War es jetzt eine gute Idee, die Solothurner Filmtage in Präsenz zu veranstalten? Vermutlich ja. Es war schön eine ganze Woche Filme mit anderen Menschen in Kinos zu sehen, die Regisseure und Regisseurinnen zu sehen und zu hören, Applaus, kollektives Lachen oder Aufstöhnen zu teilen. Es war aber auch, nach zwei Jahren, in denen wir ständig ermahnt wurden, uns von anderen fernzuhalten, sehr gewöhnungsbedürftig, Schulter an Schulter mit fremden Menschen zusammenzusitzen.
Ist es gut gegangen?
Vermutlich.
Genau wird sich das wahrscheinlich erst noch zeigen. Die Stimmung insgesamt war auf jeden Fall gut, trotz Masken, trotz Testnachweis.
Die Preise
Den Hauptpreis, den Prix de Soleure gewann Wet Sand von Elene Naveriani.
Das ist eine wirklich gute Wahl, der Film hat eine gute Geschichte, tolle Bilder und vermittelte eine schwebende Stimmung.
Den Preis für den besten Erstlingsfilm gab es für Pas de deux von Elie Aufseesser.
Auch das geht so weit in Ordnung, die manchmal noch etwas ungelenke Form darf bei einem ersten Langfilm durchaus sein.
Der Publikumspreis geht an Presque von Bernard Campan und Alexandre Jollien, den ich leider nicht gesehen habe.
Nächstes Jahr im Januar also die 58. Solothurner Filmtage, und, man wird wohl träumen dürfen, dann hoffentlich massnahmenfrei.
Nebelig beginnt der Dienstag in Solothurn.
Und nur noch drei Kinovorstellungen bis zur Rückreise. Irgendwie ist eine Woche dann doch schnell vorbei.
Rechenspiele
Was man jetzt schon sagen kann, das Schweizer Filmschaffen hat weiterhin mehr Dokumentarfilme zu bieten, als Spielfilme. Von den acht für den Prix de Soleure nominierten Filme, sind nur zwei Spielfilme. Das gleiche Verhältnis gilt für die Sektion Opera Prima, 6:2. Einzig in der Rubrik Publikumspreis kommen fünf Spielfilme auf drei Dokumentarfilme. Bei den ausgewählten Filmen ist Verhältnis Regisseure zu Regisseurinnen, wie seit einigen Jahren bereits, ausgewogen. Im Gesamtprogramm laufen doppelt so viele Dokumentarfilme wie Spielfilme. Soweit die Statistik.
Esoterisch
Lila Ribis Film (Im)mortels ist eine Suche nach Antworten, oder DER Antwort, nämlich auf die Frage: Was kommt nach dem Tod? Die Regisseurin hat jahrelang ihre alte Grossmutter gefilmt, und sie auch immer wieder gefragt, was sie glaubt, was nach dem Tod kommt. Die alte Dame, schon zu Anfang des Drehs über 90, bleibt dabei immer klar, pragmatisch und etwas grimmig in ihrer Antwort: nach dem Tod ist nichts. Ihre Enkelin sucht Antworten auch von anderer Seite, von Neurologen, Palliativmedizinern, aber auch diversen ziemlich esoterischen Personen. Sie will glauben oder eher– sich – beweisen, dass da etwas ist, eine Kraft, eine Hoffnung, eine Zukunft jenseits der Zukunft. Diese Suche ist gleichzeitig Stärke und Schwäche des Films, Ribi sucht nicht „ergebnisoffen“. Und so bleiben nur die sehr schönen und bewegenden Gespräche und Situationen mit der Grossmutter, um den Film zu erden. Dadurch erscheint der Film dann irgendwann länger, als es seine 88 Minuten. Durch die sehr persönliche Note kam der Film beim Publikum aber sehr gut an.
Düster
Yaban von Tareq Daoud ist eine ganz düstere Geschichte. Erzählt in Schleifen, die zeitlich vorwärts und rückwärts gehen, lässt der Film offen, wann welche Ereignisse tatsächlich stattfinden. Die Stimmung ist aufgeladen mit Wahn, Lügen und Geheimnissen, die nie ganz geklärt werden. Und am Ende sind nicht mehr alle handelnden Personen am Leben. Sehr eigenwillig, nicht uninteressant und etwas wirr.
Komödie ist schwer
Lost in Paradise von Fiona Ziegler will eine Komödie sein, ein bisschen romantisch, ein bisschen Familienstreit, ein bisschen Sozialkritik. Im Endeffekt gelingt hauptsächlich ein toller und dynamischer Einstieg und eine durchweg sehr gute Kameraarbeit. Ansonsten reiht der Film Klischee an Klischee, wartet mit altbackenen Frauenfiguren auf und ist nicht mal lustig. Als Vorfilm Dans la nature von Marcel Barelli , eine kindgerechte Animation, die zeigt, dass alle Formen der Partnerschaft, von hetero-über homo bis polysexuell in der Tierwelt vorkommen. Das ist kurzweilig und niedlich.
