#FilmTipp Stillstand

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Da war doch was

 

Es ist noch gar nicht lange her, da stand die Welt, wie wir sie kennen, still.
Die Pandemie bestimmte den Tagesablauf, führte zu Situationen, zu Überlegungen, die bis dahin nicht für möglich gehalten worden waren.
Nikolaus Geyrhalters neuer Film Stillstand lässt diese fast zwei Jahre auf der Leinwand Revue passieren.
Und er macht das mit gewohnter Präzision, Geduld und grosser Schönheit.

 

Erinnern

 

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Jeder war dabei, jeder war betroffen, und doch erinnert man sich nur partiell an die Ereignisse. Manches ist immer noch sehr präsent, wie die leergefegte Wiener Innenstadt, die umherflitzenden Polizeiautos oder, etwas später, die vielen Menschen, die ihre Schnelltests zu Sammelbehältern bringen.

 

 

 

Geyrhalter lässt über diese knapp zwei Jahre Wienerinnen und Wiener zu Wort kommen. Die Auswahl der Protagonisten ergibt einen guten Überblick, jeder ist betroffen, aber nicht jeder auf die gleiche Art. Allen gemeinsam ist die Hoffnung, dass diese Extremsituation uns alle nicht nur zum Innehalten, sondern auch zum Überdenken und Umdenken führen wird.

 

Langsamkeit

 

Statt auf Bildermasse setzt Gayrhalter auf Langsamkeit, man kann jedes seiner tollen Bilder in Ruhe ansehen, ohne zu befürchten, dass einem gleich ein Detail entgehen wird. Er verzichtet auf Kommentar und auf Musik, lässt dafür durch Ruhe und Originalgeräusche die Erinnerung wieder aufstehen. Die Interviews sind persönlich, selbst die mit dem Wiener Gesundheitsstadtrat, keine Parolen oder Politphrasen. Und alle durchlaufen die gleichen emotionalen Phasen von Fassungslosigkeit über Hoffnung auf Erneuerung bis zu mittlerer Resignation.
Die Haltung des Films ist dennoch klar, wenn auch eher subtil. Zum Beispiel in der Positionierung von Situationen innerhalb des Films, man kann das als Zuschauer sehen, oder übersehen; Haltung nicht Belehrung.

 

Solidarität

 

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Wie viel von der Solidarität, die am Anfang der Pandemie herrschte, übrigbleiben kann, liegt an uns allen. Wir waren alle dabei, alle betroffen, und doch verschwimmt die Erinnerung langsam. Stillstand funktioniert wie ein Archiv des Erinnerns, und das macht der Film sehr gut und sehr schön.
Wer sich also erinnern möchte, kann den Film weiterhin im Stadtkino sehen.

 

 

 

#FilmTipp Matter Out of Place

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Der Müll und wir

 

 

Warum sollte man sich einen Film über Müll anschauen? Und dann auch noch im Kino?
Im Fall von Matter Out of place, ist ein Grund der Regisseur: Nikolaus Geyrhalter.
Tatsächlich ist es relativ egal, welches Thema Geyrhalter mit der Kamera anschaut, es kommt am Ende ein toller Film heraus.
Das ist auch bei seinem aktuellen Film, der letztes Jahr in Locarno den ersten Grünen Leoparden, für Filme, die thematisch der Umwelt dienen, gewonnen hat.

 

Schöne Wimmelbilder

 

Seine Filme werden beherrscht von langen, schön komponierten Totalen. Es passiert viel in diesen Bildern, und man hat immer die Zeit, sich alles genau anzuschauen, in sich aufzunehmen.
Egal, ob es die vielen Trucks sind, die sich den Berg hoch zur Mülldeponie schleppen, oder die Seilbahn, die den Müllwagen ins Tal befördert. Müllberge, verursacht von Menschen, beseitigt von einer Ameisengleichen Armee von Menschen. Keine Musik, kein Kommentar, nichts lenkt davon ab, für sich selber zu finden, was der Film zu sagen hat.
Und zu sagen hat dieser Film über unser aller Müll eine ganze Menge.
Die Verursacher dieser weltweiten Müllhalden sind wir, wir alle.

