltern schaffen nicht konsequent ihre Positionen durchzuhalten, die beiden grossen Söhne machen es sich zur – einzigen – Aufgabe dem Chaos täglich noch eins draufzusetzen, dazwischen der Kleine, der fast als einziger bei Sinnen scheint. Was zu Beginn des Films noch relativ lustig ist, wird zunehmend zäh, die Problematik dreht sich im Kreis, da hilft es auch nicht, dass die Spielhandlung von, in der Szenerie sitzenden, Experten kommentiert wird. Die 50+ Eltern sind verankert in ihrer Welt, in der alles zivilisiert zu diskutieren ist, Konsens ist das erstrebenswerte Ziel, die Söhne pampen und trotzen aus Prinzip, oder auch aus Opposition und fordern gleichzeitig ständig mehr Zuwendung, mehr Hingabe, mehr Anleitung. Alles schön und gut, alles vermutlich Alltag in vielen Familien, aber der Mangel an Entwicklung in der Geschichte, die Wiederholung des immer Gleichen werden öde, dafür fehlt es dem Schluss deutlich an Unterfutter aus der Geschichte heraus und erscheint so eher unmotiviert. Das Publikum, vielleicht aus betroffenen Eltern, hatte allerdings Spass.
Wirklich Spass hat das Animationsprogramm gemacht: The Lonely Orbit von Frederic Siegel und Benjamin Morard Newspaper News von Sophie Laskar-Haller Kids von Michael Frei Le dernier jour d’automne von Marjolaine Perretent Schweinerei von Livia Werren, Stephanie Thalamnn, Vera Falkenberg Photons von Martyna Kolienec Lah gah von Cécile Brun Fulesee von Christina Benz Black Icicles von Franziska Meyer Average Happiness von Maja Gehrig Warum Schnecken keine Beine haben von Aline Höchli
und eigentlich sind absolut alle phantastisch. Die Filmemacher finden eine kreative, originelle Sprache, behandeln Themen die heute die Welt bewegen: Umwelt, Nachrichten,Tierrechte, das Miteinander, aber auch so universelle Themen wie Zusammenhalt und Freundschaft. Sie sind mit Wachsmalstiften gezeichnet, wie der fabelhafte Newspaper News, oder ähneln eher einer Sci-Fi Grafic-Novel der 70er Jahre wie Schweinerei, Le dernier jour d’automne bezaubert mit seinen Zeichnungen und seinem Witz und der Stop-Motion Plastilin Film Black Icicles ist sensationell komisch. Und doch, bei allem Witz und Spass, regen alle Filme auch zum Nachdenken an.
Das Publikum der ausverkauften Vorstellungen durfte über den Zuschauerpreis dieser Kategorie entscheiden – das ist wirklich schwierig!
Nochmal ein Familienthema: der Dokumentarfilm Madame von Stéphane Riethauser. Der Film bedient sich der Familien Filme, zunächst vom Vater gedreht und ab seiner frühen Teenagerzeit auch vom Regisseur selbst. Vordergründig ist es das Portrait seiner Grossmutter, einer Frau, die, als das alles andere als üblich war, allein erziehende Mutter zweier Kinder unterschiedlicher Väter war, Geschäftsfrau, Künstlerin, Freigeist; gleichzeitig ist es auch ein Bild auf den Wandel der Sicht auf Männlichkeit, Weiblichkeit, sexuelle Selbstbestimmung und Selbstdefinition. Und so läuft die Geschichte, die erzählt wird parallel, da die Grossmutter und hier der Enkel, ihre liebevolle Beziehung zueinander und das harte Ringen, das der Regisseur durchlebt, bis er endlich zu seiner Homosexualität stehen kann. Ein sehr starker Film, der gleichzeitig sehr persönlich ist und doch ein Gesamtbild seiner Zeit zeichnet. Die Zuschauer waren lauthals begeister.
Und auch der letzte Film für heute verarbeitet Familiengeschichte(n).
