Der Blog

59.Solothurner Filmtage Heimat

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

Farbspiele

 

Bei eisiger Kälte geht es morgens zur Früh-Vorstellung. Der Saal ist selbst um 9:15 sehr gut gefüllt. Die Belohnung fürs frühe Aufstehen lässt nicht auf sich warten.

Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani ist so weit der schönste Film im Programm. Zu schade, dass er nicht in der Auswahl zum Hauptpreis steht.
Wie bei Naverianis letztem Film Wet Sand spielen auch hier Farben und Bildausschnitte eine zentrale Rolle, und begeistern und verzaubern jenseits der wunderbaren Geschichte. Ein kleines Dorf, irgendwo in Georgien, die Zeit ist daran vorbeigegangen, ein kleiner Laden für Seifen und Waschmittel, eine Frau, fast fünfzig, alleinstehend, zufrieden. Etero ist selbst dann mit sich und der Welt im Reinen, wenn sie von ihren Freundinnen übel verspottet wird. Unerwartet, und ganz schön spät im Leben, platzt die erste Liebe in ihr Leben, Gefühle, die sie so nicht kennt und über die sie auch nicht sprechen kann und mag. Jede Einstellung in diesem Film möchte man als Postkarte oder als Poster an die Wand hängen. Naveriani gestaltet ihre Szenen wie Gemälde, wählt Farben und Ausschnitte, jedes kleinste Detail gehört zur Inszenierung, kein Zufall, keine unnötige Bewegung. Die Farben der Orte spiegeln die Gefühle der Protagonistin wider. So dominieren in ihrem Zuhause warme Erdtöne wie bei niederländischen Meistern, bei den Dorffrauen sind es eher helle Töne, die nie ganz zusammenpassen. Das lesbische Paar in der nächsten Stadt wiederum ist in leuchtendes Pastell gehüllt wird, passend zur liebevollen Atmosphäre, die dort herrscht und mit der Etero dort empfangen wird. Der Film lässt offen, ob man am Anfang des Films bereits das Ende vorhersieht, oder ob das nur eine mögliche Vision von Etero ist; man kann also wahlweise traurig oder eher beschwingt den Saal verlassen. Beglückt ist man auf jeden Fall.

 

(c) ch.dériaz

 

 

Klamauk

 

Wer behauptet, dass Schweizer keinen Humor haben, oder nicht über sich lachen können, sollte Bon Schuur Ticino von Peter Luisi sehen. Der Film war im vorgegangen Jahr einer der erfolgreichsten in der Schweiz. Dabei veralbert er einige der „heiligen Kühe“ der Schweiz: die direkte Demokratie und die Viersprachigkeit. Eine Volksabstimmung bringt scheinbar den Willen zutage, dass in der Schweiz nur noch eine Sprache, und zwar Französisch, gesprochen werden soll. Besonders im Tessin wehrt sich die Bevölkerung dagegen, es formiert sich Widerstand, die Grenzen zum Rest der Schweiz werden geschlossen, ein Bürgerkrieg droht. Aber ein Polizist aus der Deutschschweiz, sein merkwürdiger welscher Kollege und eine Tessiner Wirtin decken in letzter Minuten die Geschichte auf. Es gab viel Gelächter und Szenenapplaus im restlos vollen Saal. Allerdings ist das ein Film, der es wohl eher nicht über die nahen Grenzen schaffen wird, zu viele Sprachen, zu viele Interna. Aber sehr lustig.

 

Heimat? – Heimaten?

 

Gibt es einen Plural zu Heimat, fragt der Regisseur am Anfang einen seiner Protagonisten. In Echte Schweizer versucht Luka Popadić diese und andere Fragen zu klären. Selbst stellt er sich im Film vor als: serbischer Regisseur und Schweizer Hauptmann. Und damit ist das Thema etabliert: Schweizer, deren Eltern als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, die in der Schweizer Armee nicht nur die Rekrutenschule gemacht haben, sondern auch Offiziere sind. Sie haben serbischen, tamilischen, tunesischen familiären Hintergrund, aber sie sind eben auch Schweizer, mit allem, was für sie dazu gehört, und das ist auch die Landesverteidigung. Der Film zeigt sie zu Hause und in ihrer Eigenschaft als Offiziere, lässt sie über die Ambivalenz ihrer Herkunft und ihrer Heimat sinnieren. Und darüber, dass die Schweiz wohl trotzdem noch nicht so weit ist, etwa einen muslimischen General oder Bundesrat zu bestellen.
Sie sind echte Schweizer, auch wenn man ihnen das ohne Uniform manchmal abspricht.
Es wäre spannend gewesen, auch bei diesem „Heimatfilm“ die Reaktion des Publikums mitzubekommen, aber der Saal war restlos voll, daher blieb nur das Sichten am Computer, fern jeder Reaktion.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Leichtigkeit

 

Zum Abschluss des Tages, noch ein Film mit einer Frau, die mit sich im Reinen ist, und sich gegen ihre Umgebung behauptet. Le vent qui siffle dans les grues von Jeanne Waltz ist die Geschichte von zwei Familien und der scheinbaren Unvereinbarkeit ihrer Lebenswelten. Eine Liebesgeschichte, der soziale und ethnische Unterschiede im Weg zu stehen scheinen. Aber hauptsächlich ist es die Geschichte von Milenie, die ein bisschen verrückt, ein bisschen wortkarg, ein wenig anders ist, aber die mit ungebremster Lebensfreude alle Hürden und alle Gemeinheiten seitens ihrer Familie einfach überspringt, als wäre nichts im Weg gewesen. Sie ist dabei entwaffnend ehrlich, selbstlos und arglos. Der Film, macht trotz einiger böser Wendungen die Leichtigkeit und Sorglosigkeit der jungen Frau spürbar, setzt sie in Bilder um und ist einfach schön.