Aktuell läuft der Film in Wien im Stadtkino und im Gartenbaukino.

#Diagonale Tierisches

 

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Früh und Sommerlich

 

Während Graz langsam wach wird, geht es los ins erste Kino. Der Unsinn im Buchungssystem der Karten wird offensichtlich: Die gebuchten Sitzreihen sind entweder zu weit vorne oder zu weit hinten. Und statt bequem und bereit zur Flucht am Rand, sind sie mitten in den Reihen. Saalpläne auf der Buchungsseite wären wirklich sehr, sehr hilfreich.

 

Zäher Start

 

Das erste Programm, Kurzdokumentarfilme, klingt gut, klingt spannend, ist am Ende aber nur zu einem Drittel geglückt.
Wir sind alle Kanaken von Kervin Saint Pere will einfach zu viel gleichzeitig. Er thematisiert Kolonialismuskritik, eine sprachwissenschaftliche und soziologische Analyse des Begriffs „Kanake“, und obendrauf noch Kritik an frühen Formen der Ethnologie, am Ende kommt alles zu kurz. Und was vor allem zu kurz kommt, sind die Bilder, das Filmische, obwohl er eine gute Grundidee hat. Von alten ethnologischen, kolonialen Photos schneidet er die abgebildete indigene Bevölkerung aus, hinterlegt die frei werdende Fläche mit Filmbildern, teils aus altem Material, aber auch mit neuen, symbolträchtigen Bewegtbildern. Das alleine wird mit der Zeit anstrengend zu decodieren, weil darüber von Anfang bis Ende der sehr intellektuelle, komplexe, zu komplexe Off-Text liegt. Als Zuschauer hört man auf, den an sich interessanten Gedanken und originellen Bebilderungen zu folgen.
Sehr gelungen, und mit minimalem „didaktischem“ Überbau, kommt Reihe 6 von Lennart Hüper und Bidzina Gogiberidze aus. Sie zeigen das Leben im Exil, in einem Dorf, das zunächst nur ein Flüchtlingslager war. Geflüchtete aus dem von Russland annektiertem Südossetien sind dort gestrandet, hängen geblieben, im Exil in Georgien. Während es für die Grosselterngeneration eine Tragödie bedeutet, Heimat und Gewohntes zu verlieren, spielen die im Exil geborenen Kindern völlig entspannt, leben wie alle Kinder, und wollen eines sicher nicht: den Ort verlassen, der für sie Heimat ist.
Tara Najd Ahmadi will in My Sleepless Friends die Schlaflosigkeit ergründen, ihre und die ihrer Freunde. Sie mischt dafür Gespräche – Online-Interviews – mit sehr disparaten und – für sie –assoziativen Bildern. Die Idee dahinter ist klar, aber die real existierende Ausführung funktioniert nicht. Die Bilder und ihr Rhythmus scheinen völlig beliebig über den Texten zu liegen, mal als Überlagerung, mal in langen Ein- und Ausblenden, ihre Beziehung zum Gesagten mag sich für die Regisseurin völlig logisch erschliessen, als Zuschauer wundert man sich und ist verwirrt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit viele Gründe hat, und dass 20 Minuten ganz schön lang werden können.

 

 

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Sehr schön Dunkel

 

