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#Diagonale Grosse Gefühle zum Start

 

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Vorarbeit

 

Die Festivalarbeit beginnt noch vor der Anreise nach Graz, um 9:30 wird die Reservierungsseite freigeschaltet. Also schnell für morgen Tickets reservieren. Seit der Pandemie besteht keine freie Platzwahl mehr, wieso allerdings nur einige Plätze zur Auswahl erscheinen, ist etwas undurchsichtig. Und ohne Saalplan ist die Reservierung für den ersten Festivaltag ein Ratespiel: Welches war doch gleich die richtige Reihe? Welcher Platz ist aussen? Nun gut, spätestens übermorgen wird sich das wieder eingependelt haben. Die ersten vier Vorstellungen sind auf jeden Fall gebucht.

 

Grosse Gefühle

 

Milde 20 Grad am Eröffnungstag der Diagonale in Graz.
Die Helmut List Halle ist voll wie lange nicht mehr und mit etwas Verspätung gibt es den ersten Eröffnungsfilm des Abends: NYC RGB von Viktoria Schmid.
Sieben kurzweilige Minuten New York: analog und in Dreifachbelichtung, mit schrägen Farbakzenten und interessanter Tonbearbeitung. Eine Postkarte ans Publikum, eine Aufforderung zu träumen, ein schöner Einstieg.
Erst danach treten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber das letzte Mal vors Publikum, um die Diagonale zu eröffnen. Schon als sie auf die Bühne kommen, ist der Applaus mächtig, hindert sie anzufangen. Auch in diesem Jahr verbinden sie in ihre Rede Kunstgeschehen und Politik. Sowohl Weltpolitik als auch österreichische Lokalpolitik werden dabei mit kritischen Seitenhieben bedacht. Unterbrochen werden sie immer wieder von wildem Klatschen. Die Intendanten werden dann doch langsam etwas verlegen, ob dieser mächtigen emotionalen Welle, die sie zum Abschied anschwappt.
Auch die Vergabe des Schauspielpreises an Margarethe Tiesel wird von grossem Beifall und kleinen Freudentränen begleitet.

 

 

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Vom Warten

 

Spät, aber dann doch, die Österreich-Premiere von Das Tier im Dschungel von Patric Chiha.
Der Film beginnt mit grobkörnigen 4:3 Aufnahmen, ein Fest, irgendwo, Menschen tanzen, feiern, unspezifisch, eher ein Urlaubsfilm. Dann ein Sprung, Menschen tanzen, diesmal in einem Club, ausgelassen, wild, sexy. Im Off, eine Erzählerin, sie spricht von May und John, die sich 1979 treffen. Ein Paar, das den ganzen Film über kein Paar sein wird. Zwei Menschen, die im Warten verharren, während draussen die Jahre vergehen. Aber für May und John, die sich nur in diesem Club sehen und das auch nur samstags, steht die Zeit in einer Schleife. Für den Zuschauer bricht die Zeit immer wieder mittels kurzer Sätze, oder mittels kurzer Fernseh-Ausschnitte durch, schafft Zäsuren im immer Gleichen. Jahrzehnte verstreichen, andere Tänzer, andere Musik, aber das Warten, das die Beiden verbindet, wird nicht belohnt. Sie warten auf das Grosse, das eintreffen wird, irgendwann, und das Johns Welt komplett verändern wird. Mit May wartet auch der Zuschauer, und wie bei May schleicht sich doch bald die Erkenntnis ein, dass das, worauf John wartet, schon längst da ist, dass er sein und ihr Leben sinnlos vertrödelt mit dem endlosen Warten. Und das ist dann auch das Problem des Films, es ist so offensichtlich, auf was die Geschichte hinaus will, dass es dann viel zu lange dauert, dort anzukommen. Der Film halt viel Interessantes, zuallererst die Kamera, die Entfesselung und Statik spannend ins Bild bringt, und der Schnitt, der einem oft kontrapunktischen Rhythmus folgt, aber trotzdem: zu lang.

Gegen halb elf schiebt sich das Premierenpublikum dann hungrig und durstig ins Foyer, und wie im Film gibt’s dann: Party, das Warten hat ein Ende.

 

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# Diagonale Vorschau

 

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Der Anfang vom Ende

 

Das war sie nun, die letzte Diagonale Programmpräsentation des Intendantenduos Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. In gewohnter Doppelconférence, die auch immer eine Art Schnellrede-Wettbewerb ist, führten sie durch das Filmprogramm ihrer letzten Diagonale.
115 Spiel-, Dokumentar-, und Experimentalfilme werden in Graz zu sehen sein, dazu noch Rahmenprogramme, Retrospektiven, Diskussionen und wie immer wird die österreichische Filmbranche in grosser Zahl die Gassen und Cafés der Stadt bevölkern.
Frühling in Graz eben.

Frühlingsanfang

 

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Eröffnet wird am 21. März mit dem bereits in Berlin gezeigten Spielfilm Das Tier im Dschungel (AT/BE/FR 2023) von Patric Chiha. Aber auch wenn der Eröffnungsfilm eine grosse Koproduktion und auch keine Uraufführung ist, sind im Programm dann doch eine ganze Reihe Uraufführungen vertreten.
Wie so oft machen hauptsächlich die Dokumentar – und Experimentalfilme neugierig, zum Beispiel Brigitte Weichs ...ne, tassot, yossot…, die Fortsetzung des grossartigen Hana, dul, set… über das nordkoreanische Flussballfrauennationalteam. Oder Archiv der Zukunft von Joerg Burger über das Naturhistorische Museum in Wien, und bei den Experimentalfilmen zum Beispiel Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 The Orgy of the Damned.

Wenn man von der überschwänglichen Begeisterung der Intendanten ausgeht, dann wird diese Diagonale ein rauschendes Fest bunter Bilder, voller Emotionen, Humor und Intellekt.