 

 

59.Solothurner Filmtage Fremd

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

Grosser Andrang – grosser Applaus

 

 

Das Interesse an Filmen, egal welcher Art, ist in Solothurn ungebrochen. Bereits eine Minute nachdem für den Folgetag reserviert werden kann, ist ein Dokumentarfilm am Nachmittag ausreserviert. Das heisst, da die Reservierung für Akkreditierte erst eine Minute lief, gekaufte Plätze. Das ist sehr schön für die Filmwirtschaft und das Festival, aber sehr ärgerlich für mich.
Es sind überhaupt die Kinos voll, egal zu welcher Uhrzeit, egal welche Art Film gezeigt wird.
Filme im Kino schauen ist immer noch nicht tot, egal wie oft das propagiert wird, egal wie viel Streamingdienste es gibt!

 

Loslassen

 

Laissez-moi von Maxime Rappaz ist ein sanfter, etwas trauriger Film übers Loslassen. Claudine, Mutter eines erwachsenen, behinderten Sohns, gönnt sich ihre Auszeit von Arbeit und Pflege, indem sie einmal wöchentlich mit fremden Männern in einem abgelegenen Hotel schläft. Bis eines Tages ein Mann nicht fremd bleiben will. Ihre Welt, die eigentlich aus einer ungesunden Abhängigkeit zwischen ihr und ihrem Sohn besteht, gerät durcheinander. Sie wird sich entscheiden müssen, ihm die Freiheit zu geben, die auch sie selber so sehr braucht. Der Film besticht hauptsächlich wegen seiner Darstellerin, Jeanne Balibar, der man das Zerbrochene, Suchende in jeder Szenen schmerzlich ansieht.

 

 

Kleine Fische

 

(c) ch.dériaz

Politik, Mafia und Kriegsverbrechen prallen in Silence Of Sirens von Gazmend Nela aufeinander. Zwei Streifenpolizisten, denen kleinere Bestechung nicht fremd ist, halten bei einer Verkehrskontrolle einen Mann an, der nicht nur betrunken scheint, sondern auch noch eine Tasche voller Bargeld bei sich führt. Kurzerhand verhaften sie ihn. Und setzen damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die sie fast ihr Leben kosten wird. Eine Art Krimi vor dem oft wirren Hintergrund von Kriegsverbrechen, Korruption und Machtmissbrauch. Auf der Strecke bleiben, nicht nur im Kosovo, die kleinen Fische, während die anderen friedlich weiter in ihren Villen leben und mit dicken Autos rumfahren. Düstere Bilder, eine trostlose Landschaft, und kleine Polizisten, die irgendwie versuchen am Ende des Tages genug Geld nach Hause zu bringen.

 

 

Chaos

 

Aus dem Film Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste von Adrian Winkler kommt man überwältigt raus. Überwältigt von der akribischen Recherche, der Masse an Material, das zusammengetragen wurde, aber auch von den Ereignissen, die der Film auf die Leinwand bringt. 1970 entführt die Palästinensische Befreiungsfront eine Swissair-Maschine. Bei der Landung in der jordanischen Würste befindet sich dort bereits eine weitere entführte Maschine, und eine dritte wird noch folgen. Die Ereignisse werden aus Nachrichtenmaterial der Zeit, aber auch aus Swissair-Bildern und neuen Aufnahmen am Anfang so montiert, dass man sich mitten in einem Actionfilm wähnt. Allerdings sind von Anfang an immer wieder Zeitzeugen zu hören und zu sehen: Crewmitglieder, Passagiere, Verhandler des Internationalen Roten Kreuzes. Die Spannung bleibt dennoch aufrecht, verführt aber nicht dazu, die Ereignisse für Spielerei zu halten. Atemlos macht einen auch das Chaos, das bei den Verhandlungen sowohl in Jordanien als auch in der Schweiz, den USA, Israel und Grossbritanien herrscht. Politisches Kalkül, das nicht immer nachvollziehbar ist, wechselnde Positionen besonders von Seiten des jordanischen Königs und dazwischen Geiseln, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird, und Terroristen, denen die Situation über den Kopf zu wachsen scheint. Man verlässt das Kino und weiss, auch 50 Jahre später ist die politische Lage im Nahen Osten nicht besser geworden.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

Echt nachgestellt

 