Nachdem die Vorstellungen weitgehend entzerrt wurden, ist immer wieder Zeit, in der Sonne zu sitzen, die letzten Bilder sacken zu lassen, und sich auf die nächsten Bilder vorzubereiten.
Mit frischem Blick also zurück ins Dunkel, und das ist durchaus wörtlich gemeint.
Staging Death von Jan Soldat zeigt in 8 kompakten Minuten die Filmtode von Udo Kier. Alle Filmtode! Das ist witzig, skurril, gekonnt und sehr blutig. Kier als Meister des abseitigen Films bietet eine wirklich sensationelle Bandbreite an Filmtoden.
Wenn Albträume albträumen würden, dann käme dabei wahrscheinlich sowas wie Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 – The Orgy of the Damned heraus. Wie schon im ersten Teil der als Trilogie angelegten Geschichte, taucht Pfaffenbichler Kellerräume in monochrom eingefärbte Horrorräume, in denen maskierte Gestalten ihr Unwesen treiben. Blut, Gedärme, Sex und Gewalt in allen möglichen Kombinationen, die sich damit ersinnen lassen, und alles ohne eine einzige Dialog- oder Textzeile. Aber bei allen originellen Einfällen, in der Basis erzählt er eine Geschichte voller Liebe, Empathie, Action und Verrat und löst die Sequenzen auch ganz klassisch oder genregerecht auf. Die Phantasie, das Aussergewöhnliche kommt allein aus den schrägen Gestalten, aus den Orten, der Farbdramaturgie, der Tonspur und der überbordenden Menge an vermeintlichen Schockeffekten. Ein Konzept, das wunderbar funktioniert, sofern man mit dem Genre keine Probleme hat.
Danach wundert man sich, dass draussen Menschen friedlich und unverletzt in der Sonne sitzen.

 

Der Nachwuchs schläft nicht

 

N.Geyhalter mit jungem Filmteam
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Während der nächsten Pause plötzlich hektische Betriebsamkeit. Eine Gruppe ganz junger Filmschaffender rennt in den Hof des Schubert-Kinos, räumt Tische weg, baut ihr Equipment auf. Auftritt Nikolaus Geyrhalter, der von der Gruppe interviewt wird. Der Profi ganz entspannt, die künftigen Profis leuchten still vor sich hin, ein schönes Bild. Am Ende des Interviews gibt er dem jungen Tonmann noch einen Tipp, wie er die Tonangel besser halten kann, ohne dabei Kraft zu verlieren.

 

Stilisiert

 

Le Formiche di Mida von Edgar Honetschläger will mit seinem Film dazu beitragen, dass der Mensch mit der ihn umgebenden und ihn nährenden Natur (wieder) pfleglich umgeht. Das ist ein nobles Ansinnen. Ob sein überstilisierter Film das wirklich schafft, bleibt unsicher. Über den immer sehr schönen Bildern liegen fast konstant Off-Texte, in denen die diversen Mythen, Philosophien und Religionen das Verhältnis von Mensch und Natur verhandeln. Es „sprechen“ ein Esel, ein Baumgeist, Ameisen, und – grösstenteils– Männer, deren Funktion im Gefüge nicht näher definiert werden. Das hat etwas filmpoetisch-essayhaftes und kann, wenn man sich Mühe gibt, mit den Landschaftsbildern in Beziehung gesetzt werden. Über die Länge des Films ist es aber etwas manieriert. Und die Frage, ob der Mensch die Natur nährt, oder die Natur den Menschen, ja, kann man diskutieren, ist aber beim aktuellen Zustand der Umwelt fast schon egal.

 

Tiere gehen immer

 

Während der Hochphase der Pandemie hatte auch der Salzburger Zoo geschlossen. Von den Tieren und ihren Pflegern in dieser Zeit handelt Zoo Lock Down von Andreas Horvath. Was bereits nach den ersten Minuten nervt, ist die Musik, sie suggeriert Spannung bis hin zu Horrorelementen, die der Film dann in keinster Weise einlöst. Insgesamt leitet der Film einen grossen Teil seiner Spannung von behaupteten Kausalzusammenhängen her, die aber selten belegt werden. Ja, dafür ist Schnitt (auch) da, man zeigt ein Tier, man hört ein Geräusch, man zeigt den Blick, oder die Bewegung. Wenn man also erklären will, wie Filmschnitt funktioniert, dann kann man das hier gut zeigen. Aber Horvath macht es sich damit irgendwie zu leicht, er zeigt zu selten den Gesamteindruck, und spielt zu oft mit den kreierten Erwartungen. Schön ist, dass es weder Interviews noch Kommentare gibt, die Tiere tun, was sie so tun in ihren Gehegen und Käfigen, die Pfleger arbeiten, und selbst die Tiere, die verfüttert werden, werden liebevoll in ihren Behausungen gezeigt. Am wildesten ist eine Sequenz, in der einem betäubten Nashornbullen von zwei Tierärzten Sperma „abgezapft“ wird. Das Spendersperma wird kurz untersucht und dann einer, ebenfalls betäubten, Nashornkuh in mühevoller Arbeit in die Gebärmutter gespritzt. Was man nie erfährt: Ist diese Transaktion erfolgreich verlaufen? Ein kleiner Verweis im Nachspann wäre schön gewesen.
Es wurde auf jeden Fall viel und fröhlich gelacht im Kino, weil: Tiere gehen immer.