 

Schernhuber und Höglinger in Aktion
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Kino-Flatrate

 

Nicht für Festivalkinos, sondern für den täglichen Kinobedarf gedacht, ist die neue Nonstopkino-Karte, die es ab Mitte des Monats österreichweit geben wird.
Mit dieser personalisierten Karte – sprich: nicht übertragbar – kann man dann für 24 Euro monatlich in jedes der mitmachenden Kinos gehen und so viele Filme schauen, wie man mag.
Der Haken an der Sache?
Es machen „nur“ die Programmkinos mit und, in wirklich grosser Zahl, auch nur in Wien.
Weiterer Haken, man muss sich mindestens 8 Monate binden. Bei Kartenpreisen von derzeit ca. 10 Euro, sollte man also dreimal im Monat ins Kino gehen. Jeden Monat, 8 Monate lang. Man muss also ein fleissiger Kinogänger sein, denn sonst sind die 24 Euro doch teuerer als sie erscheinen.

Da alles noch sehr in den Anfängen steckt, machen im Moment auch nicht alle Verleiher der Programmkinos mit, was dann auch bedeutet, dass einige Filme, selbst in den mitmachenden Kinos, nicht im Preis der Karte inbegriffen sind.

Ansonsten klingt das Projekt wie eine sehr schöne Idee, um einerseits mehr Menschen ins Kino zu bringen, dem Publikum preislich entgegenzukommen und andererseits die Planbarkeit für die Kinos zu erhöhen.

 

# Marcel The Shell With Shoes On

Filmcasino
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Verliebt in eine Muschel

 

Vielleicht ist es nicht ganz fair, einen Film zu bewerben, der zurzeit kaum in Kinos zu sehen ist, aber nach Marcel the shell with shoes on von Dean Fleischer-Camp sollte man dringend Ausschau halten, und jeden möglichen Vorführtermin wahrnehmen.

Einfache Geschichte


An sich erzählt der Film eine ganz einfache, altmodische Geschichte:
vom Erwachsenwerden, vom Lernen, von Freundschaft und Veränderung.
Das aber wird mit so viel Phantasie, Spass und technischem Witz erzählt und gestaltet, dass man nicht anders kann, als in Begeisterung zu geraten.

 

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Der Film mischt Stop-Motion, für die Muscheln, mit Realbildern und kreiert so eine Welt, in der Unglaubliches möglich wird.
Marcel, die kleine, einäugige, schuhtragende Muschel lebt mit seiner Grossmutter in einem Haus, das nach der Trennung und dem anschliessendem Auszug des Besitzerpaares über Airbnb vermietet wird. So lernt Marcel den Mieter Dean kennen, der sofort anfängt, kleine Dokumentarfilmchen mit der Muschel zu drehen, und diese online stellt. Marcel wird zum Internet-Star, mit allen Problemen und Chancen, die sich daraus ergeben. So weit die Basis der Geschichte.

Süss, aber nicht klebrig


Aber Marcel ist nicht nur ein gewitzter kleiner Muschel-Kerl, der Wege finde, das Haus für seine Bedürfnisse umzubauen – grossartig der Moment, in dem er erklärt, wie er aus Schamhaaren aus der Badewanne eine stabile Kordel bastelt – er ist auch ganz selbstverständlich und kitschfrei ein empathisches Wesen, mit komplexen Gedanken und Überlegungen. Das alles ist so zauberhaft und süss und doch komplett frei von Überzuckerung, und so verlässt man das Kino statt genervt und verklebt mit einem warmen Gefühl der Freude.

Marcel the Shell With Shoes On ist für den Oscar in der Kategorie Animation nominiert, vielleicht kommt er also demnächst doch noch mal in das eine oder andere Kino.

 

 

 

58.Solothurner Filmtage Zum Schluss

 

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Was ist schweizerisch am Schweizer Film?

 

Nach sechs Tagen und 27 Filmen ist die Frage nach der Identität des Schweizer Films immer noch nicht zu beantworten.
Es gab Filme zu allen nur denkbaren Themen, in allen möglichen Formen, Filmsprachen und in allen möglichen Sprachen. Vielleicht ist das am Ende das Einende, dass Schweizer Filme eine grosse Vielfalt abdecken. Es ist nicht nur die wirtschaftliche Globalisierung, sondern auch, weil Schweizer Filmschaffende aus vielen Ländern kommen, mehr als die vier Landessprachen sprechen, und in vielen Ländern ausserhalb der Schweiz leben und arbeiten können.
Aber eine echte Handschrift, etwas, an dem man sofort erkennt: Schweizer Film, nein, das gibt es so nicht.
Bleibt die Frage, ob das jetzt etwas Gutes ist, oder ob das ein Verlust ist.
Was aber auf jeden Fall wichtig ist, ist die Sichtbarkeit der Filme im europäischen Kino. Daran kann sicher noch etwas gearbeitet und verbessert werden.

 

 

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Die Preise

 

Der Prix de Soleure geht an Until Branches Bend von Sophie Jarvis, was insofern erstaunlich ist, als in der Anforderung für den Preisträger-Film nicht nur ein humanitärer Anspruch gefragt ist, sondern auch innovative visuelle Konzepte. Ersteres mag man in der Geschichte finden, innovatives visuelles Konzepte eher nicht.
Der Publikumspreis geht an Amine – Held auf Bewährung von Dani Heusser, leider nicht gesehen. Genauso wenig den Preis Opera Prima, für den besten Erstlingsfilm, der an Foudre von Carmen Jaquier, geht.