Den bisher längsten, lautesten und euphorischsten  Applaus gibt es am Abend für:
Die Anhörung von Lisa Gerig.
Dabei ist der Dokumentarfilm weder leicht noch witzig, noch behandelt er ein „Wohlfühlthema“, auch Tiere kommen keine vor. Stattdessen geht es um 4 Asylbewerber aus verschiedenen Ländern, die ihre Asylanhörungen für den Film nachstellen. Mit dabei echte Mitarbeiter des Staatssekretriat für Migration, echte Dolmetscher, Schriftführer und Beisitzer. Dieses Nachstellen wird von Anfang an klar gezeigt, es wird der Raum hergerichtet, während einige der Protagonisten nebenbei erzählen, was wo üblicherweise steht, oder wie sich das anfühlt, so von mehreren Beamten angestarrt und ausgefragt zu werden. Die Szenen wechseln von „Gruppe“ zu „Gruppe“, die Geschichten gleichen sich nicht, aber die Fragen, oder eher die Art der Fragen, oder das manchmal quälend langsame der Übersetzungen, Nachfragen, Insistieren, Unterbrechen. Eine Situation, in der man nicht stecken möchte. In der Mitte des Films, eine Phase der Ruhe, das Team, die Protagonisten vereint in der gemeinsamen Mittagspause, die Gespräche fast entspannt. Gegen Ende dreht die Regisseurin die Geschichte um, lässt die Asylbewerber in der gleichen Art Fragen an die Beamten stellen. Fragen zu ihrer Motivation, diesen Job zu machen, Fragen zu ihrem Erinnerungsvermögen, Fragen, die ihnen zum Teil unangenehm sind. Daraus resultieren kurze Momente grosser Heiterkeit, auch wenn der Ernst der Situation ständig im Raum bleibt. Die Mischung aus Künstlichem, also Nachgestelltem, und Echtem, also den Fluchtgründen, ergibt einen anstrengenden, aber auch beeindruckenden Film. Der Schlussapplaus gilt nicht nur dem Film und der Regisseurin, sondern fast noch mehr den anwesenden Protagonisten.

Am Sonntag gibt es zum Thema Wirklichkeit im Dokumentarfilm eine Diskussionsrunde in der Programmschiene Fare Cinema.

59.Solothurner Filmtage Im Wandel

(c) ch.dériaz

 

 

 

Filmrezeption im Wandel der Zeit

 

 

(c) ch.dériaz

Statt eines Films zum Festivalstart, eine Diskussionsrunde der Reihe Fare Cinema zum Thema: Widerstand auf – und neben der Leinwand.
Wie gehen Filme oder eher Filmschaffende mit dem Thema Widerstand und der darin wohnenden Gewalt um? Wie ändert sich die Sichtweise auf widerständige Personen oder Gruppen? Was zeigt man, was lässt man weg? Und inwieweit beeinflussen ganz aktuelle Ereignisse die Arbeit an einem – fast fertigen– Film? Am Beispiel der Filme Autour du feu (Laura Cazador), La scomparsa di Bruno Breguet (Kathrin Plüss, Cutterin), Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste (Laurin Merz) zeigt sich, wie unterschiedlich manchmal identisches Archivmaterial durch den Schnitt wirkt. Man sieht aber auch, wie sich der Begriff Terrorist mit der Zeit verändert. Eine spannende Diskussion, die auch zeigt, wie politisch Film sein kann und dass trotzdem der hehre Wunsch, Filme mögen die Massen belehren, fallengelassen werden muss. Ersetzt wird dieser Wunsch durch die Hoffnung, bei Zuschauern wenigstens ein Nachdenken anzustossen.

 

Strom

 

Electric Fields von Lisa Gertsch ist ein schräger Episoden-Film. Und auch wenn er sich in seiner Gesamtheit nicht so recht erschliesst, ist er ein schönes Stück Kino-Arbeit. Ein Ensemble-Film, bei dem das Ensemble beim Drehen nie wusste, wohin der Film gehen wird. Anfangs sind die Episoden sehr kurz, sehr irre, und Elektrizität spielt eine absurde Hauptrolle. Mit jeder weiteren Episode ist die Spannung weniger eine elektrische, als ein Spannungsfeld, mal zwischen Mensch und Natur, mal zwischen Menschen, mal in Gedanken, aber immer geschieht in diesen Spannungsfeldern etwas Unerwartetes. Alle Geschichten eint das reduzierte, in schwarzweiss gedrehte 4:3 Bild und die Absurdität der Situationen. Wenn man sich dem hingibt, hat man ein witziges, unkonventionelles Kinoerlebnis.

 

 

(c) ch.dériaz

 

 

Filmgeschichte

 