Der „Wow-Effekt“ ist irgendwie ausgeblieben, bleibt zu sehen, was die Jurys entscheiden. Die Preise werden Mittwoch Abend bekannt gegeben.
Wenn man Geschichten, die erdacht werden, Glauben schenkt, dann bleiben wir, als Menschen, auch in Zukunft so blöd wie wir sind. Tim Fehlbaum zeigt das mit seinem dystopischen Science-Fiction-Film Tides auf ganz wunderbare Weise. Die Menschen haben die Welt zerstört und verlassen, Generationen später brechen Raumschiffe auf, um zu klären, ob auf der verlassenen Erde Reproduktion möglich ist. Bloss, so verlassen ist die Erde nicht, statt dessen haben sich zwei Gruppen gebildet, eine Art freigeistiger Rebellen und eine Art militanter Faschisten mit Überlegenheitswahn. Die Kamera ist fast immer nervös in Bewegung, die Bildausschnitte oft eingegrenzt. Nebelgrau, Matsch, Wasser und Rost bieten den Rahmen, das alles zieht einen sofort in die Geschichte. Eine sehr grosse Koproduktion mit Deutschland hat für die nötigen Mittel gesorgt, ein internationales Darstellerensemble und eben die eindringliche Kamera sorgen für Spannung. Obwohl man natürlich weiss, wie es ausgehen wird, weil solche Geschichten immer gleich ausgehen.
Schmerz
Den physischen aber auch psychischen Schmerz, den eine Beschneidung bei einem Mädchen erzeugt, kann und mag man sich nicht vorstellen. Aber gerade deshalb ist es wichtig, das Thema zu behandeln. Do you remember me? von Désirée Pomper und Helena Müller begleitet eine junge Schweizerin mit äthiopischen Wurzeln beim gleichermassen schmerzhaften wie befreiende Weg der Konfrontation mit ihrer Beschneiderin, mit ihrer Grossmutter, mit ihrer Vergangenheit. Es geht ihr dabei nicht nur um den eigenen Schmerz, sondern auch um Aufklärung für alle, denen dieses Schicksal erspart werden kann. Der Film ist immer sehr nah an der Protagonistin, begleitet, wo es die anderen zulassen, wahrt Abstand wo nötig, übergiesst aber leider zu viele Szenen mit überflüssiger Musik. Manche Momente im Film wirken fast zu glatt, um authentisch zu sein, aber das mag täuschen.
Krisen, Anfgang und Ende
Eine Airbnb Wohnung als Vorhof zur Selbstfindung. Une histoire provisoire von Romed Wyder wirft eine Iranerin am Ende ihrer Krisenbewältigung und einen Genfer am Anfang seiner Krise zusammen in eine Wohnung. Zunächst ist für beide Nähe das Letzte, das sie sich wünschen. Als eine quirlige amerikanische Touristin auch noch ein Zimmer mietet, werden die Selbstfindungsversuche etwas nach aussen geöffnet. Das Klaustrophobische der Wohnung, das Lauern und das Nichtverstehen, gemischt mit plötzlichen, kurzen Flashs von Traumsequenzen, ist hübsch gemacht, anfangs auch interessant und lustig. Im Verlauf des Films zeigt sich aber ein völliges Fehlen einer Motivation, aus der Geschichte heraus, für das Handeln oder Fühlen der Figuren. Dadurch bricht die Geschichte dann auch ein, die Spannung und Leichtigkeit geht verloren.
Liebe suchen
Love will come later von Julia Furer ist ein schönes Portrait eines jungen Marokkaners auf der Suche nach Liebe. Denkt man anfangs, seine Liebschaften mit Touristinnen seien ein Mittel für ihn, Marokko für reiche, vornehmlich europäische Länder, zu verlassen, merkt man im Verlauf des Films, dass Samir tatsächlich nach seinem Glück in Form von Liebe, Kindern und Familie sucht. Der Film ist sensibel gestaltet, in sehr schönen Bildern gedreht und zeigt einen jungen Mann, auf den gängige Vorurteile vom maghrebinischen Mann nicht zutreffen. Ein sehr schöner Erstlingsfilm.