Alle Preise und Begründungen: hier

 

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58.Solothurner Filmtage Identität

 

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Identität

 

Eine letzte Diskussionsrunde bei Fare Cinema, diesmal das Thema: Generation Diaspora, im Ausland zuhause.
Auf dem Podium junge Schweizer Regisseure und Regisseurinnen mit familiären Wurzeln in anderen Ländern. Die Frage, wie weit sie Identitätssuche durch oder mit ihren Filmen betreiben, und auch wie universell diese Suche dann für andere sein kann.
Es ist auch eine Frage nach der Identität eines Schweizer Films an sich.
Was macht ihn aus?  Gibt es eine Handschrift?
Und wie weit hängt die ab, von den nationalen und ethnischen Wurzeln?
Tatsächlich ist diese Frage nicht zu beantworten, es ist manchmal eine Eigendefinition, manchmal eine „bürokratische“ Definition, mal der Pass, mal der Standort, mal das Herz, mal das Geld.
Ein guter Film wird am Ende immer der sein, bei dem das Publikum eine eigene Beziehung zur Geschichte, zum Thema finden kann. Die Frage nach der Identität des Films ist vielleicht insgesamt gar nicht so wichtig, ausser eben im Kontext eines nationalen Festivals.

 

 

Alkohol

 

The Curse von Maria Kaur Bedi und Satindar Singh Bedi ist einer der schwersten Filme dieses Festivals, inhaltlich und bildlich.
Er ist ein Dialog in der Vorhölle, eine Geschichte von Alkoholsucht und Co-Abhängigkeit, und von Liebe. Der Film hat zwei fast getrennte erzählerische Ebenen, einmal die Sprache, der Dialog, der erzählt von einem Mann, der schon als Kind alkoholsüchtig wird, und von einer Frau, die behütet aufgewachsen ist. Erzählt vom Zusammentreffen der Beiden, dem Kampf mit und gegen die Dämonen der Sucht. Hier setzt die zweite Ebene an, das Visuelle: wie zeigt man, was sich abspielt?
Die Wahl fiel auf Abstraktion und Verfremdung. Die Bilder sind extrem verlangsamt, unscharf, wie durch eine geriffelte Milchglasscheibe, Lichtreflexe so verlangsamt, dass sie über die Leinwand schweben wie Schmetterlinge. Und dann, immer wieder Schatten: von Händen, von Köpfen, alleine, zusammen.
Der Dialog, der zwischendurch zum Streit, zum Schreien wird, und sich wieder beruhigt, der die ultimative Drohung enthält: Wenn du je wieder trinkst, gehe ich. Kompromisslos.
Der schwerste, der vielleicht auch privateste Film, denn er zeigt
die beiden Filmemacher sozusagen nackt. Während der Abspann lief, vor stilisierten Wellen, kamen beide, Hand in Hand, auf die Bühne, ihre Silhouetten verschmelzen mit den letzten Filmbildern. Filmreif und auch rührend.

 

 

 

Körper

 

Die Filme von Verena Paravel und Lucien Casting-Taylor muss man mögen, und aushalten können, das gilt für De Humani Corporis Fabrica ganz besonders.
Zwei Stunden führen sie das Publikum durch Pariser Krankenhäuser, von unten nach oben, in diverse OP-Säle, durch die Geriatrie und aufs Dach. Wer die Filme der beiden visuellen Anthropologen kennt, weiss, es geht um Bilder, ums Schauen. Kein Text, keine Erklärung, nur Sehen und Bilder wirken lassen. In diesem neuen Film sollte man auch Blut sehen können, viel Blut sogar. Die neuen Kameras, die bei Operationen eingesetzt werden, ermöglichen Blicke ins Innere, und kommen so auf die Leinwand.
Dann ist es wieder „nur“ die neugierige Kamera während der OP, in der Pathologie, in den Gängen. Blut, Knochen, Geräte, Gesichter in Ausschnitten, konzentriert. Wir haben alle einen Körper, und der ist verletzlich.

 

Rebellen

 

Jungle Rouge von Juan José Lozano und Zoltán Horváth zeigt die letzten fünf Jahre des FARC Anführers Raul Reyes im Dschungel. Aber nicht als Dokumentarfilm, sondern als Animationsfilm.
Reale Spielsequenzen, verfremdet, modifiziert, dass sie wie gemalt wirken, wechseln sich mit Traumsequenzen ab, die wie bewegte Plakate des sozialistischen Realismus wirken. Als Grundlage des Films, des Spiels, dienten E-Mails, die auf Reyes Computer gefunden wurden. Diese Mischung aus Animation, Abenteuerfilm und realen geschichtlichen Fakten funktioniert bestens, wird dem Thema gerecht, während das Publikum intelligent unterhalten wird.

Das war der letzte Film, den ich bei dieser Ausgabe der Solothurner Filmtage angeschaut habe. Morgen folgen noch die Preise.

58.Solothurner Filmtage Erinnern

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Eisig

Der vorletzte Kinotag, eisiger Wind bläst, die Aare hat Wellen mit Schaumkrönchen, das ist malerisch, aber unwirtlich. Da klingt Kurzfilmprogramm Architektur doch recht verführerisch. Tatsächlich ist es im Kino aber kühl und die drei Filme des Morgens sind eher – na ja.