Die Reihe Histoires ist den Filmen der Praesens Film gewidmet, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert, und somit die älteste noch aktive Filmproduktion der Schweiz ist. Zum Auftakt wird die restaurierte Fassung von Frauennot – Frauenglück von Eduard Tissé aus dem Jahr 1929 gezeigt. Aufgrund des Abtreibungsthemas wurde der Film damals gekürzt, verändert und sogar komplett verboten.
Leider fängt der Film extrem verspätet an, einerseits, weil immer mehr Zuschauer in den recht kleinen Saal wollen, andererseits, weil Frédéric Maire einen extrem interessanten, aber ausufernden Vortrag über die 100 Jahre der Praesens hält. Bemerkenswert auch, dass das Publikum nicht nur überwiegend weiblich ist, sondern grösstenteils in einem Alter, dass vermuten lässt, dass die Zuschauerinnen in den 70er Jahren aktives Interesse an der Frauenbewegung, und somit am Thema legaler Abtreibungen, hatten.
Der Film selbst mischt Wissenschaftsfilm, mit einem Hang zum Detail, mit dramatisierten Spielaufnahmen in Eisensteinscher Bild- und Schnittästhetik. Denn auch wenn Tissé für den Film als Regisseur und Kameramann zeichnet, zog Eisenstein zumindest teilweise im Hintergrund die Fäden; und Tissé war Eisensteins Kameramann.
Spannend an dem Film ist seine klare Sicht auf die sozialen, gesellschaftlichen und medizinischen Gründe, die zu ungewollten Schwangerschaften führten (und führen), die klare Positionierung für medizinisch begleitete Abbrüche, satt der damals weit verbreiteten Hinterhof-Abtreibungen. Ob es im Film am Ende doch noch eine Geburt zu feiern gibt, weiss ich nicht, um den nächsten Film zu sehen, musste ich kurz vor Schluss aus dem Saal huschen.

 

 

Politische Vertuschung oder Kriminalfall

 

Operation Silence – Die Affäre Flükiger von Werner Schweizer untersucht den Tod des Offizieranwärters Flükiger aus dem Fahr 1977. Im selben Jahr, ja fast zur gleichen Zeit, als der Soldat von einem Orientierungslauf nicht zurückkam, wurde in Deutschland Hans Martin Schleyer entführt, gingen im Berner Jura Separatisten genannte Aktivisten für einen von Bern unabhängigen Kanton Jura auf die Strasse, gab es auch an der Schweizer Grenze Festnahmen von RAF Terroristen. Vor diesem aufgeheizten Hintergrund gestaltete sich damals, wie heute, die Suche nach der Wahrheit um das Verschwinden im Grenzgebiet zwischen Jura und Frankreich mehr als schwierig. Alle Seiten in der Politik, Staatsanwaltschaft, Militär, aber auch Aktivisten, nutzten Schnipsel an Information als Beiweise für ihre Sache. Was auf der Strecke bleibt, ist die Aufklärung des Falls, der sowohl politisch motiviert sein könnte, als auch eine reine Zufallstat von internationalen Schmuggelbanden, denen der junge Mann versehentlich in den Weg gelaufen ist.
Werner Schweizer fährt sehr genau die Orte ab, spricht mit diversen Zeitzeugen, taucht in Polizeiakten und Archive ein. Er bringt ein spielerisches Element hinein, in dem er die Aussagen der drei Schwestern des Soldaten von einer Schauspielerin, in Form von gestellten situativen Interviews, sprechen lässt. Dadurch bekommt der Film eine gewisse Leichtigkeit, was bei der chaotischen Informationslage sehr guttut.

Während es am Morgen dauerhaft und scheusslich geregnet hat, fällt am frühen Abend plötzlich Schnee, genauso nass, aber hübscher anzusehen.

 

Veränderungen

 

Der Kohlebergbau geht, die Kumpel bleiben, aber was wird aus ihnen?
Mit genauem Blick, Geduld, Zeit und Können zeigen Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek in Wir waren Kumpel die verschiedenen Phasen im Rückbau einer Kohlemine. Anfangs in phantastischen Bildern über- und untertage, später den Abbau, den letzten Arbeitstag, und wie fünf Bergleute mit der radikalen Veränderung ihres Alltags umgehen. Das Portrait ist gleichermassen witzig wie berührend und öffnet den Zuschauerblick auf eine eher wenig bekannte Welt. Wir waren Kumpel kommt ohne Kommentar und ohne redende Köpfe aus, und trotzdem kommen die Protagonisten zu Wort.
Ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der lange und frenetisch beklatscht wurde.

(c) ch.dériaz

 

Dieser erste Festivaltag gibt einen Eindruck auf die vielfältigen Möglichkeiten, die Filme haben, Wandel zu beschreiben, herbeizuführen und zu erfahren. Da passt auch der Schnee sehr schön, der das Bild der Stadt verwandelt.

59.Solothurner Filmtage eröffnet

(c) ch.dériaz

 

Heilig oder Tabu

 

Sieben Tage lang ist Solothurn wieder der Nabel der Schweizer Filmwelt. Da kann es dann auch egal sein, dass der Schnee hier in Form von hässlichem Regen auftritt, künstlerische Freiheit sozusagen.
Eine Woche wird es in den Solothurner Spielstätten zu sehen und zu bewerten geben, was im letzten Jahr an Schweizer Filmen entstanden ist – und es in durch die Auswahl ins Programm geschafft hat.

 

(c) ch.dériaz

Launig und doch auch kritisch zeigt sich der künstlerische Leiter Niccolò Castelli. Er versteht (Film)Kunst als Reflexionsfläche aktueller Diskurse, neuer Strömungen, kontroversieller Sichtweisen, die auch den zeitlichen Wandel dokumentieren. Die Aufreger von früher sind heute möglicherweise Kanon. Was heute vielleicht nicht verstanden wird, kann morgen Alltag sein, oder vergessen worden sein. Was heilig ist oder ein Tabu, das weiss man oft erst später, wenn das Fremde nicht mehr neu ist, sondern selbstverständlich geworden ist. «Solange es Tabus gibt, wird die Aufgabe des Kinos nicht erschöpft sein. Deshalb ist es nur richtig, dass die Öffentlichkeit, dass Sie und wir alle uns daran beteiligen, dass mutige Filme entstehen und dass sie gezeigt werden können».