 

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#Locarno75_ Zum Schluss

 

 

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Brotjob zuerst

 

Als Kelly Reichardt gestern Abend ihre Ehren-Leoparden bekam, wurde auch sie gebeten, einen Tipp für zukünftige Regisseure und Regisseurinnen zugeben.
Dieser Rat fiel gleichermassen pragmatisch wie traurig aus: „Sucht euch auf jeden Fall einen Brotjob“. Film(kunst) bleibt ein Vergnügen, das man sich leisten können muss, vor allem, wenn man unabhängig von eingefahrenen Sehgewohnheiten und Formen produzieren will.

 

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Hexen

 

Bei gleissendem Sonnenschein ein letztes Mal in einen dunklen Kinosaal.
Der Kontrast von realem Aussen zu Svetlonoc (Nightsiren) von Tereza Nvotová könnte nicht grösser sein. Ein abgeschiedenes Dorf in der Slovakei, die Menschen dort sind abergläubisch, heuchlerisch und brutal. Hier ist es normal, seine Ehefrau zu prügeln, der jungen Nachbarin nachzustellen und alles, was ein bisschen fremd ist, als Hexe zu diffamieren.
In dieses Dorf kommt eine junge Frau zurück und findet sich fast sofort mitten im Strudel aus Missgunst, Aberglaube und Brutalität. Nur langsam erschliessen sich die Beziehungen der Frau mit den anderen Dorfbewohnern und mit einer weiteren jungen Frau, die erst seit kurzem im Dorf lebt. Ein düsteres Märchen voller schwarzer Symbolik und mit viel reinigendem Feuer.

 

 

Lichtspiele
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Die Leoparden-Show

 

Dieses Jahr gab es nicht nur viele schräge, ungewöhnliche Filme im Programm, sondern auch viele Filme, die mutig Themen behandelt haben, die ausserhalb des Gängigen liegen. Und so gehen alle Leoparden an wirklich aussergewöhnliche und tolle Filme und ihre Macher und Macherinnen.

Besonders schön sind zwei der Preise der Jugendjury, weil sie sich wirklich zwei komplexe, komplizierte und sehr schöne Filme ausgesucht haben:
Piaffe von Ann Oren und Balıqlara xütbə (Sermon to the fish) von Hilal Baydarov.

 

Goldener Leopard
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Pardo d’oro Internationaler Wettbewerb:
Regra 34 (Rule 34) von Julia Murat

Pardo d’oro Cineasti del presente:
Svetlonoc (Nightsiren) von Tereza Nvotová

 

 

Spezialpreis der Jury Cineasti del presente:
Yak Tam Katia? (How is Katia?) von Christina Tynkevyc
Bester Erstlingsfilm:
Sigurno mjesto (Safe Place) von Juraj Lerotić
WWF Pardo verde:
Matter out of Place von Nikolaus Geyrhalter

Alle Preise gibt es hier.

 

Alle Preisträger&Julia Murat
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Letzte Vorstellung

 

Nachdem alle Preisträger auf der Bühne waren und Präsident Marco Solari das Festival mit Dank an alle Beteiligten beendet hat, ein letzter Film.

Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit von André Schäfer.
Wer den Autor Suter kennenlernen will, hat in diesem Dokumentarfilm Gelegenheit, sowohl seinen Werdegang, sein Privatleben und Texte seiner Bücher zu sehen. Die Mischung, auch mit unter den Buchpassagen liegenden (stummen) Spielszenen, und Suter in allen Lebenslagen, ist eine Weile lustig, nutzt sich aber doch schnell ab. Danach wird der Film eher langatmig und etwas eitel. Die lustigste Szene, die auch spontan Applaus bekam: Suter und der Musiker Stephan Eicher überqueren den „Röstigraben“, sie reden dabei zunächst Französisch miteinander, dann mitten im Satz und im Gehen Schweizerdeutsch, bleiben stehen, gehen zurück, das gleiche Spiel, und wieder vorwärts, nochmal der Sprachwechsel im Satz, im Gehen.
Das ist kurz genug gehalten, um wirklich lustig zu sein, und sehr schweizerisch.

 

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Das war also die 75. Ausgabe des Locarno Filmfestivals. Es war wärmer als in manchen anderen Jahren, es war so voll wie seit zwei Jahren nicht mehr, es war insgesamt ein schönes Festival.
Am 2. August 2023 wird Marco Solari, zum letzten Mal als Präsident, das Festival eröffnen. Bis dahin heisst es, Ausschau halten, nach den Filmen, die hier gelaufen sind und ins Kino gehen.

 

 

#Locarno75_ Abgründe

 

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Festivalalltag

 

Nachdem im letzten Jahr alles kontrolliert wurde, also Ticket, Impfpass, Ausweis und dann noch Taschenkontrolle, ist es dieses Jahr erstaunlich entspannt. Ticket in der App (oder auf Papier) zeigen, Tasche öffnen, erklären, dass die Trinkflasche nicht aus Glas ist. Manchmal wird das mit einem leichten Schlag der Taschenlampe gegen die Flasche gegengecheckt, fertig. Ab ins Kino, abkühlen.
Was geblieben ist aus den restriktiveren Ausgaben, ist die Reservierung von Tickets, allerdings ohne festen Sitzplatz, und die zeitlich etwas weiter auseinanderliegenden Vorstellungen. Man braucht nicht ganz so sehr zu rennen, in der Theorie ist damit auch mal ein Kaffee drin, oder etwas zu essen, wobei, das ist dann fast schon wieder herausfordernd.

Plastikstühle im Fevi
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Langsam werden auch alle Kinositze unbequem, egal, ob weiche, breite Kinosessel oder Varianten von Plastikstühlen, die persönliche Sitzfläche leidet.

 

 

Kinderseelen

 

Wenn schon Erwachsenwerden schwer ist, um wieviel schwerer muss das sein, wenn man eine labile Persönlichkeit ist. Das lotet Franciska Eliassen in Den siste våren aus. Zwei Schwestern im nördlichen Norwegen, in einer Gegend, die ausser Natur nicht viel zu bieten hat. Das ältere der beiden Mädchen verliert sich im Lauf der Geschichte immer mehr in Ängsten und Wahn, während die jüngere, bodenständiger, versucht zu begreifen, was passiert. So fängt sie an, das Tagebuch ihrer Schwester zu lesen, in dem Kollagen und wüste Gedanken von einer immer schwärzeren Gefühlswelt zeugen. Wie kann man sich an einer immer kränkeren (Um)Welt reiben, seine Grenzen finden, wenn sich die umgebende Welt in Auflösung und freiem Fall befindet? Der Film arbeitet viel mit der Landschaft und mit immer mehr symbolisch aufgeladenen Bildern, der Seelenzustand der grossen Schwester übernimmt die visuelle Umsetzung auf der Leinwand. Auch hier darf am Ende ein Lämmchen symbolhaft über den Küchentisch staksen, da der Film aber insgesamt mit Metaphern und Symbolen arbeitet, stört auch das Lamm nicht.