Aufstehen
Eigentlich wollte Regisseur Frédéric Choffat einen Film zum Klimakollaps machen, ganz klassisch, mit Experteninterviews, Belegen etc. Doch dann stellt er verblüfft fest, dass seine beiden Kinder (14 und 17) in der Genfer Klimaaktivistenszene ganz vorne mitmachen. Er wechselt also von der Experten- zur Aktivistenperspektive. Tout commence ist das Ergebnis. Vielleicht ist der Film mit 90 Minuten etwas lang geraten, aber die Perspektive als Regisseur und Vater, ergibt durchaus eigenwillige Situationen. Und ja, die Zukunft sieht nicht rosig aus, weshalb das Aufstehen für eine Veränderung auf jeden Fall ein Thema sein muss.
Die Solothurner Filmtage nähern sich langsam ihrem Ende.
Das Festival Wochenende beginnt mit strahlend blauem Himmel und fast milden Temperaturen. Dafür hat die Festival App eine neue Idee, wie sie Reservierungen verkomplizieren kann; eventuell ist frühstücken ganz ohne Einsatz von Elektronik ein guter Plan für die kommenden Tage.
Kurzfilme-morgens
Souviens-toi hier von Juliette Menthonnex. Wie erinnert man sich an das verdrängte? Wie schafft man die Traumata, die einem das Leben verderben wieder aus sich heraus? Eine junge Frau entschliesst sich, lange nach einer Vergewaltigung, den Täter anzuzeigen. Ein bewegendes und bedrückendes Dokument einer Heilung.
2° von Christoph Oeschger. Ausgehend von der Unmöglichkeit 2° Erderwärmung zu verstehen, übersetzt der experimentelle Dokumentarfilm diese Problem in Bilder. 2° mehr in einem Filmbild bedeuten etwa 3 Blenden weiter auf, eine Visualisierung, die man verstehen kann. Gletscherbilder werden mittels Bearbeitungsapps zu abstrakten und verstörenden Konstrukten, mit Stoff bedeckte Gletscher sehen wie Kunstobjekte aus, Abstraktion macht manches sichtbar.Die menschengemachte Erwärmung entzieht sich dem Verstehen und zeigt doch den Imperativ zu handeln.
Fièvre von Michele Pennetta und Géraldine Rod. Ein junger Schauspieler in einem Luxushotel, der Drehbeginn steht unmittelbar bevor, da erfährt er, dass sein PCR test positiv ist. Nicht nur muss er jetzt 14 Tage in seinem Zimmer bleiben, er verliert auch die Rolle. Ein böser Spass, sehr gut gespielt.
Senza sturnizi – Richard Coray, constructur da punts persas vonSusanna Fanzun. Faszinierendes über den Gerüstkonstrukteur Coray, der Ende des 19. Anfang des 20.Jahrhundert nicht nur im heimatlichen Graubünden, sondern weltweit für die Hilfsbauten von Brücken und Seilbahnen verantwortlich war. Kreatives Genie und eine grosse Portion Schwindelfreiheit prägen die Geschichte. Fragil wirkenden Holzbauten, die so schön sind, dass man ihnen ein eigenständiges Dasein gewünscht hätte, werden mittels Filmtechnik in ihrem Kontext wieder sichtbar, und verschwinden wieder.
Kurzfilme – mittags
Was macht das fast völlige Fehlen weiblicher Vorbilder im Filmschaffen mit einer jungen Regisseurin? Dieser Frage geht Juliette Klinke in Dans le silence d’une mer abyssale auf den Grund. In einer Kollage aus Filmausschnitten von Regisseurinnen, Kamerafrauen und Produzentinnen aus den Anfängen der Filmkunst, komponiert sie einen Essay zu ihren Reflexionen. Ab den 30er Jahren des letzten Jahrhundert, als Film von einer abseitigen Kunst zu einer Industrie wurde, sind Frauen aus dem Blick, dem Gedächtnis sukzessive entfernt worden, bis zu einem heute nahezu völligen Vergessen. Es liegt also an heutigen, jungen Filmemacherinnen, diesen Kulturschatz wieder ans Licht zu bringen. In guten Händen von Philipp Ritler und Kezia Zurbrügg, zeigt einzelne Situationen, in denen Menschen Hilfe bieten, sich kümmern, alles in statischen, bühnenhaften Szenen. Tatsächlich ist das nicht wirklich interessant.
Ein weiterer Film, diesmal kurz und fiktional, der sich mit Krieg, Bildern und deren Deutungshoheit befasst. Real News von Luka Popadić kreiert eine Geschichte um einen jungen Reporter, der während des Kosovo Kriegs in Belgrad seine ersten Aufträge hat. Genau zu der Zeit, als die NATO das serbische Fernsehen bombardiert hat, er muss sich entscheiden, seine persönliche Betroffenheit zu formulieren oder seine Karriere weiter zu treiben. Kann man aus Dias aus den 80er Jahren unterlegt mit Tonaufnahmen aus der gleichen Zeit eine Film machen? Und wird dieser Film flüssig und schlüssig sein? Im Fall von TRAP NYC 1988 von Dieter Fahrer funktioniert das Experiment tatsächlich gut, der Film hat Rhythmus und Fluss, und lässt die Vergangenheit wieder aufstehen.