 

Beton

 

Ghost Fair Trade von Laurence Bonvin und Cheikh Ndiaye zeigt das Messegelände in Dakar. Ein Bau aus der Mitte der 70er Jahre, von französischen Architekten konzipiert, mit der Idee, archaische, senegalesische Formen als neue senegalesische Architektur zu etablieren. Der Ort wirkt unbelebt, das organische Äussere verbindet sich nicht mit dem Inneren, nicht mit der Nutzung und auch nicht mit den Geistern, die an diesem Platz zu Hause waren.
Sichtbeton mit Sicht auf Beton, wesentlich mehr an kreativer Idee steckt nicht in Cemento grezzo von Christian Balictan. Ein Parkhaus, von aussen, von innen, von innen nach aussen, von innen nach innen. Alles in einem Rhythmus, der keinem spürbaren Konzept folgt, dafür aber das irritierte Publikum zum Kichern und Hüsteln brachte. Ist ja auch schon was.
Am besten funktioniert Piazzale d’Italia von Enea Zucchetti.
Der Film suggeriert eine Art Turmbau zu Babel, bei dem der Bau eines festungsgleichen Casinos gezeigt wird. Sehr schön ist die Tondramaturgie, die mit Geräuschen so spielt, dass daraus Musik wird. Oder ist es umgekehrt? Einstellungen vom Bau und vom fertigen Gebäude blenden ineinander und zeigen, dass letztlich nur ein Geldgrab entsteht. Der Film hat einen schönen Fluss, ist intelligent konstruiert und erzählt mühelos, schwebend mehrere Ebenen.

 

 

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Knochen

 

The DNA Of Dignity von Jan Baumgartner ist der wohl sensibelste und berührendste Film zum Thema der Opfer-Identifizierung in Bosnien.
In sehr schönen, ruhigen Bildern zeigt er die vielen Schritte, die nötig sind, die Vermissten des Bosnienkriegs zu finden und zu identifizieren. Dass er dabei ohne Kommentar und redende Köpfe arbeitet, macht die Stärke des Films aus. Sparsam setzt er im Off Interviewpassagen ein, gesprochen nicht von den Protagonisten im Bild, wodurch ein professioneller Fluss in der Sprache, im Ton entsteht, ohne den Inhalt zu schmälern. Die Kamera beobachtet die minuziöse Arbeit der Forensiker, wie sie aus Knochenstücken und Fragmenten einen identifizierbaren Menschen rekonstruieren. Folgt einem Bauern in den Wald, der seit Jahren nach Stellen sucht, wo weitere Knochen zu finden sind, und zeigt eine Mutter, die immerhin einen ihrer beiden Söhne jetzt begraben kann. Aber immer noch sind tausende Vermisste nicht gefunden, nicht identifiziert. Und die Zeugen, die sagen könnten, wo man suchen muss, werden immer weniger.
Der Film ist nominiert für den Prix de Soleure und wäre absolut würdig, diesen Preis zu bekommen.

Wasser

 

Ein spanisches Dorf, Sommer, ausgelassene Freundinnen, und immer wieder alte Mythen, das ist der Hintergrund vor dem El Agua von Elena López Riera spielt.
Der Fluss im Dorf, ein dreckiges, stinkiges Gewässer, in dem keiner baden möchte. Aber der Fluss ist auch zentraler Teil des Dorfmythos, nach dem der Fluss sich immer wieder in junge Frauen verliebt, und sie mitnimmt. Diejenigen, die sich weigern, sich dem gierigen Verlangen hinzugeben, sind verantwortlich für die Zerstörung, die der wütende Fluss mithilfe des Regens bringt. Die junge Ana ist im Zentrum dieser sommerlich flirrenden Geschichte voller Aberglauben und unterschwelliger Frauenfeindlichkeit. Ein sehr stimmungsvoller Film, der um reale Naturkatastrophen mit altem Volksglauben eine neue Geschichte spinnt.

 

Technik entzaubert

 

Die Festival-App verweigert plötzlich den Dienst. Weder Bitten noch Betteln, in Techniksprache: Neuinstallieren und Handy Neustart, wollen helfen. Die App will mich nicht wiedererkennen, und damit auch nicht zeigen, welche weiteren Vorstellungen ich gebucht habe, oder wo ich da sitzen werde.
Nicht schlimm, geht alles auch ohne, ist aber lästig!

 

Rache

 

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The Land Within von Fisnik Maxville ist ein archaisch-dunkles Märchen von Wölfen, Heimat, Geheimnissen und Rache.
Ein junger Mann reist 2008 aus Genf zurück in den Kosovo. Stück für Stück zeigt sich ihm dort eine Welt voller Geheimnisse und Lügen. Parallel wird ein Massengrab im Dorf von internationalen Forensikern untersucht. Auf ihrer Einwohnerliste steht eine Frau, die auf keiner Liste von Familienangehörigen erwähnt wird. Wer ist die Frau? Wer ist die Frau auf einem Photo, von dem keiner etwas wissen will?
In Rückblenden und Erinnerungen decken sich immer mehr Teile auf, und damit geben dann auch im Jetzt immer mehr Leute ihr Wissen preis. Eine düstere Welt voller patriarchalisch-nationalistischer Bilder erscheint.
Und doch, am Schluss gibt es eine Art Befreiung, und ein Schimmer Hoffnung – vielleicht.

 

Fünfzehn sein


Benedetta ist 15 und rundlich, sehr zum Missfallen ihrer gertenschlanken Mutter. Das ist die Ausgangslage in
Calcinculo von Chiara Bellosi. Aber 15 sein heisst auch, jede Menge Dinge vermeintlich verstehen zu können. Als ein Jahrmarkt vor dem Haus der Familie aufgebaut wird, ändert sich durch einen sehr femininen und versponnen Schausteller Benedettas Leben und sie ist auf einmal bereit, mit radikalen Schritten aus ihrer Welt auszubrechen. Die Geschichte ist sehr feinfühlig erzählt und bringt einem das Mädchen mit all seinen verwirrenden Stimmungen nah. Schön gespielt, schön gedreht, ein Film der fliegt, wie das Kettenkarussell im Titel.

