#Diagonale Grosse Gefühle zum Start

 

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Vorarbeit

 

Die Festivalarbeit beginnt noch vor der Anreise nach Graz, um 9:30 wird die Reservierungsseite freigeschaltet. Also schnell für morgen Tickets reservieren. Seit der Pandemie besteht keine freie Platzwahl mehr, wieso allerdings nur einige Plätze zur Auswahl erscheinen, ist etwas undurchsichtig. Und ohne Saalplan ist die Reservierung für den ersten Festivaltag ein Ratespiel: Welches war doch gleich die richtige Reihe? Welcher Platz ist aussen? Nun gut, spätestens übermorgen wird sich das wieder eingependelt haben. Die ersten vier Vorstellungen sind auf jeden Fall gebucht.

 

Grosse Gefühle

 

Milde 20 Grad am Eröffnungstag der Diagonale in Graz.
Die Helmut List Halle ist voll wie lange nicht mehr und mit etwas Verspätung gibt es den ersten Eröffnungsfilm des Abends: NYC RGB von Viktoria Schmid.
Sieben kurzweilige Minuten New York: analog und in Dreifachbelichtung, mit schrägen Farbakzenten und interessanter Tonbearbeitung. Eine Postkarte ans Publikum, eine Aufforderung zu träumen, ein schöner Einstieg.
Erst danach treten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber das letzte Mal vors Publikum, um die Diagonale zu eröffnen. Schon als sie auf die Bühne kommen, ist der Applaus mächtig, hindert sie anzufangen. Auch in diesem Jahr verbinden sie in ihre Rede Kunstgeschehen und Politik. Sowohl Weltpolitik als auch österreichische Lokalpolitik werden dabei mit kritischen Seitenhieben bedacht. Unterbrochen werden sie immer wieder von wildem Klatschen. Die Intendanten werden dann doch langsam etwas verlegen, ob dieser mächtigen emotionalen Welle, die sie zum Abschied anschwappt.
Auch die Vergabe des Schauspielpreises an Margarethe Tiesel wird von grossem Beifall und kleinen Freudentränen begleitet.

 

 

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Vom Warten

 

Spät, aber dann doch, die Österreich-Premiere von Das Tier im Dschungel von Patric Chiha.
Der Film beginnt mit grobkörnigen 4:3 Aufnahmen, ein Fest, irgendwo, Menschen tanzen, feiern, unspezifisch, eher ein Urlaubsfilm. Dann ein Sprung, Menschen tanzen, diesmal in einem Club, ausgelassen, wild, sexy. Im Off, eine Erzählerin, sie spricht von May und John, die sich 1979 treffen. Ein Paar, das den ganzen Film über kein Paar sein wird. Zwei Menschen, die im Warten verharren, während draussen die Jahre vergehen. Aber für May und John, die sich nur in diesem Club sehen und das auch nur samstags, steht die Zeit in einer Schleife. Für den Zuschauer bricht die Zeit immer wieder mittels kurzer Sätze, oder mittels kurzer Fernseh-Ausschnitte durch, schafft Zäsuren im immer Gleichen. Jahrzehnte verstreichen, andere Tänzer, andere Musik, aber das Warten, das die Beiden verbindet, wird nicht belohnt. Sie warten auf das Grosse, das eintreffen wird, irgendwann, und das Johns Welt komplett verändern wird. Mit May wartet auch der Zuschauer, und wie bei May schleicht sich doch bald die Erkenntnis ein, dass das, worauf John wartet, schon längst da ist, dass er sein und ihr Leben sinnlos vertrödelt mit dem endlosen Warten. Und das ist dann auch das Problem des Films, es ist so offensichtlich, auf was die Geschichte hinaus will, dass es dann viel zu lange dauert, dort anzukommen. Der Film halt viel Interessantes, zuallererst die Kamera, die Entfesselung und Statik spannend ins Bild bringt, und der Schnitt, der einem oft kontrapunktischen Rhythmus folgt, aber trotzdem: zu lang.

