#Diagonale 2024 Der schöne Schein

 

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Der schöne Schein

 

Der Samstag in Graz zeigt sich sommerlich und selbst Strassenmusiker sind hier filmaffin. Oder zumindest der eine, der mit Akkordeon Filmmusiken spielt, von Dschungelbuch bis Star Wars, sehr hübsch macht er das.

 

Übernahmen

 

Der Tag startet mit einem Kurzspielfilmprogramm, Filme, in denen vieles anders ist, als es scheint, und die alle auf die eine oder andere Art subtile Grausamkeit verbreiten.
Ausgenommen davon vielleicht Gana – Neon Gold von Ganaël Dumreicher. Der Musikclip mit Dumreicher als Sänger, Performer, Regisseur und Produzent ist ziemlich schräg. Die etwas rohe Machart und der Stil haben einen 90-er Jahre Charme. Es blitzt Gold im Mund, und das Essen auf überbordend vollen Tischen ist zum Spielen da. Vielleicht hat das auch etwas subtil Grausames.

Söder von Raoul Bruck fängt als Webseiten-Kollage an, entwickelt sich aber rasch zu einer bösen Geschichte. Eine Frau engagiert einen Mann, der ihren Ehemann töten soll. Der Profikiller in Spe scheint aber eher in seinen Träumen und im Internet ein harter Kerl zu sein. Der Auftrag wandelt sich im Verlauf des Films dramatisch. Gewitzt gemacht, mit kleinen, scharfen Wendungen.

Besser so von Lotta Schweikert erzählt von Nora, einer jungen Frau, die ihr Leben und dessen Aussicht auf Erfolg mithilfe von Listen und Tabellen bewertet. Egal, ob ihre Versuche Gurken einzulegen, oder ihre Aktionen als Klimaaktivistin, alles wird in Zahlen gefasst und durchgerechnet. Dumm nur, dass das Ergebnis für sie ergibt „das geht sich nicht aus“, heisst: Sie wird es zu nichts bringen im Leben. Konsequenterweise fährt sie los, um sich das Leben zu nehmen. Absurderweise hat sie auf dieser Fahrt lauter schöne, fröhliche Erlebnisse, aber Nora hat es ausgerechnet: Es geht sich nicht aus.

Transfrauen, die sich als Männer ausgeben, um einen Überfall zu begehen, das ist die Kurzfassung von Isa Schieches  Die Räuberinnen. Aber es geht nicht um den Überfall, sondern um das, was die Figuren durchleben, auf sich nehmen, um diese zeitweilige Rückverwandlung zu schaffen. Auch, oder gerade, weil man nie erfährt, worum es in dem Überfall geht, ist das eine bewegende Metamorphose.

Fast noch radikaler ist die Verwandlung in Strangers Like Us von Felix Krisai und Pipi Fröstl. Ein Paar lädt ein Paar ein, man kennt sich nicht gut, aber der Abend verläuft erstmal freundlich. Szene für Szene verschieben sich die Rollen, die Perspektiven, wer wohnt in dem Haus, wer ist zu Besuch? Mit jedem Schnitt verschiebt sich die Sicherheit, zu wissen, wer was ist. Und gerade wenn man glaubt zu verstehen, dass der Film sich einmal im Kreis gedreht hat, erkennt man, dass es sich um eine Spirale handelt.

 

 

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Nach Hause

 