Familiensache
Der privateste Film so weit ist Pas de deux vonElie Aufseesser. Die Langzeitdokumentation einer Familie aus Genf, im Zentrum zwei Brüder, die sich gleichzeitig extrem ähnlich und völlig gegensätzlich sind. In der Familie treffen nicht nur verschiedene Temperamente, sondern auch verschiedene Ethnien, manchmal durchaus rabiat, auf einander. Der Film ist mit kleinsten Mitteln gedreht, heisst in diesem Fall, der Regisseur war mit seiner Kamera immer wieder präsent. Unter der Bedingung nicht einzugreifen, bekommt er so Zugang zu vielen sehr intimen Familienszenen. Er folgt der Familie in den Urlaub auf die Azoren, dem einen Bruder an eine amerikanische Uni, wo er als Turmspringer ein Stipendium hat. Dem anderen Bruder folgt er nach Jordanien, wo der mal einfach nur kichernd rumhängt, mal für einen Werbefilmdreh rekrutiert wird.
Der zeitliche Ablauf erscheint manchmal konfus, so dass man als Zuschauer die Orientierung verliert. Das Hirn wünscht sich Kohärenz in den Abläufen, aber im Endeffekt sind die Ereignissen keine Folge eines Zeitablaufs, sondern singuläre Ereignisse, die für einen Aussenstehenden in jedweder Reihenfolge Sinn ergeben, oder eben nicht.
Farbrausch
Youth Topia von Dennis Stormer spielt mit Farben und Formaten und erzählt eine Art 1984 auf LSD. Der „Grosse Bruder“ ist ein Algorithmus, der, anhand der Instagramauftritte, ermittelt, ob man ewig Jugendlicher oder Erwachsener wird, entsprechende „Beamte“ kommen einen dann informieren. So wird eine Gruppe von Freunden, die in einer alten Scheune leben, wilden Unfug treiben und das Leben geniessen, auseinanderdividiert. Während die Erwachsenenwelt in klaren Farben, die Räume aus Sichtbeton sind, ist die Welt der ewig Jugendlichen in grelle Fehlfarben getaucht. Wenn die Welten interagieren, verwischen die Verhältnisse etwas. Dazwischen Instagrampostings mit farbigen Filtern, Emojis, Kommentaren und in 1:1 Format. Ganz hält der Film das Konzept nicht durch, und leider geht im Verlauf des Films der Erzählstrang des „bösen“ Algorithmus verloren, er mischt sich nicht mehr ein, greift nicht mehr ein. Das ist ein bisschen schade, da wäre mehr möglich gewesen. Auch der sehr jubelhafte Schluss nimmt dem Film die Schärfe und das Originelle, ein offeneres Ende wäre eine denkbare Abhilfe gewesen.
Völlig Abgedreht
Wenn es einen Preis für den besten Filmtitel gäbe, Wer hat die Konfitüre geklaut? von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll, wäre der beste Kandidat dafür. Ihr zweiter gemeinsamer Langfilm ist eine wilde, durchgedrehte Mischung aus Horror, Science Fiction und Kaspertheater. Grell, bunt und unverfroren mischen sie alle Genres, jagen ihre Darsteller durch unglaubliche Situationen, mischen popkulturelles und Michael Jackson hinein und garnieren alles mit einer boshaften Drohne, und einem Algorithmus, der irgend etwas schwer giftiges verdaut haben muss. Ein Film, der sicher nicht jedem gefällt, für Fans des Abstrusen Kinos aber ist der Film eine Freude. Und ausverkauft war die Uraufführung auch.
Die App – Mission Impossible
Die Reservierungs-App hat eine neue Methode der Quälerei gefunden…. Filme im Programm werden im richtige Kino angezeigt, will man dann allerdings buchen, wird ein falsches Kino und ein falscher Tag angezeigt! Buchung unmöglich. Nach einem Update geht es ein bisschen besser.
Film? Kunst?
Während in Solothurn die sonntäglichen Bürgersteige noch verschlafen weggeklappt sind, gehen einige Mutige ins Kino.
Was Systemrelevant aber unsichtbar von Hedwig Bäbler bei einem Filmfestival zu suchen hat, erschliesst sich allerdings nicht. Der Film behandelt ein relevantes gesellschaftliches Thema, ist aber im besten Fall eine dürftige Tv-Reportage. Die Protagonisten sind gut gewählt und präsentieren ihre Schwierigkeiten auf verständliche Weise , aber die Bilder sind beliebig, die Dramaturgie uninspiriert und der Kommentartext ist ganz schlimmer, bedeutungsschwangerer Fernsehkommentar.