 

 

 

58.Solothurner Filmtage Archive

 

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Bilder zeigen oder nicht

 

Eine spannende Diskussion am Morgen bei Fare Cinema: Film in Kriegszeiten, als Gäste Jan Baumgartner, Regisseur, und Werner von Gent, Journalist.
Die Frage: was zeigt man in Konflikten, in Kriegen für Bilder, warum lässt man welche Bilder weg? Und wie weit darf man sich als Berichterstatter, als Filmemacher von den Ereignissen einnehmen lassen. Tatsächlich muss diese Frage jeden Tag, jedes Mal neu mit sich und seinem (professionellen) Gewissen ausgemacht werden.
Eine Frage, die auch unterschiedlich behandelt werden muss, je nachdem, ob man für eine aktuelle Berichterstattung arbeitet, oder, im Nachhinein, einen Dokumentarfilm über Teilaspekte der Konflikte macht.
Diese Verantwortung sollte indes für jeden Film gelten. Denn egal, was das Thema, was die Machart ist, alles, was gezeigt wird, alles, was weggelassen wird, macht einen Eindruck auf die Zuschauenden. Ein Eindruck, der dann wieder zur Meinungsbildung beiträgt.

 

 

Freiheit der anderen

 

The Mies van der Rohes von Sabine Gisiger erzählt von den Frauen der Familie Mies van der Rohe, genauer, hauptsächlich von der Tochter Giorgina, einer Tänzerin und Schauspielerin. Die Idee dabei: die spannenden Figuren aus dem nahen Umfeld des berühmten Mannes eine eigene Bühne zu geben. Das funktioniert nur zum Teil. Der Vater bleibt sehr präsent im Film, nicht so sehr in seiner „Funktion“ als Architekt, aber als Mensch, dessen Entscheidungen und Wege das Leben seiner Frau, seiner Töchter doch sehr gelenkt und beeinflusst haben.
Ganz interessant ist die künstlerische Entscheidung, Giorgina Mies van der Rohe, nicht nur eine Stimme – auf Basis ihrer Briefe und Texte – zu geben, sondern ihr in der Person von Katharina Thalbach auch ein Gesicht, einen Körper zu geben.
Eine fiktive Interviewsituation verleiht der realen Giorgina Dichte und Kontur. Dazwischen sehr viele, sehr gute Archivbilder, Photos und Briefe, aber deutlich zu viel Musik. Klarerweise wäre es viel Arbeit, eine Tonspur zu den Archivfilmen zu kreieren, aber die fast ständig vorhandene Musik ermüdet und nimmt dem Film eine Sachlichkeit, die zwischen den inszenierten Szenen durchaus gut wäre.

 

 

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Archivbilder

 

Die Reihe Fokus zeigt internationale Filme, mit jährlich wechselnden Schwerpunkten, die dann auch als Basis für Diskussionsrunden dienen. In diesem Jahr liegt der Fokus auf der Verwendung von Archivmaterial in Filmen.
Der deutsche Film Liebe, D-Mark und Tod von Cem Kaya wird in dieser Reihe gezeigt. Mit Musik als rotem Faden durchläuft der Film die 60-jährige Geschichte der türkischen Migration nach Deutschland. Das ist sowohl extrem witzig, als auch, so auf 90 Minuten reduziert, sehr erschreckend. Er mischt dabei TV Berichte über die ersten Gastarbeiter mit den frühen Konzerten, die teilweise in Werkshallen stattfanden, fügt Interviews mit den Künstlern heute dazu, und schafft so ein soziologisch-kulturelles Gesamtbild, das viele Facetten hat, das nachdenklich, aber eben auch Spass macht.
Die Zusammenstellung der Bilder und der Musik ist dabei rhythmisch-virtuos und deckt trotzdem das Thema sachlich genug ab. Musikalisch ist von türkischer Folklore, Popsongs, Protestchansons und Rap alles vertreten.
Und ein mal mehr muss man die Qualität des analogen Archivmaterials hervorheben.

 

Altlasten

 

Hitlers Tod wird gerade im Radio bekannt gegeben, da steht der Schweizer Botschafter in Deutschland und verbrennt Akten, so beginnt A Forgotten Man von Laurent Nègre.
Der Botschafter verlässt Deutschland mit einer sprichwörtlichen Leiche im Keller. Der in sehr kontrastreichem Schwarz-Weiss gedrehte Film zeigt die kurze Zeit nach der Rückkehr des Botschafters. Zeigt, wie ihn das Gewissen mehr und mehr plagt, wie er zwar versucht zu rechtfertigen, dass er in seinem diplomatischen Amt immer nur im Sinne der offiziellen Position der Schweiz agiert hat, aber es dämmert ihm in Form von Visionen, dass er vielleicht nicht ganz so exakt am Buchstaben seines Dienstes hätte kleben müssen. Und er stellt fest, dass er für die Politik zu Hause als Bauernopfer herhalten muss. Weder seine Dienste noch seine Beteuerungen werden mehr gebraucht. Die Geschichte bleibt sehr im privaten Umfeld und in der persönlichen Verarbeitung, und wirkt so um so nachdrücklicher.
Dieser Film ist für den Publikumspreis wählbar und brachte viel Applaus.

 

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58.Solothurner Filmtage Kontraste

 

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Wünsche

 

Samstag 9:45, für Hotel Sinestra von Michiel ten Horn sind viele Kinder mit ihren Eltern ins Kino gekommen.
Zu sehen gibt es ein opulent ausgestattetes Märchen vor schöner Bergkulisse.
Der Film spielt sämtliche Register, die ein lehrreiches Märchen braucht:
der magische Ort, das Geheimnis, die Wünsche und dann die Erkenntnis, dass man beim Wünschen sehr, sehr vorsichtig sein muss.
Dazwischen: Kinder mit grosser Spielfreude, besonders, wenn sie, nachdem die Eltern weggewünscht wurden, das Hotel mit viel Kreativität verwüsten. Vielleicht ist es insgesamt ein wenig zu viel weihnachtlicher Zuckerguss, ein wenig zu sehr lehrreich, aber vielleicht ist das für die Zielgruppe auch genau richtig dosiert. Irritierend, aber wohl auch nur, wenn man nicht mehr zur Zielgruppe gehört, der komplett nachsychronisierte Film. Regie und Darsteller sind aus Holland, Filmsprache ist Schweizerdeutsch. Koproduktionen mit anderen Ländern sind einfach unausweichlich, vor allem, wenn man mit einem grossen Budget arbeiten will und eine möglichst grosse Reichweite erzielen möchte.