Gegen halb elf schiebt sich das Premierenpublikum dann hungrig und durstig ins Foyer, und wie im Film gibt’s dann: Party, das Warten hat ein Ende.

 

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#Diagonale 2022 Mischformen

 

 

 

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April ist doch noch kein Sommer

 

 

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Kalt ist es geworden über Nacht und nass. So werden dann die angenehmen Pausen zwischen zwei Vorstellungen plötzlich unangenehm lang. Kein Sitzen in der Sonne, sondern die Suche nach Innenräumen mit heissen Getränken.

 

 

 

 

 

Arbeitswelt

 

Eine Institution ist 100 Jahre alt. Constantin Wulff zeigt, wie diese funktioniert in:
Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien.
Der Film kommt komplett ohne Kommentar aus, dennoch wird fast die ganze Zeit geredet. Über die zwei Stunden Länge wird es dann irgendwann zu viel.
Die Funktion der Arbeiterkammer als einerseits Beratungs- und Unterstützungsstelle für alle arbeitsrechtlichen Belange, als auch politische Institution nach Aussen, ist nicht nur wichtig, sondern auch löblich. Aber trotz der ruhigen Kamera, trotz der netten, motivierten und vielsprachigen Mitarbeiter, man wird auf die Dauer müde, dem allen zuzuhören. Zuzuhören deshalb, weil die Bilder sich nicht so wahnsinnig verändern. Beratungen und Teambesprechungen, Pressekonferenzen und Auftritte im Parlament sehen sich irgendwann doch alle sehr ähnlich. Besonders lustig wird es, wenn mittlerweile überholte Ansichten zum Thema Pandemiedauer zu hören sind, oder mittlerweile abgesetzte Politiker einen Kurzauftritt haben. Aber gut, diese Freude war wohl nicht wirklich im Konzept des Films geplant. Der Film wirkt insgesamt mehr gut gemeint als gut, macht über seine Länge mehr Werbung für die Institution Arbeiterkammer, als man sich im Kino anschauen möchte.

 

 

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Assoziative Innenschauen

 

 

Acht Kurzfilme der Sektion Innovativ- oder auch Experimentalkino.
Die Filme umfassen von 16 mm Arbeiten bis Animation ein breites handwerkliches Spektrum.

KatharinaViktoria 2(021) von Viktoria Schmid lässt ihr Gesicht und das ihrer Schwester in 16 mm Einzelbildern drehen, alterniert sie rhythmisch, um zu sehen, zu zeigen, wie viel Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Kurzweilig – 1Minute – und schön und mit dem satten Projektorknattern im Rücken.

Für Under the microscope von Michaele Grill muss man den Katalogtext gelesen haben. Ohne den Text versteht man nicht, dass es sich bei den pulsierenden, wabernden Formen um Ausschnitte aus Wissenschaftsfilmen der 1920er Jahre handelt. Unterlegt ist das Ganze mit elektronischen Geräuschen.

Auf der Suche nach dem Ich, oder zumindest der inneren Stimme ist Ganaël Dumreicher in Otoportait. Er filmt zunächst sich, steil von oben, mit einer Handykamera. Man beobachtet, wie er etwas versucht zu schlucken. Einen Schlauch? Eine Kamera? Ein Mikrophon? Dann kehrt sich das Innere nach aussen, und Bilder einer Magenspiegelung, mit einer Tonkollage aus Würgen und Schlucken unterlegt. Innen, aussen, innere Stimme, Ich.
Ein bisschen gruselig, irgendwie.

Sehr schön ist In the upper room von Alexander Gratzer. Der Animationsfilm zeigt eine Generationsliebesgeschichte. Der Enkel wird erwachsen, während er sich vom geliebten Grossvater verabschieden muss. Schön, schlicht, berührend.

Und wieder rattert der Projektor von hinten für: Das Rad von Friedl vom Gröller. Kreisbewegung in Form von radschlagenden Mädchen.

Nach 7 Jahren sieht Sie möchte dass er geht, sie möchte dass er bleibt von Viki Kühn erstmals die Leinwand. Davor lag der Film in einer 80 Minuten Fassung in der Schublade, am Ende sind 13 Minuten geblieben, die assoziativ von einer Beziehung handeln.