 

Mutterschaft ablehnen

 

 

Und so eröffnet das Festival mit einem Film, der ein eher wenig öffentlich besprochenes, eher tabuisiertes Thema behandelt.

In Les paradis de Diane von Carmen Jaquier und Jan Gassmann lehnt eine junge Mutter unmittelbar nach der Geburt ihre Mutterschaft ab.
Mit dem Akt des Gebärens scheint sie sich auch von dieser Rolle abgenabelt zu haben. Mit einer fast schwebenden, zart bewegten und oft sehr nahen Kamera folgt man dem harten Gefühlschaos, das die junge Frau dazu bringt, in der Nacht nach der Geburt aus dem Krankenhaus abzuhauen. Gehetzt, wie ein verletztes Tier, flüchtet sie, um im Morgengrauen völlig fertig im trostlosen Busbahnhof von Benidorm zu landen. Der Film zerredet nichts, erklärt nichts, liefert weder Erklärungen noch Hintergründe. Er folgt einfach der Protagonistin, so wie diese einfach Schritt für Schritt weiterläuft. Eine Frau, die nicht weiss, ob sie ein Monster ist, weil sie davon ausgehen muss, dass man sie so sieht. Und so folgen schlafwandlerisch-rauschhafte Szenen auf Situationen voller stiller Zartheit. Und immer findet die Kamera die genau passende Nähe oder Distanz, setzt auf wilde Lichtreflexe und Spiegelungen oder auf sanft bewegte Begleitung der Bewegungen. Als Zuschauer fürchtet man sich gleichermassen mit und für die junge Frau, und das ist wohl das Beste, was ein Film bewirken kann. Dass das hier so fabelhaft zusammenspielt, ist der Kamera von Thomas Szczepanski und dem Spiel von Dorothée de Koon zu danken. Der Film ist auch zur Berlinale eingeladen, die Chancen, dass er europaweit in die Kinos kommt, ist also gross.

 

So weit also ein starker Einstieg in die 59. Solothurner Filmtage.

(c) ch.dériaz

#FilmTipp Perfect Days

 

(c) ch.dériaz

 

 

Positiv ins neue Jahr

 

18Uhr, an einem Donnerstag, und das Kino-Foyer ist gesteckt voll. Statt Einkaufswahnsinn und Geschenke-Umtausch wollen die Leute Wim Wenders aktuellen Film Perfect Days sehen.

 

Alles im Fluss

 

Der Film begeistert ab den ersten Minuten. Anfangs hauptsächlich durch die fabelhaft schönen Bilder im engen 4:3 Format, die perfekte Bildausschnitte liefern, mal an Hopper Gemälde, mal an abstrakte kubistische Bilder erinnern. Dazu kommt der flüssige Schnitt, der so gut wie immer ein Bewegungsschnitt ist, der mal die Aktion flüssig weiterführt, mal eine kleine Ellipse fliessend in Szene setzt. Ein wunderbarer Einstieg, der einen sofort für die Geschichte einnimmt, noch bevor die gesamte Strahlkraft der Figur Hirayama dazukommt.

 

Lächeln und schweigen

 

(c) ch.dériaz

Hirayama, ein Mann vorgerückten Alters, der die Welt, sein Leben, seine Umgebung lächelnd und schweigend hinnimmt. Aufstehen, rasieren, zur Arbeit fahren, arbeiten, in seinem Fall: öffentliche Toiletten putzen, alles hat seinen festgelegten Rhythmus, wird mit Präzision erledigt, wiederholt sich, ohne zu langweilen. Ein Sonderling in einer hektischen Welt, die man aber als solche gar nicht wahrnimmt, man weiss um sie, hat man sie doch gerade erst verlassen, um in den dunklen Kinosaal zu gehen. Auf der Leinwand ist sie weg. Lächeln, schweigen, Musik.

 

Musik als kommentierendes Element

 

Die Musik spielt, wie in vielen Wenders Filmen, eine grosse Rolle.
Wer die – ikonischen– Stücke der 60er – 80er Jahre kennt, hat einen kleinen Vorsprung, ahnt die Stimmung schon mit den ersten Takten eines neuen Stückes. Nicht nur Lou Reeds Perfect Day unterstreicht und kommentiert harmonisch die Bilder, auch Patti Smith Redondo Beach, das ein ganz junges Mädchen verzaubert, erzählt so eine ganze Geschichte jenseits der Handlung.

 

Schweigsam, nicht sprachlos

 

Kurze Momente brechen das schweigsame Leben des Protagonisten, lassen einen Hintergrund erahnen, der aber nie aufgelöst wird. Wenn er spricht, dann ist es auch wichtig, dient aber gleichzeitig der Grundhaltung, mit der er durch sein Leben geht:
Lächelnd das heute akzeptieren, schweigend den Tag geniessen, der perfekt ist, wie er ist.
Wer einen Film sehen möchte, der alles bis zu Ende erklärt, ist hier verkehrt. Wer sich an der Komposition von perfekten Bildern, fliessendem Schnitt und grosser Darstellerkunst erfreut, dem ist Perfect Days dringend ans Herz gelegt, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Länge von 123 Minuten.