 

Fondue-Folter

 

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Der zweite Film des Tages ist echtes Kontrastprogramm.
Mad Heidi von Johannes Hartmann und Sandro Klopfstein ist definitiv kein Kinderfilm, ist mit Crowdfunding finanziert, ist laut, blutig und grell.
Die beiden Regisseure nehmen alles an Schweiz-Klischees, Genre-Bildern und Filmreferenzen in ihre Geschichte, und kochen daraus ein fabelhaft albernes Spektakel.
Heidis blutiger Kampf gegen den bösen Käse-Führer, der die Schweiz in eine faschistische Operettendiktatur verwandelt hat, hat alles: Gewalt, Irrsinn, Sex und Moral.
„Tod dem Vaterland – lang lebe das Mutterland“, heisst der Schlachtruf im Film, Rebellen haben hier hohes Ansehen, und so steckt in dem ganzen grellen Spass auch wieder etwas sehr Schweizerisches.
Dass alle Darsteller fröhlich Englisch sprechen (nicht synchronisiert) funktioniert im übrigen erstaunlich gut und hilft einem solchen Projekt auch auf ausländische Leinwände, wo der Film auch schon gelaufen ist.
Hier kann Mad Heidi gegen Gebühr gestreamt werden.

 

Zu viel des Guten

 

La dérive des continents (au sud) von Lionel Baier will eine Politsatire mit Parallelen ins Private, zur Verdeutlichung der Probleme in der Politik, sein. Zumindest ist das Baiers Erklärung beim Filmgespräch.
Das klingt schon nach sehr viel auf einmal, und es klingt auch wie eine sehr komplizierte Erklärung.
Der Film häuft Geschichten übereinander: EU-Politik, Migrationsproblematik, Mutter-Sohn Entfremdung, eine lesbische Liebesbeziehung, Corona und als Kirsche auf dem Kuchen noch ein Meteoriteneinschlag. Das ist einfach zu viel des Guten.
Die Idee, aus der eine hübsche Politsatire werden könnte, ist gut.
Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin wollen einen spontanen Besuch in einem sizilianischen Flüchtlingslager machen. Aber, ihren vorausreisenden Koordinatoren ist das Lager zu schön, zu ordentlich, und der senegalesische Flüchtling spricht zu perfekt Französisch. Also muss die EU Verantwortliche vor Ort alles etwas schmutziger gestalten, damit am Ende Deutschland und Frankreich mit grosser Geste das Lager verbessern können.
So weit, prima Idee.
Aber die vielen Schichten an Zusatzthemen verwässern die Satire, und tatsächlich verschlafen sie auch alle Möglichkeiten der Zuspitzung. Am Ende darf sich alles, für alle, ausser für die Flüchtlinge, im Wohlgefallen eines Happy Ends auflösen. Das ist zu dick aufgetragen und zu wenig Politsatire.

 

 

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Vater und Sohn

 

Mit dem Traktor von Nord nach Süd durch Israel, das klingt nach einer lustigen Filmidee. In Le voyage à Eilat von Yona Rozenkier wird aber trotz einiger witziger Ideen insgesamt zu viel und zu Absehbares geredet. Der alte mürrische Vater, der auch nicht gerade fröhliche Sohn, ein Traktor Jahrgang ’63, eine Reise durch ganz Israel, es wäre alles da für Spass mit Tiefgang. Was am Ende aber dabei herauskommt, ist eine Geschichte vom Vorwerfen, Verzeihen, Versöhnen und ein bisschen auch vom Reisen. Der Film hat seine guten Momente, aber er schleppt sich dann doch mit allzu Bekanntem über seine Länge.

Alle Samstagsvorstellungen waren extrem gut besucht, und auch der Sonntag verspricht viel Publikum, immerhin waren heute früh, 3 Minuten nach dem Freischalten der Buchungen, einige Filme schon ausreserviert.

58.Solothurner Filmtage Rebellinnen

 

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Licht im Kino

 

Unter dem Titel Fare Cinema bietet das Festival Gelegenheit zum Austausch von Ideen mit Filmschaffenden zu spezifischen Themen.
Thema des Morgens: Künstliches Licht auf die Realität.
Kameramann Renato Berta, Chefbeleuchter André Pinkus, Szenenbildnerin Su Erdt, und Kameramann Robin Angst diskutieren über die verschiedenen Varianten (und Schwierigkeiten), Licht so zu setzen, dass es dem Film dient.
Die kurze Stippvisite bei der Diskussion hat sich gelohnt, alleine für Bertas Aussage, dass er nach dem Drehbuchlesen die Regie fragt: „Was willst du damit machen?“.
Eine Frage, die vielleicht nicht oft genug so präzise gestellt wird, oder aber oft nicht genau genug beantwortet wird, zum Nachteil mancher Filme, wodurch der Schwerpunkt zu oft am Dialog klebt, statt am bildlichen Ausdruck.
Auch die Idee einer Trennung, von damals und heute, alte Technik gegen neue Technik, greift zu kurz. Denn immer, damals wie heute, musste und muss man wissen, was man machen, erreichen will. Das Ziel, die Vision, nicht die technischen Möglichkeiten, sollten den Ton angeben, oder besser: das Licht bestimmen.