Der Photograph und Filmemacher dreht seinen Freund und Photograph, der mit 53 Jahren zurück zu seiner Mutter und in sein Kinderzimmer zieht. Die guten Jahre von Reiner Riedler hat vorab sehr viel Lorbeeren bekommen, entsprechend voll auch der Kinosaal. Langsam erfährt man in den Gesprächen, die mit der Kamera beobachtet werden, sowohl von der beginnenden Demenz der Mutter als auch von den Depressionen des Sohnes. Ein Bilderbogen der Familie öffnet sich, Erinnerungen an die Kindheit, Familienreisen, aber auch die photographische Arbeit des Sohnes. Manche Sequenzen sind wirklich sehr schön und auch aussergewöhnlich gestaltet, oft sind sie aber eher zweckmässig, wenn auch durchaus gut.
Viel mehr als die Protagonisten berührt das Haus, in dem die Zeit nicht nur konserviert ist, sondern es so etwas wie Zeitschichten gibt. Das Kinderzimmer ist beim Einzug leer, aber es hängen noch alle Poster an den Wänden, die Kellerräume sehen aus wie der Wunschtraum eines Archäologen und selbst im Garten gibt es heimliche Zeitberge in Form alter Waschmaschinen oder unbenutzter Möbel. Dennoch ist es mutig von Mutter und Sohn, sich so vor der Kamera und dem unbekannten Publikum zu entblössen.

 

Verspielt

 

Noch ein Kurzspielfilmprogramm, diesmal mit sehr verspielt-versponnenen Filmen. In Im Traum sind alle Quallen feucht von Marie Luise Lehner treffen unterschiedlichste Menschen in einer Sauna aufeinander. Aber nicht alle kennen sich aus mit den Saunaregeln. Auch das Exponieren des eigenen Körpers scheint nicht allen angenehm. Ein fast tänzerischer Traum von Wollen und Wünschen im exotischen Ambiente einer wunderschönen Badeanstalt.

Worum es in Ich hab dich tanzen sehn von Sarah Pech geht, erschliesst sich nicht wirklich. Ein Mädchen läuft in der Dämmerung und in der Nacht durch einen Ort, scheint Menschen hinter ihren beleuchteten Fenstern zu beobachten, hackt Holz, läuft weiter. Warum? Auch der Katalogtext hilft nicht wirklich weiter.

Ein Teil von mir von Vivian Bausch fängt ganz friedlich und sanft an. Eine Geburtstagsfeier, die 16-Jährige bekommt einen Kuchen, aber immer dabei, der Freund der Mutter mit seiner Videokamera. Jahre später, zum 50. Geburtstag der Mutter, bricht das Trauma der Tochter endgültig hervor. Missbrauch wird angedeutet, Verdrängung und Empathiemangel. Trotzdem gibt es am Ende eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter. Der Film ist gerade in seinen Auslassungen sehr stark und bedrückend.

Kinderfilm von Total Refusal ist auch beim zweiten Mal sehen einfach toll. In und aus der Computerspielwelt des GTA V zaubert das Künstlerkollektiv eine eigene Geschichte. Etwas fehlt in der Welt, aber Edgar in seinem Auto kommt nicht drauf, was das sein mag, selbst als er in den leeren Schulbus zusteigt nicht. Versponnen, kreativ und sehr lustig.

ZINN – Das Kapital von Leonie Bramberger ist ein animiertes Musikvideo. Sehr schön, aber eigentlich möchte man es nochmal sehen, um wirklich sehen zu können.

 

 

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Familienbande

 

Wer sich für Film interessiert, für den sind G.W. Pabst und seine ikonischen Filme alles andere als unbekannt. Viel weniger bekannt ist Pabst Frau, Trude. Dabei spielte sie in einem seiner Filme eine kleine Nebenrolle und schrieb zu einem anderen das Drehbuch. Pandoras Vermächtnis von Angela Christlieb schliesst diese Wissenslücke und öffnet den Blick nicht nur auf die Ehefrau des Regisseurs, sondern auch auf seine Familie. In assoziativen Erzählbögen, untermalt von Trude Pabst Briefen und Traumtagebüchern, verwebt der Film Geschichte und Privates mit Filmausschnitten und zeichnet so ein Familienbild, das aus den 20-er Jahren bis ins Heute reicht. Trude, die Frau an G.Ws Seite, die Grossmutter, der Krieg, aber auch das Leben der Enkel, alles verbindet sich und findet Reflexe in Pabst Filmen.