Und für alle, die Wenders Filme kennen: der epische Monolog gegen Ende findet – erfreulicherweise – nicht statt!


Preiswürdig

 

Perfect Days geht in der Kategorie Bester ausländischer Film für Japan bei den Oscars ins Rennen. Auf jeden Fall preiswürdig sind Schnitt (Toni Froschhammer), Kamera (Franz Lustig) und Hauptdarsteller (Kōji Yakusho).

Der Film läuft weiterhin im Kino, in Wien zum Beispiel im Burg Kino, Filmcasino und Votiv Kino .

 

 

 

# Vorschau nach Solothurn

 

 

Künstlerische und administrative Leitung Solothurner Filmtage
(c) chdériaz

 

Ein Blick in die Zukunft

 

An sich ist ja gerade die Jahreszeit der Rückblicke, des Besinnen auf das Vergangene; die Schweizer Filmtage in Solothurn lassen heute einen Blick in die Zukunft zu. Das Programm der 59. Filmtage wird vorgestellt.
Ein positives Relikt der Pandemie-Zeit: Online Programmpräsentationen.
Im Vorteil sind natürlich alle, die heute vor Ort dabei sind, schliesslich gibt es für sie zusätzlich zur Information noch Kaffee und Croissants.

 

Sofa statt Kinositz

 

Auf dem Computer erscheint, nach einem kurzen technischen Schwarz, der Saal des Rex in Bern, also zurücklehnen auf dem Sofa.
Einiges wird neu, anders werden im kommenden Jahr.
Die Programmschienen wurden neu gestaltet, sie sollen weniger „kleinteilig“ werden, und dadurch klarere Form bekommen.
Der Preis „Opera Prima“ für einen Erstlingsfilm wurde erweitert, darin sind jetzt erste bis dritte Langfilme, er läuft unter dem neuen Namen „Visioni“.
Die Idee dahinter: ein erweiterter Blick auf die künstlerische Kontinuität, auf Anfänger, deren zweiter (oder dritter) Film oft viel schwerer auf die Leinwand kommt, als der erste. Weiterhin werden der Publikumspreis und der Prix de Soleure vergeben werden. Zur Auswahl stehen jeweils sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme, oder alles was dazwischen mach- und denkbar ist.
Ein kurzer Blick ins Programm zeigt, es wird anstrengend, einfach, weil alle Filme spannend klingen.

 

Neben dem Hauptprogramm

 

Die morgendliche Gesprächsrunde „Fare cinema“ mit verschiedenen Filmarbeitenden zu spezifischen Themen wird fortgesetzt, was schön ist, da schon im letzten Jahr wirklich interessante Kollegen Rede und Antwort standen. Und dort auch Kollegen und Themen von hinter der Kamera, und somit jenseits der üblichen Sichtbarkeit, ins Bild zu Wort kommen.
In der Schiene „Histoires“ wird die älteste Schweizer Filmproduktion Praesens, 1924 gegründet, mit einer Filmreihe gefeiert und präsentiert. Da wird es Seltenes zu sehen geben. Auch dafür wird dann im engen Tagesplan Zeit gefunden werden müssen.

Eröffnet werden die 59. Solothurner Filmtage am 17. Januar 2024 mit der Weltpremiere von Les paradis de Diane von Carmen Jaquier, Jan Gassmann.

Das gesamte Programm gibt es auf der Festivalseite.

Soviel zur Vorschau auf das Programm von 2024, das eine Werkschau, eine Rückschau, auf das Schweizer Filmschaffen des Jahres 2023 sein wird, klingt komplizierter als es ist.

 

(c) ch.dériaz

#FilmTipp Killers of the Flower Moon

(c) ch.dériaz

 

 

Sitzfleisch

Martin Scorseses neuer Film Killers of the Flower Moon verlangt Sitzfleisch.
Mit 206 Minuten Laufzeit ist der Film selbst für Scorsese lang.
Aber lohnt sich das?
206 Minuten, also 3 Stunden und 26 Minuten lang – still – im Kino zu sitzen?


Erbe

Prinzipiell ist die Geschichte rasch erzählt: Das Volk der Osage erhält Land, das nach nichts Besonderem aussieht, aber in den späten 1890er Jahren plötzlich Erdöl preisgibt. Die Osage besitzen nicht nur das Land, sondern auch die Rechte an der Vermarktung des Erdöls, und kommen so zu erheblichem Reichtum, und verlassen gleichzeitig auch ihren traditionellen Lebensstil, die Moderne erhält mehr und mehr Raum. Dass das bei den weissen US-Amerikanern nicht so gut ankommt, kann man sich vorstellen.

Erbschleicher

Der Filmhandlung beginnt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Reichtum ist etabliert, Osage und ihre weissen Nachbarn leben in scheinbarer Harmonie zusammen, Ehen werden zwischen Weissen und Osage geschlossen. Aber die Motive sind nicht ewige Liebe, sondern Neid und der perfide Plan, mittels Erbe an den Boden und damit den Reichtum zu kommen.