 

Ist Sex politisch

 

Ein weiterer anstrengender, aber auch nachdenklich stimmender Film:
Regra 34 von Julia Murat. Simone, eine junge, schwarze Brasilianerin, Jurastudentin und künftige Pflichtverteidigerin, verdient sich ihr Studium mit Online Sexchats. Ein lukratives Geschäftsmodell, bei dem sie auch Spass hat. An der Uni führen sie Diskussionen zu Unterdrückung, Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, staatliche Gewalt, und Möglichkeiten, all das zu verbessern, ohne dabei wieder staatliche Gewalt auszuüben. Hochtheoretische Diskussionen, die auch im Privatleben weitergehen. Wie weit sind Simones, immer mehr Richtung S/M-Sex gehenden, sexuellen Aktivitäten eine Selbstermächtigung, und damit auch politisch? Oder sind sie doch ein Zeichen ihrer Unterdrückung in einem patriarchalischen System? Der Film dekliniert die Frage bis zum gefährlichen Ende durch, ohne plakative Antworten oder moralischen Zeigefinger.

 

Es wird recycelt
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Müll

 

Wir alle produzieren zu viel Müll, so weit, so wenig überraschend. Nikolaus Geyrhalter macht daraus in Matter Out of Place einen Kinofilm. Und er macht das so, wie er alle Themen behandelt, mit wunderbaren Bildern, in meistens sehr weiten Totalen, die in Ruhe angeschaut werden können. So also auch diesmal. Von Albanien über Nepal, von den Malediven bis Österreich, vom Mittelmeer bis in ein schweizer Skiressort, überall grosse Mengen von Müll, grosse Maschinen, grosse LKW. Überhaupt ist alles gross, ausser den Menschen, die den Müll produziert haben, und ameisengleich letzte Hand in der Entsorgung anlegen. Gesprochen wird so gut wie nie in diesem Film, am Anfang reden Leute einmal miteinander, und am Ende noch einmal, das war es. Den Rest darf man als Zuschauer anschauen, staunend, sich schwörend, nie wieder Müll zu produzieren.  Einige Zuschauer haben diese mächtigen, vollen Bilder nicht ausgehalten und verliessen das Kino, das ist schade.
Der Film könnte auch ein guter Kandidat für den neuen grünen Leoparden sein.

 

 

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Noch mehr Abgründe

 

Jeden Abend eine Ehrung, das ist der Glamourfaktor, der mal besser, mal schlechter funktioniert. Heute Abend war es Laurie Anderson, die für ihr künstlerisches Schaffen einen Leoparden bekam. Und sie wurde laut und herzlich vom Publikum gefeiert.

Danach dann der erste Langfilm der schweizer Regisseurin Caterina Mona:
Semret.
In der Säuglingsabteilung eines Züricher Krankenhauses arbeitet die Eritreerin Semret, neben ihrer Arbeit gibt es für sie nur ihre Tochter, die sie versucht,vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Aber die 14-Jährige rebelliert, will wie ihre Schulfreundinnen auch mal weggehen dürfen, will mehr wissen über das Leben in Eritrea, doch Semret verweigert alles. In kleinen Häppchen muss sie sich ihre Vergangenheit doch stellen. Der Film deutet dabei gerade so viel an, dass man versteht, ohne einen langen, dramatischen Seelenstriptease zu bieten, und auch wenn einiges sich zum Guten wendet, lässt er auch zu, dass eben nicht alles am Ende einer Geschichte schön und rosig ist.

 

 

 

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Gelb-Schwarz

 

Nicht alles, was in gelb-schwarz daher kommt, ist ein Filmfestivalfan. Dieses Jahr sind besonders viele Wespen unterwegs. Kein Tisch in einer Bar ohne umherschwirrende Wespen, und selbst auf der Piazza, wenn die sich Abends die ersten Zuschauer ihre Plätze sichern, fliegen die gelb-schwarzen Plagegeister herum.