Der zweite Film in diesem morgendlichen Programm, Haltlos von Peter Guyer und Jürg Halter, zeigt eine Spokenword Performance. Die Performance ist gut, die Übertragung auf die Leinwand ist es nicht. Ohne einem nachvollziehbarem Konzept zu folgen, sieht man mal Vollbild, mal einen breiten, schmalen Schlitz oben, oder unten, mal Quadratisches Bild, mal Hochkant. Die „Vignetten“ sind dabei mal grösser, mal kleiner, werden von bunt zu schwarz-weiss gezogen und wieder zurück. Die sehr rhythmische Sprache der Performance wird dabei weder unterstützt, noch kontrapunktisch betont. Eher schaut man einer Spielerei am Schneidetisch zu. Was kann man alles mit Bildern machen?
Die Antwort wäre: viel mehr, als was hier zu sehen war.
Weltherrschaft
Sonntag viertel nach Zwölf, und der grosse Konzertsaal ist voller Zuschauer, die einen Dokumentarfilm über Pilze sehen wollen. Das ist echte Filmbegeisterung.
In The Mushroom Speaks von Marion Neumann geht es um die Welt der Pilze, in all ihren oft unterschätzten und wenig bekannten Facetten. Pilze beherrschen die Welt und sind überall, nicht die Fruchtkörper, die man gemeinhin als Pilze sieht, sondern das was sie wirklich ausmacht, das Unterirdische, Vernetzte. Lange Zeit wurde diese Spezies vernachlässigt. Neumann nähert sich dem Thema sowohl poetisch, als auch wissenschaftlich. Pilzkenner, Wissenschaftler, Aktivisten, Pilzgurus aller Arten teilen ihr Wissen und ihre Hoffnungen, mit Hilfe der Pilze einige menschengemachte Probleme der Welt zu beheben. Gegen Ende verliert der Film etwas an Spannung, macht noch einen, eher entbehrlichen, Schlenker zu psychoaktiven Pilzen und verliert den Weg zu einem sauberen Schluss aus den Augen. Insgesamt aber eine gut gemachte Dokumentation.
DIe Maskensisziplin ist tasächlich hoch, ganz selten sieht man Masken als Kinnschutz getragen.
Mut
Laurence Deonna libre von Nasser Bakhti. Das Portrait der Genfer Journalistin und Schriftstellerin zeigt eine mutige Frau, die familiären und gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz ihren Weg gegangen ist. Für die Tochter aus „gutem Haus“, 1937 geboren, war es keineswegs vorgezeichnet, dass sie als Reporterin hauptsächlich den Mittleren Osten bereisen und Reportagen liefern würde, in denen sie sehr oft die Frauen der Region in den Fokus stellte. In ihrer aktiven Zeit ist sie sicher nicht immer bequem gewesen, aber eine Journalistin, die einiges bewegt hat, auch in ihre Funktion bei Reporter ohne Grenzen.
Träume
Aya von Lorenzo Valmontone und Thomas Szczepanski zeigt zwei Menschen am Rand der Gesellschaft, ohne zu werten dafür mit einem sanften Blick. Ein in Calais gestrandeter Migrant, der im mittlerweile abgerissenen Lager „Dschungel“ eine Schule auf die Beine gestellt hat und eine arbeitslose Französin, die im Lager als Freiwillige geholfen hat. Das triste, graue und sturmgebeutelte Calais bietet die Bühnen auf der beide immer wieder von Grossem träumen. Zimako, ursprünglich aus Togo, hat, so scheint es, ständig neue Ideen, wie die Welt ein besserer Ort werden kann.Mal will er leerstehende Häuser für Migranten und Obdachlos herrichten, oder einen Film machen, den er dann nur noch einem Hollywood Produzenten verkaufen muss, auch eine Karriere als Rapper hält er für denkbar. Auch Lydie träumt von einer Welt, in der Menschen ohne Vorurteile miteinander umgehen, von einem vernünftigen Job, von einem Leben als Fahrerin. Zwei Träumer in einer unwirtlichen Landschaft, in einer Welt, die mit solchen Träumern nicht viel anzufangen weiss.
Bisher war noch kein Film dabei, der wirklich umwerfend war, eine originelle oder neue Handschrift oder Bilderwelt gezeigt hätte, aber ein bisschen geht das Festival ja noch weiter.
Mal eben so zwischen Kaffee und Croissant die Filme für den kommenden Tag reservieren, das klingt an sich wie ein guter Plan. Dumm nur, dass die festivaleigene App nach einem unklaren Muster den Dienst verweigert. Die Theorie sagt, ab 8:30 kann man für den Folgetag reservieren, die App weigert sich bei drei von vier Vorstellungen zu akzeptieren, dass man eine Akkreditiertennummer hat, sprich: reservieren unmöglich. So verbringt man am Frühstückstisch Zeit mit erfolglosen „Handyspielen“ – ärgerlich.