Exposition

Scorsese lässt sich Zeit. Am Anfang zeigt er mit fast wissenschaftlichem Ernst den Alltag, das Miteinander, etabliert die Bühne für das kommende Drama. Er macht das mit Bildern, in denen es vor Menschen und Aktivitäten nur so wuselt, in denen man meint, den Ort, Fairfax, zu riechen.
Er mischt Bildformate und wechselt von leicht sepiaeingefärbten Szenen zu Schwarzweissbildern in dichtem 4:3 Format und wieder zurück. Auch hier eine Vorbereitung auf echte Filmbilder aus der Zeit, die dem Film und der Geschichte immer wieder Tiefe und Bezug zur Realität geben.

 

(c) ch.dériaz
Schaupielkunst

Und erst als die Ausgangslage hinreichend etabliert ist, lässt er sein unglaubliches Schauspielerensemble los. Leonardo DiCaprio, der mit fast ständiger Schmollmiene den naiven Deppen spielt, den idealen Mitläufer und Erfüllungsgehilfen. Und das macht er grausam gut.
Robert De Niro hingegen macht mit seiner freundlichen Art, der stets ruhigen, leisen Stimme, den scheinbar menschenfreundlichen Gedanken Angst. Er ist grundböse und macht sich kaum selbst Hände schmutzig. Er ist dabei so sanft, dass es einen schaudert. Es gibt kaum Szenen, in denen jemand schreit, ausfällig wird. Umso brutaler alles, was sich abspielt.
Und schliesslich Lily Gladstone, die gleichzeitig abgeklärt, sanft und überlegen sein darf, krank und schutzlos und dann wieder, in völliger Ruhe, stark und berechnend.
Alleine das Spiel dieser drei Darsteller ist jede Minute des Films wert.

Bilder

Zusammengehalten wird alles durch die beeindruckende Bildgestaltung von Rodrigo Prieto, der oft mit langen, bewegten Einstellungen arbeitet, was gleichzeitig inszeniert und dokumentarisch ist, und so viel Nähe zur Situation schaftt. Durch Licht, Schatten und Einfärbungen unterstreicht er den subtilen Horror der Geschichte, während Thelma Schoonmaker mit dem Schnitt zwischen Laufenlassen und plötzlicher Irritation durch unvorhersehbare Schnittfolgen die Balance hält und Spannung erzeugt.

Lohnt sich das also?

Die Antwort ist leicht: ja, das lohnt sich.
Vorausgesetzt man trinkt nicht vor oder während der Vorstellung zu viel.
Nichts ist nerviger, als in einem Kino zu sitzen, wo ständig jemand einem auf die Füsse trampelt, durchs Bild läuft, um mal eben schnell aufs Klo zu gehen.

Der Film läuft in Wien im Original im Burgkino und im Hayden Kino

#FestivalTipp Viennale

 

(c) ch.dériaz

 

Eine kleine Auswahl grosser Filme

 

 

Vom 19.10. bis 31.10. findet die Viennale statt, das Programm ist wie immer üppig und vielfältig. Hier ein paar – wenige – Festival-Tipps.

Lang

Ganz dringend sollte man versuchen, den rumänischen Film Nu astepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much from the End of the World) von Radu Jude anzuschauen.
Jude gehört zu den originellsten, kompromisslosesten europäischen Regisseuren. Und auch wenn sein aktueller Film mit fast drei Stunden lang erscheint, wenn man erstmal schaut, vergeht die Zeit wie im Flug. Sein Sinn für subtilen und subversiven Humor und sein Gefühl für Rhythmus und Schnitt sind jedes Mal eine grosse Freude. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er-Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80er Jahren wären eine umfassende Analyse wert. In Locarno entschuldigte er sich vor der Premiere für die Länge, mit dem Hinweis, der Film musste so lang werden.
Er läuft an diesen Terminen.


Kürzer

Ein viel kürzerer Film, mit nur 65 Minuten, ist Yannick von Quentin Dupieux.
Aber auch das macht ihn für normale Kinoprogrammierung schwer vermittelbar. Und deshalb sei auch dieser fabelhaft groteske und intelligente Film dringend empfohlen.
Er ist ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.
Im Programm an diesen Terminen.


Noch kürzer

Bei den Kurzfilmen sei Kinderfilm des Kollektivs Total Refusal sehr empfohlen. Was dieses Regie-Kollektiv macht, ist eigentlich jedes Mal witzig, erstaunlich und wirklich innovativ. Die Geschichte findet komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) statt. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

Einer geht noch

Selbst wenn er demnächst sowieso in die Kinos kommt, Anatomie d’une chute von Justine Triet ist ein mit Recht hochgelobter und mit Preisen belohnter Film.
Er ist spannend, extrem gut erzählt und irre gut gespielt. Was bei diesem Gerichtsdrama, wenn man es so nennen mag, besonders gelungen ist, ist die Ungewissheit, in der der Zuschauer bis zum Schluss bleibt. Alle Möglichkeiten sind offen, alles kann passiert sein. Die einzigen Momente, in denen man wirklich Partei beziehen möchte, sind bei den immer kruder werdenden Aussagen des Staatsanwalts, aber dann wieder: wer weiss?
Hier die Spieltermine

Eine kleine Auswahl grosser europäischer Filme, die jenseits bekannter Pfade Geschichten erzählen.

Das gesamte Programm, inklusive Rahmenprogramm, findet sich auf der Festivalseite.