 

v.l.n.r Castelli, Berta, Pinkus, Erdt, Angst
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Gewalt

 

Gewalt hat viele Gesichter. In La ligne von Ursula Meier meint man zu Beginn, es gehe um rohe, sehr direkte Gewalt. Eine junge Frau, kaum zu bändigen, drischt auf eine ältere Frau ein. Die Bilder in Zeitlupe, kaum Geräusche, oder wenn dann nur spärlich, aber dafür überdeutlich.
Doch bald versteht man, dass hier eine hochgradig verkorkste Familie diesen Gewaltausbruch hervorgebracht hat. Ein Ausbruch, der der Tochter ein dreimonatiges Annäherungsverbot einbringt, die sprichwörtliche und titelgebende Linie, die sie nicht überschreiten darf.
Die handelnden Figuren: eine passiv-aggressive Mutter – herausragend-widerwärtig gespielt von Valeria Bruni Tedeschi – eine Tochter, die mit direkter Aggression antwortet, eine Tochter, die sich in ihr eigenes Mutterglück stürzt, und die jüngste Tochter, gerade mal 12, die verzweifelt versucht, alle wieder zusammenzubringen, Frieden zu stiften. Regie und Schauspielerinnenführung, besonders der Mutter und der jüngsten Tochter (Elli Spagnolo), sind atemberaubend. Die schöne und sensible Kamera von Agnès Godard gibt dem Film den Rahmen, in dem das alles leicht überstilisiert und doch glaubhaft stattfinden kann. Die Vorstellung war ausverkauft und der Film kam gut an.

 

Menschenrechte

 

Juste Charity von Floriane Devigne erzählt von der Nigerianerin Charity, die sich gegen die Menschen wendet, die sie zwangsprostituiert haben. Es ist ein langwieriger Weg, von der Anzeige bis zur Gerichtsverhandlung und zur Verurteilung der Bande wegen Menschenhandel und Prostitution. Parallel dazu versucht die junge Frau, ihr neues Leben in Frankreich zu ordnen und ihre beiden kleinen Kinder aus Nigeria zu sich zu holen. All das gehört erzählt, aber das ergibt nicht zwingend einen guten Film. Man ist als Zuschauer zwar oft nah an den Personen, lernt sie trotzdem nicht wirklich kennen, man fühlt intellektuell mit, aber der Film selbst trägt dazu nicht wirklich bei. Filmisch ist es eher leichte Kost, zweckmässig, aber nicht umwerfend. Der Film ist auf jeden Fall in der Auswahl für den Publikumspreis, wer weiss, vielleicht überzeugt die Geschichte ja mehr als der Film an sich.

 

Käfer

 

Until Branches Bend von Sophie Jarvis ist ein eigentümlicher, langsamer Film, von dem man zeitweise nicht weiss, ob er ein Science-Fiction-Film werden möchte, oder ein Öko-Thriller.
Am Ende ist er wohl eher ein Öko-Drama.
Der kleine, eklige Käfer, den eine junge Packerin in einem Pfirsich findet, könnte der ein grosses Problem werden? Oder ist er nur irgendein Viech? Und warum sperrt sich der Chef so gegen eine Untersuchung? Mit kurzen Schockmomenten, von denen nicht ganz klar ist, ob sie Träume sind, einer suggestiven Musik, die Schlimmes ahnen lässt, arbeitet der Film sich zum tierischen Höhepunkt vor. Unterwegs zeigt er das Soziogramm einer kleinen, ländlichen Gemeinde in Kanada, die komplett von den Monokulturplantagen abhängt.

 

Rebellinnen

 

Mit ihrer eigenen Geschichte – Vater aus Kairo, Mutter aus Bern -– als Startpunkt erzählt Nadia Fares in Big Little Women vom Aufbegehren ägyptischer Frauen.
Sie trifft dafür drei junge Frauen, die sich bemühen, dem patriarchalen Bild, das ihre Umgebung und ihre Familien ihnen vermitteln, zu entkommen, sowie eine sehr alte Ärztin, Philosophin, Autorin und Langzeitrebellin. Aber immer wieder kehrt sie zu den patriarchalen Strukturen des ländlichen Bern der 60er Jahre zurück, wo ihr Grossvater letztlich dafür sorgte, dass ihr ägyptischer Vater ausgewiesen wurde, einfach, weil er die Macht dazu hatte, über das Leben seiner Tochter zu bestimmen. Und so treffen sich Frauenunrecht hier und dort, und sind am Ende gar nicht so wahnsinnig unterschiedlich. Trotzdem behält der Film, auch weil er sehr starke Protagonistinnen hat, immer eine leichte, manchmal sogar lustige Note, ohne den Ernst aus den Augen zu verlieren. Rebellinnen auf der Leinwand scheinen beliebt, das war bisher der Film mit dem meisten Beifall.

 

(c) ch.dériaz

 

Das Festival-Wochenende naht, und morgen gibt es dann unter anderem Mad Heidi.

58. Solothurner Filmtage Frauen

 

Morgenlicht
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Film ist Arbeit

 

In diesem Jahr gibt es einige Neuerungen, zum Beispiel kurze Informations- und Gesprächstreffen mit der künstlerischen Leitung für die Presse. Der Rahmen sympathisch informell und trotzdem professionell. Auch die öffentlichen Diskussions- und Gesprächsmöglichkeiten wurden erweitert.
Die Filmarbeiter im – vermeintlichen – Hintergrund bekommen dieses Jahr eine Bühne, zum Beispiel der Schwerpunkt zum Filmschnitt, für den die Cutterin Katarina Türler eingeladen ist, oder auch die Vergabe des Ehrenpreises an den Oberbeleuchter André Pinkus. Das sind schöne Zeichen, die hoffentlich nicht nur beim Fachpublikum dafür sorgen können, dass Filmarbeit in ihrer ganzen Komplexität gesehen und verstanden wird.

