Da schaust Du

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Gegen Kekskoma und Serienstupor

 

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Dass Kinos weiterhin zu sind, hat sich genug herumgesprochen.
Das ist aber noch lange kein Grund, gänzlich auf gutes Kino zu verzichten. Man muss nur etwas suchen.
Neben den diversen, von Kinos angebotenen, Streamings gibt es noch bis zum 31.12. aus arte das artekinofestival.
Gezeigt werden 10 europäische Kinofilme, die auch in virusfreien Jahren ausserhalb von Festivals selten bis gar nicht zu sehen wären.

 

Feiertags Filmfestival Tipps

 

Grandios chaotisch:

Ivana cea Groaznica (Ivana die Schreckliche) von Ivana Mladenović.
Was macht eine Regisseurin und Schauspielerin, um sich selbst zu therapieren – sie schreibt ein ausgefeiltes Drehbuch, fährt von Bukarest, wo sie lebt, ins heimatliche Kladovo, und setzt ihr Drehbuch mit ihrer Familie und ihren Freunden um. Es spielen also alle sich selbst, aber nach dem Buch der Regisseurin, die natürlich auch mitspielt. Was dabei entsteht, ist extrem lustig, manchmal nah am Chaos, dabei aber gut durchdacht und toll gedreht. Realität und Spiel purzeln munter durcheinander und alles tanzt nach Ivanas Pfeife – wenn das keine prima Therapie ist.

Chaos im Londoner Wohnblock gibt es bei:

Cat in the wall von Mina Mileva und Vesla Kazakova.
Mit Sohn und Bruder lebt eine junge Bulgarin in London, und obwohl beide Geschwister einen Uniabschluss haben, gibt es für sie in London nur Hilfsjobs. Als sie eine Benachrichtigung bekommen, dass sie für notwendige Sanierungen im Haus eine grosse Summe zu zahlen haben werden, fangen sie an, Kontakt aufzunehmen zu anderen Wohnungseigentümern, aber auch zu den von Sozialhilfe lebenden Mietern im Wohnblock. Und dann läuft ihnen auch noch eine Katze zu, die alles verkompliziert. Wechselnde Allianzen entstehen, viel lautes Geschrei, und eine ordentliche Portion Rassismus in alle Richtungen, trotzdem herrscht ein komödiantischer Unterton im Film und das Geschrei hat oft etwas Slapstickhaftes. Ein Film zum lachen und nachdenken.

Wahn in Blau:

Love Me Tender von Klaudia Reynicke.
Ein junges Mädchen und ihre Eltern, zunächst scheint sie sich einfach nur von irgendetwas zu erholen, aber schnell wird klar, in ihrem teils brutalen, teils nur abweisendem Verhalten steckt mehr, und sie ist allein und unverstanden mit ihrem Problem. Als erst die Mutter stirbt und wenig später der Vater sie einfach allein zurücklässt, wird ihr Wahn offenbar. Mit unglaublicher Intensität spielt Barbara Giordano, in der Enge des Hauses, das zusehends mehr vermüllt, eine Art Tanz mit den inneren Dämonen.

Alle Filme wurden vom ehemaligen künstlerischen Leiter des Locarno Festivals Olivier Père kuratiert. Man kann aber nicht nur tolles Kino geniessen, sondern als Zuschauer auch für den European Audience Award des artekinofestivals mitstimmen. Der Film mit den meisten Punkten kann immerhin bis zu 20.000 Euro gewinnen. Und auch dem abstimmenden Zuschauer winkt ein Preis:
ein Aufenthalt beim Locarno Festival 2021.

Damit kann man sich nebenbei also eine Portion Optimismus sichern, bis zum August ist noch etwas Zeit, und dann dürfen wir hoffentlich nicht nur wieder raus, sondern auch wieder ins Kino.

 

Frohes neues Jahr
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Locarno #72 Katzen, Hunde, Cockpit