 

#FilmTipp Fallen Leaves

 

(c) ch.dériaz

 

 

Farbig, aber nicht bunt

 

(c) ch.dériaz

Wer einen Film von Aki Kaurismäki anschaut, weiss, was er bekommt: liebevoll gezeichnete Figuren in miesen Jobs, in prekären Verhältnissen, oft saufend, häufig singend, dafür wenig gesprächig, aber immer mit einem Rest an Hoffnung in einem düster erscheinenden Leben.
Das ist bei Fallen Leaves nicht anders.
Was hier aber hervorsticht, ist die Farbdramaturgie, der Einsatz von Grundfarben, als dramatische Entsprechung zur emotionalen Lebenssituation.


Rot-Blau-Gelb


Keine Szene ohne Rot oder Blau, aber nicht die reinen, schönen Farben, sondern ihre schmuddeligen Verwandten. Die Blautöne sind allesamt verblasst, tendieren ins Grau. Die Rottöne sehen alle aus wie getrocknetes Blut, mal heller, mal dunkler, aber immer irgendwie blutig. Und die Gelb-Akzente erinnern an den letzten Rest Senf in einem Glas, das man im Kühlschrank vergessen hat. Und doch, auch aus diesen Grundfarben können alle anderen Farben entstehen.
Auch wenn zunächst alles, was schiefgehen kann, auch wirklich schiefgeht.
Selbst prekäre Jobs bringen Geld, ihr Verlust ist daher dramatisch, genau wie der Verlust der Telephonnummer, als sich gerade so etwas wie eine Beziehung andeutet. Aber so, wie der Film immer wieder kurze Stadt-Totalen in schönen, klaren Herbstfarben zeigt, scheint es in den Figuren einen bunten Rest an Hoffnung zu geben, ein Aufstehen nach dem Sturz.

Ohne Grauschleier in die Zukunft

Und so dürfen in den letzten Szenen die Farben plötzlich kräftig werden, der trübe Schleier lüftet sich, zumindest ein wenig, und eine finnische Version der „Feuilles mortes“ begleitet den Abspann.
Das alles ist wunderschön und hilft gegen möglicherweise aufkommenden Herbst-Blues.

 

(c) ch.dériaz

Der Film läuft weiterhin in den Kinos:

www.filmcasino.at

www.burgkino.at

www.schikaneder.at

www.admiralkino.at

www.cinecenter.at

#FilmTipp Past Lives

 

 

(c) Eva-Maria Pelz

 

 

Liebesgeschichte

 

Nein, dass Past Lives von Celine Song im Wesentlichen eine Liebesgeschichte ist, braucht einen, ausnahmsweise, nicht davon abzuhalten, ins Kino zu gehen.
Ganz im Gegenteil.
Wer Past Lives noch nicht gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen.

Der Film ist nicht nur wunderschön gedreht, er erzählt auch auf intelligente und witzige Art von den Möglichkeiten, der Wahl, die man im Leben hat. Und davon, wie man damit umgeht.
Zugegeben, es wird viel geredet in diesem Film, aber eben nicht nur. Die Blicke, Blickwechsel, das Mienenspiel, die Körpersprache der Darsteller
(Teo Yoo, John Magaro) und Darstellerin (Greta Lee), erzählen fast noch mehr.

Kindheitsträume

Die erste, zarte Verliebtheit der zwölfjährigen Kinder Na-young und Hae-sung wird kalt unterbunden, als Na-youngs Familie nach Kanada auswandert.
12 Jahre später finden die beiden sich Online wieder. Ein neuer, erwachsenerer Austausch entsteht, aber eben nur per Skype-Anrufe oder E-Mails. Jeder, der Kindheitsfreunde nach langer Zeit wiederfindet, kennt diese merkwürdige Vertrautheit, gepaart mit grosser Verwunderung und einem Schuss Unsicherheit. Und diese Gefühle spiegeln sich nicht nur in den Dialogen wider, sondern auch in der Körpersprache.

Endlich Erwachsen

Noch einmal 12 Jahre später stehen sie sich endlich gegenüber, in New York, wo Na-young, mittlerweile verheiratet, lebt. Der Film spielt mit der Möglichkeit, die Träume der Vergangenheit in der Gegenwart umzusetzen, zeigt aber dabei ganz klar die Problematik eines solchen Unterfangens. Zwei Szenen bilden dabei den Drehpunkt der Geschichte, das Treffen der beiden „Kinder“ und das Gespräch Na-youngs abends mit ihrem Ehemann. Während das Treffen von Na-young und Hae-sung linkisch, aber auch wieder „süss“ erscheint, zeigt das Gespräch abends, wie eine erwachsene, souveräne Partnerschaft funktionieren kann.

Der Film lässt sich Zeit, die Gefühle zu zeigen, zu verstehen, zu bewerten und Entscheidungen zu treffen, dennoch ist er fesselnd, spannend, schön und kitschfrei. Und am Ende möchte man eigentlich sofort eine Reise nach New York buchen.
Zeit also, Past Lives anschauen zu gehen.

In Wien läuft der Film weiterhin im Gartenbau Kino – auch das ein guter Grund, trotz sonnigem Herbstwetter ins Kino zu gehen.