 

#Diagonale 2022 Mischformen

 

 

 

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April ist doch noch kein Sommer

 

 

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Kalt ist es geworden über Nacht und nass. So werden dann die angenehmen Pausen zwischen zwei Vorstellungen plötzlich unangenehm lang. Kein Sitzen in der Sonne, sondern die Suche nach Innenräumen mit heissen Getränken.

 

 

 

 

 

Arbeitswelt

 

Eine Institution ist 100 Jahre alt. Constantin Wulff zeigt, wie diese funktioniert in:
Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien.
Der Film kommt komplett ohne Kommentar aus, dennoch wird fast die ganze Zeit geredet. Über die zwei Stunden Länge wird es dann irgendwann zu viel.
Die Funktion der Arbeiterkammer als einerseits Beratungs- und Unterstützungsstelle für alle arbeitsrechtlichen Belange, als auch politische Institution nach Aussen, ist nicht nur wichtig, sondern auch löblich. Aber trotz der ruhigen Kamera, trotz der netten, motivierten und vielsprachigen Mitarbeiter, man wird auf die Dauer müde, dem allen zuzuhören. Zuzuhören deshalb, weil die Bilder sich nicht so wahnsinnig verändern. Beratungen und Teambesprechungen, Pressekonferenzen und Auftritte im Parlament sehen sich irgendwann doch alle sehr ähnlich. Besonders lustig wird es, wenn mittlerweile überholte Ansichten zum Thema Pandemiedauer zu hören sind, oder mittlerweile abgesetzte Politiker einen Kurzauftritt haben. Aber gut, diese Freude war wohl nicht wirklich im Konzept des Films geplant. Der Film wirkt insgesamt mehr gut gemeint als gut, macht über seine Länge mehr Werbung für die Institution Arbeiterkammer, als man sich im Kino anschauen möchte.

 

 

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Assoziative Innenschauen

 

 

Acht Kurzfilme der Sektion Innovativ- oder auch Experimentalkino.
Die Filme umfassen von 16 mm Arbeiten bis Animation ein breites handwerkliches Spektrum.

KatharinaViktoria 2(021) von Viktoria Schmid lässt ihr Gesicht und das ihrer Schwester in 16 mm Einzelbildern drehen, alterniert sie rhythmisch, um zu sehen, zu zeigen, wie viel Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Kurzweilig – 1Minute – und schön und mit dem satten Projektorknattern im Rücken.

Für Under the microscope von Michaele Grill muss man den Katalogtext gelesen haben. Ohne den Text versteht man nicht, dass es sich bei den pulsierenden, wabernden Formen um Ausschnitte aus Wissenschaftsfilmen der 1920er Jahre handelt. Unterlegt ist das Ganze mit elektronischen Geräuschen.

Auf der Suche nach dem Ich, oder zumindest der inneren Stimme ist Ganaël Dumreicher in Otoportait. Er filmt zunächst sich, steil von oben, mit einer Handykamera. Man beobachtet, wie er etwas versucht zu schlucken. Einen Schlauch? Eine Kamera? Ein Mikrophon? Dann kehrt sich das Innere nach aussen, und Bilder einer Magenspiegelung, mit einer Tonkollage aus Würgen und Schlucken unterlegt. Innen, aussen, innere Stimme, Ich.
Ein bisschen gruselig, irgendwie.

Sehr schön ist In the upper room von Alexander Gratzer. Der Animationsfilm zeigt eine Generationsliebesgeschichte. Der Enkel wird erwachsen, während er sich vom geliebten Grossvater verabschieden muss. Schön, schlicht, berührend.

Und wieder rattert der Projektor von hinten für: Das Rad von Friedl vom Gröller. Kreisbewegung in Form von radschlagenden Mädchen.

Nach 7 Jahren sieht Sie möchte dass er geht, sie möchte dass er bleibt von Viki Kühn erstmals die Leinwand. Davor lag der Film in einer 80 Minuten Fassung in der Schublade, am Ende sind 13 Minuten geblieben, die assoziativ von einer Beziehung handeln.