Auch experimentelle Kurzfilme können sich sehr direkt mit pandemischen Massnahmen befassen. Zwei lustige Minuten lang zeigt Friedl vom Gröller in 2020 Zähne: beim Zahnarzt, hinter runter gezogenen Schutzmasken, in Hundeschnauzen. Zähne, die in letzter Zeit tatsächlich selten zu sehen waren.

Noch eine assoziative Reise, diesmal gerichtet an ein noch nicht geborenes Kind.
Die Welt ist an ihren Rändern Blau von Iris Blauensteiner und Christine Moderbacher, mischt Archivvideos, Babyultraschall und Selbstgedrehtes, das eigentlich ein anderer Film hätte werden sollen. Der Text gibt den disparaten Bildern einen Rahmen, macht den Gedankenfluss dadurch allgemein verständlich.

 

Multiplexen

 

Samstag Nachmittag im Multiplex. Es piept, fiept und klirrt. Das Foyer des Kinos ist voll mit Kindern an elektronischen Maschinen. Dazwischen Diagonalezuschauer und Kinozuschauer auf dem Weg zum aktuellen Blockbuster, es riecht nach Popcorn und Nachos.

 

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Liebe geht

 

Para:Dies von Elena Wolff zeigt auf witzige Art, was passiert, wenn Selbstdarstellung wichtiger ist als Treue oder Loyalität. Die Liebe zwischen zwei jungen Frauen zerlegt sich zusehend vor der Kamera für einen fiktiven Dokumentarfilm. Anfangs scheinen sie noch ganz romantisch von ihren Anfängen zu berichten, aber schon da schleichen sich böse Zwischentöne ein. Die Kamerafrau dient zusehends mehr als Reflexionsfläche, als Spiegel für die eigenen Selbstdarstellungen. Im Verlauf des Films wird sie mehr und mehr einbezogen, angesprochen, bleibt aber bis kurz vor Schluss unsichtbar und unhörbar. Als sie dann mit vor ihre Kamera tritt, sich mit ins Bild begibt, schnappen alle Fallen, die vorher von der einen oder der anderen ausgelegt wurden, auf einen Schlag zu. Treue, Loyalität, Liebe, alles egal.

 

 

Grenzen

 

Krai von Aleksey Lapin ist laut Programm ein Dokumentarfilm, dass das nicht so ganz stimmen kann, ahnt man schon nach der Kurzbeschreibung. Hier werden Grenzen ausgelotet, überschritten und umgeformt. Das Ergebnis ist originell.

Das Drehteam kommt ins kleine russische Dorf, aus dem ein Teil der Familie des Regisseurs stammt, vermeintlich, um dort einen Historienfilm zu drehen. Aber recht schnell mischen sich in das Casting mit den Dorfbewohnern auch bizarre Geschichten von verschwunden Pilzsammlern, aus dem Boden austretendem Radon, Maschinen, die nicht mehr laufen, und weitere Skurrilitäten.
Grenzen liefert auch das Bild, in schwarz-weiss und in 4:3 Format gedreht. Innerhalb dieses engeren Rahmens wird durch die Kadrierung das Bild zusätzlich begrenzt, es entstehen guckkastenhafte Räume von eigenwilliger Schönheit.
Die perfekte Szenerie für die absurde Geschichte.
Gefragt, warum der Film in der Kategorie Dokumentation läuft, liefert der Regisseur die charmante Antwort: Die Finanzierung war für einen Dokumentarfilm.
An sich wären alle diese Einteilungen in Fiktion-, Dokumentar- oder Experimentalfilm gar nicht nötig, aber das hiesse im Fall der Diagonale, das System der Preise neu zu regeln.
So wird es dieser Film vermutlich schwer haben in seiner Kategorie einen Preis zu bekommen, aber wer weiss.

 

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Das war der letzte Kinoabend, morgen werden die Preise dann vergeben, Prognose wage ich lieber nicht.