In Who’s afraid of Alice Miller von Daniel Howald versucht ein Sohn, Jahre nach dem Tod der Mutter, herauszufinden was sie bewogen haben mag, die Prügel und Misshandlungen durch den Vater nicht nur zuzulassen, sondern sich auch selber gegen den Sohn, als Inkarnation des Vaters zu wenden. Pikant dabei: Alice Miller war eine bekannte und hochgeschätzte Psychologin, eine Verfechterin der Abschaffung von straffreiem Prügeln als Erziehungsmassnahme, sie schritt vehement gegen Gewalt gegen Kinder ein und suchte die Gründe in der Biographie prügelnder Eltern. Der erwachsene Sohn, selber Psychologe, versucht auf einer langen Reise hinter die Biographie seiner Eltern zu kommen, und findet mehr Fragen als Antworten. Alice Miller, ursprünglich aus Polen, überlebte als Jüdin den 2. Weltkrieg in Polen, die Traumata von damals sind sicher ein Grund, der völlig undurchsichtige Ursprung des, ebenfalls aus Polen stammenden, Vaters bleibt dagegen im Dunklen. Das alles ist interessant, beunruhigend auch irgendwie, aber der Film verliert etwas seine Linie, als Zuschauer verliert man irgendwann den Überblick über die diversen möglichen oder tatsächlichen Verstrickungen. Und je mehr Schichten aufgedeckt werden, um so mehr scheint der Film Alice Millers Thesen zu bestätigen und um so weniger können sie dem Sohn akzeptable Gründe für die an ihm verübten Misshandlungen liefern. Ob die Recherche für ihn also wirklich einen Abschluss bringt, scheint nicht sicher, auch wenn er das am Schluss vorsichtig so formuliert.
Die Familiengeschichten des heutigen Festivaltags kamen beim Publikum sehr gut an. Madame ist für den Publikumspreis wählbar und Who’s afraid of Alice Miller ist für den Prix de Soleure nominiert.
Jeden Morgen das gleiche Spektakel: ab 8:30 kann, nein könnte man für den Folgetag Filme reservieren. Aber zwischen schwachem Hotelnetz und Schwäche im Buchungssystem verbringt man leicht 40 Minuten, um für vier Filme Plätze zu reservieren. Bei jedem weiteren erfolglosen Versuch schwindet die Anzahl verfügbarer Sitzplätze, sprich: irgendwer hat es zwischenzeitlich geschafft zu reservieren! Freitagmorgen im Frühstücksraum: 3 Personen, die zwischen Croissants und Kaffee fluchend auf ihren Mobiltelephone oder Laptops stieren. Da ist eindeutig Verbesserungsbedarf.
Dafür ist sozusagen perfektes Kinowetter, der Nebel hängt tief über der Stadt und der Aare, keine Ausrede also, Kino ist die beste Beschäftigung.
Heimat fühlen
Die chinesische TV-Reporterin Yu Hao findet auf der Suche nach dem Ort, wo sie sich zugehörig fühlen kann, eine Postkarten-Schweiz. Alpenpanorama, friedlich grasende Kühe, Kostüme, Trachten und Traditionen. Und obwohl das alles auf eine moderne Chinesin befremdlich erscheinen sollte, findet sie genau dort ihre innere und äussere Heimat. Plötzlich Heimweh ist sehr persönlich, fast privat gestaltet, eine Art Tagebuch der Suche, bietet immer wieder kurze witzige, schräge Einblicke und Einsichten, über die Gesamtdauer fehlt dem Film aber der Pepp, den man anhand der Konstellation erwarten möchte. Das Publikum in der ausverkauften Halle war es trotzdem langen Applaus wert.
Die Filmtage habe immer wieder Programme, in denen sie zwei Filme, lange Kurz- oder mittlere Langfilme, zusammen zeigen. So bekommt man Filme zu sehen, deren Länge sich nicht an kommerzielle Maßstäbe halten, sondern die Länge haben, die für die Geschichte am besten ist. Und der Zuschauer kommt in den Genuss in einer Vorstellung verschiedene künstlerische Ausdrucksformen zu sehen. Im Doppelprogramm also: der Kurzspielfilm To the sea und der mittellange Dokumentarfilm No promised Land.