Brüder

 

Wie umgehen mit dem Suizid des eigenen Bruders? Juraj Lerotić macht darüber den Film: Sigurno mjesto (Safe place).
Der Film besticht in erster Linie durch seine sehr geometrischen Bilder. In fast jeder Einstellung gibt es mittig etwas, das als Tür, Fenster, Ausgang, Fluchtpunkt gesehen werden kann. Mal sind es tatsächlich Türen oder Fenster, manchmal aber auch grosse Bilder, oder Linien in der Architektur der Szenerie, die eine Öffnung bilden. Die Figuren sind oft am Rand des Bildes, hier, aber doch nicht ganz da. Spiegelungen sind ein weiteres Element, das den Fokus verschiebt, und das Ende vorwegnimmt, oder vorbereitet. Die Geschichte folgt den Brüdern vom ersten Suizidversuch, der Flucht aus dem Krankenhaus, zeigt die Versuche, die Situation, das Problem zu begreifen. Der Regisseur nutzt verschieden Mittel, um die Schichten der Problematik künstlerisch zu bearbeiten. So wechselt er relativ am Anfang des Films innerhalb einer Szene die Zeit – und Realitätsebenen, zusammen mit der visuellen Umsetzung entsteht daraus während der Filmgegenwart ein Hinweis auf die Filmzukunft.
Die streng komponierte Form kreiert eine Ebene, die das Unbegreifliche vielleicht begreiflicher macht.

 

Liebe

 

Ein Kurzfilmprogramm der Liebe in all ihren Formen gewidmet. In Euridice, Euridice von Lora Mure-Ravaud ist das am deutlichsten und am schönsten. Die grosse, leidenschaftliche Liebe zweier junger Frauen wird durch den plötzlichen Tod der einen jäh zerrissen. Zurück bleibt eine tiefe Wunde, auch wenn das Leben weiter geht. Immer wieder scheint die Geliebte aufzutauchen, den Neuanfang macht das zeitweilig fast unmöglich. Eine Geschichte in schönen Bildern, gut gespielt und ans Herz gehend.

Tako se je končalo poletje (That’s How the Summer Ended) von Matjaž Ivanišin ist da eher spröde. Ein Mann und eine junge Frau am Wasser sitzend, wortlos. Spannung scheint in der Luft zu liegen, bis ein anderer Mann kommt, und die Frau ihm folgt. Am Himmel schlagen Flugzeuge Kapriolen. Im ersten Moment wirkt der Film gar nicht, aber er wirkt nach, und das ist dann auch schön. In HEARTBEAT von Michèle Flury geht es um 4 Freundinnen. Sie campen zusammen, irgendwo im Wald, aber zwischen zwei von ihnen schient etwas zerbrochen zu sein. Eine echte Aussprache findet nicht statt, so vergeht eine Mädchenfreundschaft.

AirHostess-737 von Thanasis Neofotistos ist eine wilde, etwas absurde Geschichte. Eine ältere Stewardess, ganz frisch mit Zahnspange geschlagen, scheint irgendwie nicht gut drauf zu sein. Plagen sie Schmerzen wegen der Zahnspange? Als das Flugzeug in Turbulenzen kommt, erzählt sie fast schreiend ihre Lebensgeschichte, und dass die sterblichen Überreste ihrer Mutter im Flugzeug mitfliegen. Am Ende ein etwas verhuschtes Zahnspangenlächeln. Naja.

 

 

Der rote Teppich wird geputzt (c) ch.dériaz

 

Neokolonialismus

 

In der Kategorie extrem seltsamer Filme nimmt Nossa Senhora da Loja do Chinês von Ery Claver einen der vorderen Plätze ein. Nach eigener Aussage, am Ende der Vorführung, wollte der angolanische Regisseur „a fucked up fairytale“ machen. Nun, das sollte soweit gelungen sein. Der Film hat so viele Schichten, die auch nicht immer in der „richtigen“ zeitlichen Abfolge erzählt werden, dass man schwindlig werden kann. Eine chinesische Off-Stimme erzählt, im Stil eines Märchens, doch was erzählt wird ergibt zunächst keinen Sinn. Ein kranker Mann, leidend, seine Frau, die endlos Wasser, das von der Decke stürzt, in Eimern rausträgt, ein junger Mann auf der Suche nach seinem Hund und ein chinesischer Ladenbesitzer, der Madonnen-Figuren verkauft, sind die Hauptfiguren der Geschichte. Die christlichen Figuren, als Symbol des ersten Kolonialismus, das chinesische Viertel mit all seinen modernen Symbolen und seiner bedeutenden wirtschaftlichen Macht, der neue Kolonialismus, dazwischen Aberglaube und eine Politfarce. Schon spannend alles, sehr schön gedreht, sehr komplex und sehr fremd.