Auch experimentelle Kurzfilme können sich sehr direkt mit pandemischen Massnahmen befassen. Zwei lustige Minuten lang zeigt Friedl vom Gröller in 2020 Zähne: beim Zahnarzt, hinter runter gezogenen Schutzmasken, in Hundeschnauzen. Zähne, die in letzter Zeit tatsächlich selten zu sehen waren.

Noch eine assoziative Reise, diesmal gerichtet an ein noch nicht geborenes Kind.
Die Welt ist an ihren Rändern Blau von Iris Blauensteiner und Christine Moderbacher, mischt Archivvideos, Babyultraschall und Selbstgedrehtes, das eigentlich ein anderer Film hätte werden sollen. Der Text gibt den disparaten Bildern einen Rahmen, macht den Gedankenfluss dadurch allgemein verständlich.

 

Multiplexen

 

Samstag Nachmittag im Multiplex. Es piept, fiept und klirrt. Das Foyer des Kinos ist voll mit Kindern an elektronischen Maschinen. Dazwischen Diagonalezuschauer und Kinozuschauer auf dem Weg zum aktuellen Blockbuster, es riecht nach Popcorn und Nachos.

 

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Liebe geht

 

Para:Dies von Elena Wolff zeigt auf witzige Art, was passiert, wenn Selbstdarstellung wichtiger ist als Treue oder Loyalität. Die Liebe zwischen zwei jungen Frauen zerlegt sich zusehend vor der Kamera für einen fiktiven Dokumentarfilm. Anfangs scheinen sie noch ganz romantisch von ihren Anfängen zu berichten, aber schon da schleichen sich böse Zwischentöne ein. Die Kamerafrau dient zusehends mehr als Reflexionsfläche, als Spiegel für die eigenen Selbstdarstellungen. Im Verlauf des Films wird sie mehr und mehr einbezogen, angesprochen, bleibt aber bis kurz vor Schluss unsichtbar und unhörbar. Als sie dann mit vor ihre Kamera tritt, sich mit ins Bild begibt, schnappen alle Fallen, die vorher von der einen oder der anderen ausgelegt wurden, auf einen Schlag zu. Treue, Loyalität, Liebe, alles egal.

 

 

Grenzen

 

Krai von Aleksey Lapin ist laut Programm ein Dokumentarfilm, dass das nicht so ganz stimmen kann, ahnt man schon nach der Kurzbeschreibung. Hier werden Grenzen ausgelotet, überschritten und umgeformt. Das Ergebnis ist originell.

Das Drehteam kommt ins kleine russische Dorf, aus dem ein Teil der Familie des Regisseurs stammt, vermeintlich, um dort einen Historienfilm zu drehen. Aber recht schnell mischen sich in das Casting mit den Dorfbewohnern auch bizarre Geschichten von verschwunden Pilzsammlern, aus dem Boden austretendem Radon, Maschinen, die nicht mehr laufen, und weitere Skurrilitäten.
Grenzen liefert auch das Bild, in schwarz-weiss und in 4:3 Format gedreht. Innerhalb dieses engeren Rahmens wird durch die Kadrierung das Bild zusätzlich begrenzt, es entstehen guckkastenhafte Räume von eigenwilliger Schönheit.
Die perfekte Szenerie für die absurde Geschichte.
Gefragt, warum der Film in der Kategorie Dokumentation läuft, liefert der Regisseur die charmante Antwort: Die Finanzierung war für einen Dokumentarfilm.
An sich wären alle diese Einteilungen in Fiktion-, Dokumentar- oder Experimentalfilm gar nicht nötig, aber das hiesse im Fall der Diagonale, das System der Preise neu zu regeln.
So wird es dieser Film vermutlich schwer haben in seiner Kategorie einen Preis zu bekommen, aber wer weiss.

 

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Das war der letzte Kinoabend, morgen werden die Preise dann vergeben, Prognose wage ich lieber nicht.