Nur gut also, dass in diesem Jahr doch etwas weniger Gäste da sind, denn in anderen Jahren hatte man oft 10 Minuten nachdem die Filme freigeschaltet waren, schon keine Chance mehr auf einen Platz.
Biographie, künstlerisch
Hugo in Argentina von Stefano Knuchel ist für die frühe Mittagszeit ordentlich besucht. Der Film, zweiter Teil einer – geplanten -Trilogie über den italienischen Comiczeichner Hugo Pratt will insgesamt zuviel. Pratt selbst erscheint als Stimme im Off, erzählt von seiner Zeit in Argentinien in den 50er und 60er Jahren, einer Zeit, die er als Ende seiner Jugend erlebt, als wild, suchend und überbordend. Die Bildebene kombiniert Photos, Privatfilme und sehr künstlerisch gestaltet Räume und Orte miteinander. Manchmal entsteht so etwas wie eine Comicseite, wenn zwei verschiedenen Filmbilder wie Vignetten sich die Leinwand teilen. Das alles ist sehr schön anzusehen, auch die Zeitzeugen Interviews finden in künstlerisch gestaltetem Ambiente statt, aber über die Länge des Films geht einem als Zuschauer die Puste aus, oder die Aufmerksamkeit schwindet. Im letzten Drittel des Films gibt es dann obendrein einige falsche Enden, man hofft auf den Abspann, aber nein, der Film legt noch eine weitere Facette auf.
Pausen
Die verschiedenen Massnahmen zum Schutz vor Ansteckung führen zu eigentümlichen Bewegungsmustern zwischen den Filmvorführungen. In der Hälfte der Kinos gibt es keine Möglichkeit sich zwischen den Filmen aufzuhalten, also raus in die winterliche Kälte. Die Solothurner Wirtschaft wird es freuen, denn gegen die Kälte hilft dann nur noch der Aufenthalt in einem der Cafés oder Lokale.
Ernstfall spielen
Die Schweiz hat keine Berufsarmee, dafür werden ehemalige Rekruten regelmässig zu Wiederholungsübungen gerufen, eine solche Übung beobachten die Regisseure Mateo Ybarra und Raphaël Dubach in Lux.
Das Szenario: eine potenzielle Bedrohung durch eine antikapitalistische Terrorgruppe in der Nähe des Genfer Flughafens. Im Gegensatz zu Bildern von Soldaten, die man aus Filmen kennt, nehmen sich die Bürger-Soldaten aus wie eine Schülertheatergruppe. Wirklich ernst nimmt keiner die Übung, erst als sie mehr als 19 Stunden Wachdienst durchziehen müssen, vergeht ihnen für einen Moment das Lachen. Der Film hat viel Witz und Charme, der Ernstfall wird gross inszeniert, während das ganze sauber dokumentarisch gefilmt, wird, das ergibt eine eigenwillige Spannung. Als Vorfilm zeigt Action von Bennoît Monney ein Filmset kurz vor dem totalen Kollaps. Durchgedreht in einer Einstellung ist der Film ein kleines Meisterwerk der Planung und ein riesiger Spass.
Rotlicht
Kein aktueller Film, sondern ein Film von 1980 aus der Programmschiene Fokus: Simone Barbès ou la vertu von Marie-Claude Treilhou.
Absurdes Theater aufgeführt in den engen Räumen des Pariser Nachtlebens. Zwei Platzanweiserinnen in einem Pornokino, die eher gelangweilt ihrem Job nachgehen, unbeeindruckt von den merkwürdigen Kinobesuchern und dem Stöhnen aus den Kinosälen. Ihre Gespräche drehen sich um Partner, oder um Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft. Nächste Station, eine Lesbenbar, in der eine der Platzanweiserinnen ihre Freundin besucht. Auch hier, herrscht wüste Theatralik, übertrieben, skurril, rot-bunt. Der letzte Akt ist eine lange Autofahrt durch die Nacht, reduziert in den Farben, nicht weniger schräg in den Dialogen. Ein Film voller philosphischer Schönheit mitten im schmutzig grellen Nachtleben.
Mehr Biographisches
Und noch eine Künstlerbiographie – diesmal erwischt es den Pantomimen Marcel Marceau in L’art du silence von Maurizius Staerkle Drux.