Ein wuchtiges Ereignis ist Julian M. Grünthals To the sea. Die wilde Küste Galiziens, eine Frau allein auf einem Fischerboot. In ihrem Blick eine wilde Entschlossenheit. Stück für Stück und ohne jeglichen Dialog entdeckt man etwas wahnhaftes in dieser Frau. Genaues wird sich auch am Schluss nicht geklärt haben, aber die Wucht der Bilder, das starke Spiel der Darstellerin und die phantastische Kamera reichen völlig aus, um Kinofreude zu erzeugen. Rassismus macht vor keinem Land Halt. Und als Anfang der 1980er Jahre die UNO befand, dass der Zionismus rassistisch sei, entschied sich der Staat Israel äthiopische Jude, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, ins Land zu holen. Bis heute sind diese schwarzen, jüdischen Israelis aber marginalisiert, ausgegrenzt und erleben immer wieder Polizeigewalt. Die jetzige Generation versucht sich mit demokratischen Mitteln diesem Zustand zu widersetzen. Diesen mühevollen Kampf dokumentiert Raphael Bondys Film No Promised Land. Ein Film der nachdenklich macht.
In Paul Nizon- Der Nagel im Kopf von Chritoph Kühn erzählt der mittlerweile 90jährige Nizon von und aus seinem Leben. Er erzählt mit viel Witz, mit einer ordentlichen Portion Schalk, und das, obwohl sein Leben und noch mehr sein Schreiben eher poetische Düsternis beinhalten. Neben den rein erzählten Parts mit Nizon am Schreibtisch, mischt der Film alte Dokumentaraufnahmen und Spaziergänge durch Paris, Nizons Wahlheimat. Zunehmend erkennt man wie das, was wie ein reiner Bildteppich aussieht, inszenierte, zu Nizons Texten, Büchern und Erinnerungen, gestaltete Passagen sind. Das ist interessant, aber gegen Ende wirkt es dann etwas zu dick aufgetragen. Was unbestritten bleibt, ist das Porträt eines faszinierenden Schriftstellers.
Ganz amerikanisch kommt Inherit the Viper des Genfer Regisseurs Anthony Jerjen daher. Ein Kaff in der amerikanischen Provinz, gesichtslos, heruntergekommen, nichts los und auch nichts zu tun. Zwei Geschwister verdienen aber recht gut mit dem Dealen von Schmerztabletten, ein Familienunternehmen, bei dem die Schwester anscheinend alles im Griff hat und den „Betrieb“ lenkt. Alles läuft scheinbar perfekt, bis sich der jüngste Bruder in falsch verstandener Verehrung, mit ins Geschäft mischt. Der Rest ist ein sehr düsteres Drama ohne Gewinner. Klassisch gemachter Film mit guter Kamera und einem knurrenden Bruce Dern in einer Gastrolle.
Der Nebel ist den ganzen Tag nicht gewichen, beste Bedingungen also noch ein Nocturne genanntes Program anzuschauen. Im Katalog klingen alle Kurzfilme schräg, grell, lustig und wild, die Realität ist dann leider eher ernüchternd. In Dragan’s Pack von Riccardo Bernasconi & Francesca Reverdito stellt sich ein Chihuaha Werwolf seiner Vergangenheit. Der Film hat einige witzige Einfälle, spielt mit genretypischen Versatzstücken, zerfällt aber dann doch bald in amateurhafte Albernheiten. Snowciety von Kris Lüdi kontrastiert in schnellen Bildfolgen das St Moritz der Reichen und Schönen mit dem der lokalen Snowboard Jugend, zwei Welten auf engem Raum; kurzweilig. Die Ankündigung verspricht sprechende Vulven, was Blue Vulvettes – Le sexe féminin existe von Camille de Pietro aber bietet sind Gespräche mit Vulven über Menstruation, Hexerei, Sex. Dass dabei jeweils eine Vulva umrahmt von einem Plüschvorhang quasi das Publikum „anspricht“ ist noch der beste Einfall, aber trotzdem zu wenig. Le renard et l’oiselle von Frédéric Guillaume und Samuel Guillaume ist ein sehr hübscher Stopmotion Film von einem Fuchs, der ein Vögelchen grosszieht. Ein sehr schön gemachtes Märchen.
Und schliesslich Safe tour for a Jew von Amos Angeles und Velibor Barisic, eine etwas groteske Geschichte von einem jungen Mann, der in Berlin mit seinem Esel Touren für jüdische Besucher macht, um zu zeigen, wie sicher die Stadt ist. Teilweise witzig.
Ein vernebelter Festivaltag mit vielen Eindrücken, die meisten erfreulich.