 

Kleine schwarze Spiegel

 

Wenn Wettbewerb und Reichweite das Leben bestimmen, dann ist doch irgendetwas schiefgelaufen, oder?
Girl Gang von Susanna Regina Meures erzählt das traurige Märchen des Mädchens mit dem kleinen schwarzen Spiegel, in dem es sich anschauen, schön finden kann, und in dem auch andere sie bewundern können. Die Geschichte der 14-jährigen Influencerin Leo ist gleichzeitig witzig und erschreckend. Über 4 Jahre folgt die Regisseurin nicht nur Leo, sondern auch ihrer Familie. Es ist ein wundersamer, aber auch böser Aufstieg in die Welt der Werbung und der (Selbst) Ausbeutung. Kinderarbeit möchte man das empört nennen.
Mit den Zugriffszahlen auf ihre Social-Media Accounts fliesst das Geld, mit dem Geld kommt der Stress, das Produzieren von Inhalten ist nicht mehr Spass, sondern ein Geschäft, von dem die ganze Familie lebt.
Erschreckend sind aber auch die Fans, die sich mit religiös-hysterischem Eifer versammeln. Fans wie Meli, die in heisse Tränen ausbricht, nur weil sie auf einer Messe einen Blick auf Leo werfen kann, und deren Welt zusammenbricht, als ihr Instagram Account plötzlich gelöscht ist.
Ein spannender, sachlicher, aber auch mitfühlender Blick auf die Welt der Kinder-Influencer, die bei allem Ruhm auch einfach muffelige, schlecht gelaunte Teenager bleiben. Als Vorfilm Fairplay von Zoel Aeschbacher, der das Bessersein, Gewinnenmüssen und Konkurrieren in rasanter Geschwindigkeit zum tödlichen Ende bringt.

 

 

Bilder vom Krieg

 

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Luzia Schmids Film Trained to see – Three women and the war ist ein beeindruckendes Werk. Sie erzählt von den drei Kriegsjournalistinnen Lee Miller, Martha Gellhorn und Margaret Bourke-White.
Ihre Geschichten als Kriegsreporterinnen erzählen sich über Off-Texte, die Auszüge aus ihren Briefen und Berichten sind.
Alle drei haben mit enormem Einsatz vom Krieg berichtet, mit Bildern, mit Texten, und immer wieder gegen Widerstände. Als Frauen wurden sie oft nicht ernst genommen, nicht an der Front oder bei Einsätzen zugelassen, zurückgepfiffen und manchmal ausgelacht. Trotzdem sind ihre Berichte, ihre Bilder erschienen, manche Photos, wie das von Lee Miller in Hitler Badewanne, sind mittlerweile ikonisch. Bildlich zeigt der Film ausschliesslich Archivmaterial von unglaublicher Qualität, das mit den Texten und Photos ein sehr gelungenes Ganzes ergibt.

Wie zur Belohnung nach den harten Bildern erstrahlt Solothurn im kitschigen Rot des Sonnenuntergangs. Allerdings ist kaum Zeit das zu geniessen, bis zum nächsten Film sind nur 20 Minuten Zeit und der läuft am anderen Ende der Stadt.

 

Kitsch mit Sonnenlicht
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Intime Einblicke

 

Auch Couvre-feu. Journal de Monique Saint-Hélier von Rachel Noël ist im Zweiten Weltkrieg angesiedelt. Aber diesmal ist es ein literarischer und sehr intimer Ansatz. Die Tagebücher der in Paris lebenden Schweizer Autorin Monique Saint-Hélier schildern eine andere Art des Kriegsgrauen. Sie sprechen von Einsamkeit, Krankheit, Erinnerung an eine andere Zeit, eine andere Welt. Visuell bedient sich der Film der Ästhetik leicht verschwommener 8 mm Familienfilme und assoziativer Bilder. Zwei Mädchen „finden“ die Tagebücher, und scheinen deren Inhalt verträumt nachzuspielen. Über allem, gelesene Fragmente aus den Aufzeichnungen. Alles in allem ist das recht anstrengend, nicht uninteressant, aber trotzdem irgendwie unfertig.

Fast wilde Szenen spielen sich im Foyer des einzigen Kinos mit drei, relativ kleinen, Sälen ab. Die drei Abendvorstellungen sind ausreserviert, aber es drängeln sich jede Menge Zuschauer, die hoffen, dass ihre Wartenummern gezogen werden. Zusätzliches Durcheinander entsteht, weil wohl einige Wartenummern für den falschen Film bekommen haben.

 

 

Harte Knochen

 

Cascadeuse von Elena Avdija ist ein solide gemachter Film über drei Stuntfrauen.
Sie alle halten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Knochen hin, und trotzdem kennt niemand ihre Namen und schon gar nicht ihre Gesichter. Während die jüngste der drei noch am Anfang ihrer Karriere steht und die älteste mittlerweile mehr und mehr Richtung Stuntkoordination geht, hadert die mittlere und versucht parallel auch eine Karriere als Schauspielerin. Es sind starke Frauen, denen man den Spass an ihrer Arbeit ansieht, genauso wie auch die zahlreichen blauen Flecken.
Was man leicht vergisst, wenn man an Stunts von Frauen denkt, ist der Mangel an Variationen der Stunt- oder Actionszenen. Im Wesentlichen werden sie eingesetzt, um sich überfahren, anfahren, prügeln, totprügeln zu lassen.
Ein Problem nicht des Stunts, sondern der Geschichten, der Filme, der Frauenrollen.

Ein Festivaltag mit Filmen fast nur von Regisseurinnen und über sehr unterschiedliche, meist starke, Frauen.