 

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Politischer Abend

 

Ein grosser Regisseur bekommt am Abend den Ehrenleoparden für sein künstlerisches Schaffen: Costa-Gavras. Gefragt nach seinem Tipp für heutige junge Regisseure und Regisseurinnen, empfiehlt er, mit einem Krimi anzufangen, und zu schauen, dass man dafür gute Darsteller findet.

Alles andere als ein Krimi ist der Film des Abends, spannend ist er trotzdem.
Annie Colère von Blandine Lenoir, spielt in Frankreich 1974, dem Jahr, bevor das Abtreibung legalisiert wurde. Als die Fabrikarbeiterin Annie, Mutter zweier Kinder, wieder schwanger wird, findet sie Hilfe und Unterstützung in einer der vielen Hilfsgruppen, die sich damals formierten. Die Gruppen verstehen sich als sowohl politisch wie auch praktisch. Freiwillige Helferinnen, Ärzte und Ärztinnen, zum Teil noch studierend, bieten Rat, Hilfe und führen Abtreibungen durch, illegal, aber nicht heimlich. Annie engagiert sich immer mehr in der Gruppe, und verändert damit auch ihr eigenes Leben. Ein schöner Film, mit einem tollen Darstellerinnenensemble, der ein wieder wichtiges Thema mit Gefühl aber ohne Pathos behandelt.

Das Festival geht in die Schlussgerade, und immer noch würde ich bei keinem Film auf einen Preis wetten.

 

 

#Locarno 75 Vorschau

 

(c) LocarnoFilmfestival

 

 

 

Locarno zum 75. Mal

 

 

Das Programm ist schon seit einer Weile online, aber erst seit Anfang dieser Woche stehen auch die Termine genau fest. Die Locarno App ist jetzt auch freigeschaltet, der Vorarbeit und der Vorfreude steht also nichts mehr im Weg.
Ein schneller Blick ins Programm verspricht Spannendes, Schräges und Politisches, und auch Filme, die sensible Zuschauer schockieren werden können.
Unter Letzterem waren in den vergangenen Jahren eher Filme von schockierend mickeriger Machart zu verstehen, aber man darf ja hoffen und träumen im Kino.

 

Menschliches Interagieren

 

Familien, die auseinander fallen; Welten, die man für sicher hielt, zerbrechen; Lieben gehen verloren und Seltsames ereignet sich.
Nur ein paar Themen – mal bunt, mal schwarz-weiss  — aus dem Wettbewrb Cineasti del presente:

Yak Tam Katia? (How Is Katia?) von Christina Tynkevych

A Perfect Day for Caribou von Jeff Rutherford

Nossa Senhora da Loja do Chinês (Our Lady of the Chinese Shop) von Ery Claver

 

Gewalt, Umwelt und Satanisches

 

Im internationaler Wettbewerb läuft Nikolaus Geyrhalters neuer Dokumentarfilm Matter out of Place.
Ein Film vom Müllentsorgen in entlegenen Gegenden. Wer Geyerhalter kennt, weiss dass das spannend wird.

Wieder Gewalt (mit Warnhinweis) und Familie, die nicht halten wird, was man sich von ihr verspricht in:  Bowling Saturne von Patricia Mazuy

Und satanisch soll es in Skazka (Fairytale) von Alexander Sokurov zugehen.

 

Gross und laut

 

Der Eröffnungsfilm auf der Piazza Grande, dem Ort für eher konventionelleres Kino, verspricht mit Bullettrain von David Leitch schnell, laut und spannend zu werden.

 

Mehr und vor allem mehr im Detail gibt es ab 3. August.

 

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