Das Störende zuallererst: Ein Film, der sich mit der Kunst der Stille beschäftigt, mit Pantomime, mit der Vermittlung von Gefühlen mittels Körperarbeit, sollte mehr Vertrauen in genau diese Kunst haben. Aber gleich die erste Szene, mit einem Ausschnitt aus Marceaus Bühnenprogramm, ist mit Musik unterlegt und raubt so viel von der Kraft und Magie, die doch gezeigt werden wollte. Leider geht das den ganzen Film so weiter. Darüber hinaus zeichnet der Film sehr umfassend das Leben und Werk des Pantomimen, verknüpft Archivaufnahmen mit Erinnerungen seiner Familie, und findet schöne Bilder, um Verbindungen zwischen dem Damals und dem Heute zu schaffen.
Stille auszuhalten, auch im Film, auch im Kino, muss man sich trauen, und auch das ist eine Kunst. Dem Premierenpublikum hat es, dem Applaus nach zu urteilen, trotzdem gefallen.
Dürfen wir hier sein? Fragt Bundesrat Alain Berset am Anfang seiner Eröffnungsrede, und meint das nicht etwa philosophisch, sondern pandemisch.
Dürfen wir also bei vollen Sälen, mit 2G und Masken, ins Kino gehen, eine Woche lang? Berset, zuständig für Gesundheit UND Kultur, beantwortet das mit: Ja.
Und macht sich gleichzeitig ein bisschen über sich und die den Schweizer „Mittelweg“ lustig. Ob wir das also gedurft haben werden, oder ob es gescheit gewesen sein wird, das wird sich in einer Woche zeigen, bis dahin heisst es erstmal:
Ab in die Kinos, den Schweizer Film sehen, entdecken, geniessen.
Der Saal voll, die Freude über die Wiederkehr des Präsenzfestivals ausgiebig beklatscht, eröffnen die 57. Solothuner Filmtage mit: Loving Highsmith von Eva Vitija. Als Rückgrat des Films dienen Zitate aus Highsimth‘ Notiz- und Tagebüchern, Zitate, von einer unerwarteten lyrischen Leichtigkeit. Die Autorin, die vielen als zynisch und düster gilt, wird hier von einer federleichten und verwundbaren Seite gezeigt, ohne dabei den harten, den nicht immer sympathischen Teil zu verschleiern. Dadurch entsteht eine Filmbiografie von grosser Dichte, die Bekanntes und Unerwartetes verbindet. An manchen Stellen ist der Film etwas langatmig, zeigt Skurriles, das aber nicht wirklich den Lauf der Geschichte weiterbringt, er kommt so auf 83 Minuten, was einer Kinoauswertung entspricht, wirklich brauchen würde der Film die grosse Leinwand nicht, eine etwas kompliziertere Länge täte hier gut. Interessant ist diese etwas andere Biographie, die Privataufnahmen, Photos, Spielfilmausschnitte und Interviews kombiniert, dennoch. Zum anschliessenden Stehempfang, mit Wein, Bier und Häppchen, darf man nur mit 2G+ Nachweis, voll ist es trotzdem.
Für die Dauer des Festivals, und für die einfachere Handhabbarkeit, gibt es schwarze Bänder ums Handgelenk, die belegen, dass Impfstatus und Ausweis kontrolliert und für wahr befunden wurden.
Tief hängende Wolken
Fast wie eine Fortsetzung der Highsmith Biografie mutet Der Mensch meines Lebens bin ich von Christian Walther an. Die Schweizer Schriftstellerin und Feministin Verena Stefan, die in den 70er Jahren aktiv in der Frauenbewegung war und mit „Häutungen“ ein wichtiges Buch feministischer Literatur schrieb, wird von Weggefährtinnen, Freundinnen und der neuen, jungen Generation der Frauenbewegung beleuchtet und erzählt. Eine faszinierende Persönlichkeit erscheint, eine Persönlichkeit, die mit 70 Jahren definitiv zu früh die Welt verlassen hat. Ärgerlich ist, dass im Kino ein technisches Problem dem Film immer wieder Bilder raubt, zunächst stecken die Untertitel fest, dann mehren sich kurze schwarze Stellen, es scheint, als würde die oberste Bildspur fehlen. Leider setzt sich das auch im zweiten Film des Doppelprogramms fort. Und so fehlt auch beim Portrait des Schweizer Filmemachers, Markus Imhoof – Rebellischer Poet von Stefan Jäger, immer wieder Bildinformation. Imhoofs Filmschaffen, von den frühen 70er Jahren bis heute folgt einer klaren, rebellischen Linie. Und so wundert es auch nicht, dass seine Filme nicht nur immer wieder Kontroversen auslösen, sondern teilweise auch Aufführungsverbot hatten. So wurde zum Beispiel „Das Boot ist voll“ trotz Oscar Nominierung und zahlreicher Filmpreise, immer wieder im Giftschrank weggesperrt. Imhoof bleibt ein unermüdlicher Filmautor, der auch mit über 70 nicht daran denkt, sich von seiner Film- und Erdzählbesessenheit zu verabschieden.