Tag zwei, der erste Film im Programm Cineasti del Presente, Love Me Tender von Klaudia Reynicke. Ein junges Mädchen und ihre Eltern, zunächst scheint sie sich einfach nur von irgendetwas zu erholen, aber schnell wird klar, in ihrem teils brutalen, teils nur abweisendem Verhalten steckt mehr, und sie ist allein und unverstanden mit ihrem Problem. Als erst die Mutter stirbt und wenig später der Vater sie einfach allein zurücklässt, wird ihr Wahn offenbar. Mit unglaublicher Intensität spielt Barbara Giordano, in der Enge des Hauses, das zusehends mehr vermüllt, eine Art Tanz mit den inneren Dämonen. Nur ganz langsam und über den ganzen Film in Häppchen verteilt, erschliesst sich die Geschichte hinter ihrem Wahn. Das dominierende Blau in Details, aber auch in ihrem Jumpsuit, in dem sie sich zu verstecken scheint, runden diesen tollen Film ab.
Nach so einem guten Start geht es entspannt zu den Pardi di Domani. Anfangs noch recht lustig und originell, flacht Dossier of the Dossier von Sorayos Prapapan im Verlauf doch etwas ab. Erzählt wird in schwarz-weiss Bildern von der mühsamen und erfolglosen Suche nach finanzieller Unterstützung und einem Produzenten für einen Kurzfilm. Die gezeigten Mühen und Rückschläge entsprechen auf jeden Fall der Realität und werden mit Witz dargebracht. Ahlou al kahf von Fakhir El Ghezal ist Teil eines Projekts zum Sichtbarmachen von Migrationsproblematik. Das 8mm schwarz-weiss Material ist interessant, die darüberliegenden Kaligraphien, ein Gedicht, ein Raptext verwirren etwas, und ab der Hälfte verliert der Film seine Form, wird inkohärent und verläuft sich.Der Animationsfilm Umbilical von Danski Tang ist unterlegt mit einer Aussprache zwischen Mutter und Tochter, da diese auf Chinesisch stattfindet, verlieren die sehr schönen Animationen ein bisschen, weil man gleichzeitig relativ viel Text zu lesen hat. Interessant ist der Film trotzdem. Otpus (Leave of Absence) von Anton Sazonov zeigt einen Mann, dessen Lebenswelt auseinanderbricht, Vater gestorben, geschieden, mittellos, alles in sehr schönen, ruhigen und düsteren Bildern. Eine trostlose Welt, aus der sich der Protagonist im Bus Richtung Horizont verabschiedet. Nachts sind alle Katzen grau von Lasse Linder: ein Mann und seine zwei Katzen, ein Exzentriker, der mit und für seine Tiere zu leben scheint. Mit den Katzen auf den Schultern im Skiressort oder mit den Katzen im Auto auf dem Weg zum Deckkater und selbstverständlich ist der stolze „Katzenvater“ bei der Geburt der Kätzchen nervös dabei und unterstützt mit leisen „pressen, pressen“ – Anweisungen seine werfende Kätzin. Skurril und lustig, hübsche Katzen inklusive.

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Nach kurzer Pause, zurück zu den Langfilmen und auf Katzen folgen Hunde in Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter. Der essayistische Dokumentarfilm erzählt von Moskauer Strassenhunden, deren bekannteste Vertreterin die Hündin Laika war, die als erstes Lebewesen ins All geschickt wurde. Die exzellente Kamera folgt einigen Strassenhunden im Hier und Jetzt auf Moskaus Strassen, kombiniert aber die Bilder immer wieder mit Archivbildern aus der russischen Raumforschung, wo nach Laika noch weitere, von der Strasse geholte, Hunde für Einsätze im All missbraucht wurden. Bis auf kurze Passagen in denen mit sonorer russischer Stimme die Geschichte und Geschichten aus dieser Zeit erzählt wird, bleibt der Film kommentarlos. Einige Szenen sind aus verschiedenen Gründen nichts für empfindliche Gemüter, aber insgesamt ist Space Dogs ein grossartiger Film.

Hilary Swank
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Am Abend strahlen drei Frauen von der Bühne und der Leinwand auf der Piazza Grande um die Wette: Lili Hinstin, Moderatorin Giada Marsadri und Ehrenleopardpreisträgerin Hilary Swank.

 

Mit der Weltpremiere der Deutsch-Österreichischen Koproduktion 7500 von Patrick Vollrath kommt grosses Actionspektakel auf die Leinwand. Der Nachtflug von Berlin nach Paris wird kurz nach dem Start von Islamisten in seine Gewalt gebracht. Besonders ist der Film, weil konsequent alles ausschliesslich im Cockpit des Flugzeugs stattfindet. Das erlaubt eine sehr dichte Erzählweise einer Geschichte, die im Kino schon oft erzählt wurde. Der Film fokussiert auf die Beziehung zwischen den Figuren, alles, was ausserhalb des Cockpits stattfindet, ist entweder über einen kleinen Videomonitor oder gar nicht zu sehen. Die Aussenwelt wird unerheblich, es zählt nur der direkte Konflikt, das psychologische Duell. Abgesehen davon, dass wie bei fast allen solchen Storys gleich zu Anfang die Figuren auszumachen sind, die den Film auf keinen Fall „überleben“ werden, ist der Film extrem packend, und erfreulich wenig flach in der Zeichnung seiner Hauptfiguren.
Ein regenfreier Festivaltag endet wie er begann: erfreulich.