Schlampereien
Zwischen der 10 Uhr und der 13 Uhr Vorstellung wurde das technische Problem im Kino behandelt, aber noch nicht gelöst.
Wodurch, zumindest am Anfang, Theo Stichs Dokumentarfilm Mitholz wieder Bildausfälle und Artefakte lieferte. Trotzdem, die Geschichte ist sehr sehenswert.
Etwa 160 Einwohner leben im Dorf Mitholz im Berner Oberland, aber eine einzigartige behördliche und militärische Schlamperei bedroht das Dorf. Während des Zweiten Weltkriegs wurde in unmittelbarer Nähe des Dorfs ein Stollen in den Berg getrieben, um Munition zu lagern. Nach Kriegsende wurde dort noch mehr Munition und Sprengstoff gelagert, die Bevölkerung wurde über das gefährliche Material im Berg nicht informiert. 1947 kommt es zu einer fatalen Explosion, das Dorf wird zerstört, Menschen sterben. Die Politik klopft sich auf die Schulter, während sie den Betroffenen neue Häuser hinstellt. Die Information über die weiterhin dort lagernden Stoffe verschwindet auf Jahrzehnte in den Archiven. Stollen in den Schweizer Alpen sind militärische Staatsgeheimnisse. Erst 2010, als man den Stollen für ein IT-Zentrum ausbauen will, wird wieder hingeschaut, und doch dauert es weitere 7 Jahre bis man einsieht, die Sprengkraft im Berg ist lebensgefährlich. Die Dorfbewohner stehen ratlos vor der Katastrophe, sie werden auf Jahrzehnte umgesiedelt werden müssen, die Informationen fliessen weiterhin eher spärlich.
Wenn Bilder verführen
Nach drei Dokumentarfilmen der erste Spielfilm des Tages: Stille Post von Florian Hoffmann. Das Gerüst des Films bilden Handyaufnahmen, die in Cizre 2015 entstanden, gedreht von kurdischen Aktivisten, um auf die Lage der Kurden aufmerksam zu machen. Dazu baut Hoffmann eine kluge und einsichtige Geschichte von der Macht der Wünsche, der Verführbarkeit und von Hilflosigkeit. Ein junger Lehrer in Deutschland, der als Kind seine Eltern und möglicherweise auch seine Schwester im Konflikt von Kruden und türkischem Staat verloren hat, meint in einem Handyvideo hinter der Kamera seine Schwester zu erkennen. Und während dieser Wunsch, aus der eigenen kindlichen verletzten Seele heraus nach der Schwester sucht, instrumentalisieren in Deutschland politisch aktive Kurden diese Sehnsucht für ihre Zwecke. Mit den Mitteln des Spielfilms zeigt die Geschichte, die Bedeutung und auch Ambivalenz von Bildern, die Macht der Illusion, oder Desillusion, und die Macht der Medien, einen Konflikt nicht nur an die Öffentlichkeit zu bringen, sondern auch, diesem Konflikt – gewollt oder ungewollt – eine weitere Dimension zu erlauben. Man ist auch als Zuschauer gefordert bei diesem Spagat zwischen Wunsch, Wahrheit und Propaganda immer wieder aufmerksam zu bleiben und zu hinterfragen.
Noch weiter in der Analyse von Kriegsbildern und deren Wirkung gehen Massimo D’Anolfi und Martina Parenti mit Guerra e pace. Kriege wurden vermutlich schon immer in Bildern dargestellt, mit dem Aufkommen der Photographie und des Films ist eine Seite dazugekommen, die verleitet, das Abgebildete immer und ohne Reflexion für Realität zu halten. Der Film zeigt, wie wichtig eine kritische Betrachtung ist und bleibt. Es ist dabei egal, ob man Filmbilder von 1911 aus dem Italiensch-Libyschen Krieg sieht, oder aktuelle Bilder diverser Schauplätze kriegerischer Auseinandersetzungen. All diese Bilder sind Zeugnisse, aber eben nur ein Teil der Geschichte, ein Teil der Wahrheit. Das spannendste Kapitel des Films ist die Parallelmontage der Ausbildung von Fremdenlegionären und Soldaten, die für die filmischen und photographischen Berichte künftiger Einsätze geschult werden. Physischer Drill auf der einen Seite, Filmtechnik, Beleuchtung und ethische Fragen auf der anderen. Je besser man weiss, dass Bilder immer einem Zweck dienen, um so eher kann man sie einordnen, kann sie als notwendiges Mittel der Erinnerung in Kontext stellen, statt sich verführen zu lassen.
Solothurn am Abend war noch nie besonders voll und laut, aber in diesem Jahr wirkt die Stadt bereits kurz nach zehn am Abend verlassen.