Der Blog

#Diagonale Aus aller Welt

 

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Orte der Kindheit

 

Zum Glück gibt es Sichtungslinks, denn 27 Storeys – Alterlaa Forever von Bianca Gleissinger verpasst zu haben wäre wirklich schade gewesen. Auch wenn er natürlich auf einer Kinoleinwand noch schöner ist. Der Film ist eine Rückkehr an den Ort der Kindheit, den Ort, an dem die Regisseurin aufgewachsen ist. Eine Zeitreise nicht nur, um die Erinnerungen zu überprüfen, sondern auch eine Reise zu den städtebaulichen Ideen der 70er Jahre. Zu Wohnprojekten, in denen Menschen nicht nur zum Schlafen sollten, sondern wo auch Sozialleben, Gemeinschaft, etwas Dörfliches entstehen sollte. Alterlaa in Wien, ein Hochhauskomplex, mit Clubräumen, viel Grünfläche, Swimmingpools auf den Dächern, Geschäften und vielen schrägen Bewohnern, von denen einige Gleissinger ihre Türen geöffnet haben. Sie bei dieser Spurensuche zu begleiten, selbst nur auf der anderen Seite der Leinwand, ist ein grosses Vergnügen, in dem auch immer ein kleines Stück Wehmut mitschwingt. Am Ende verlassen alle ihre verklärten Kindheitsorte, und das ist gut so.

 

Schuldfragen

 

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Im grossen Annenhof-Kino wird am Morgen noch gesaugt und geputzt, während die ersten Festivalbesucher für die Frühvorstellungen eintreffen; eine merkwürdig schwebende Stimmung erzeugt das.

 

Selma Doborac überzeugt mit ihrem 130 Minuten langen Film De Facto, in dem sie zwei Schauspieler vor exakt inszenierter und kadrierter Kulisse von den Taten während eines nicht benannten Konfliktes sprechen lässt. Nichts anderes, keine Bilder von Schauplätzen, keine zerschossenen Häuser, keine Körper, nichts von dem, was man in dem Zusammenhang kennt. Stattdessen jeweils ein Mann an einem hochglänzenden Tisch, in einem Raum, der Innen und Aussen verschwimmen lässt, die Bäume draussen rauschen, es regnet, es donnert, unbeeindruckt, quasi emotionslos rezitieren sie das Grauen. Der eine, ein einfacher Soldat, der die scheusslichsten Handlungen schildert, sagt, dass man tat, was alle taten, spricht vom Entmenschlichen der Gefangenen in den Lagern, von Verstümmelung und Vergewaltigung. Spricht im Verlauf aber auch davon, dass ihm dann manches doch zu viel war, sieht sich als Zeuge der, für die Überlebenden aussagt, da diese doch als Zeugen, ob ihres andauernden Traumas, kaum zu gebrauchen sind. Der andere, ein Befehlsgeber, einer der „Autoren“ der Geschehnisse, spricht von sich immer in der zweiten Person, sieht sich als Verantwortlichen, aber nicht als Schuldigen. Sieht die Soldaten als stumpfe Tiere, denen man nie gesagt hätte, sie sollten entmenschlichen. Ein Technokrat, ein Theoretiker, der sich immer mehr in einer kruden Pseudophilosophie verliert. Sie sprechen abwechselnd, in jeweils einer statischen Einstellung, atemlos fast, ohne „Ähs“ und „Hms“. Das macht ihre Aussagen so extrem unangenehm, lässt sie noch mehr als alles andere unter die Haut kriechen. Man versteht die Universalität solcher Handlungen, solcher Gedanken; hier geht es – unausgesprochen – wohl um Bosnien, aber es kann um jeden sinnlosen Konflikt gehen, in dem Menschen entmenschlicht werden, die Opfer, genau wie die Täter.

 

Von Graz in die Welt

 

Das Rahmenprogramm In Referenz zeigt dieses Jahr, unter anderem, eine Auswahl Filme mit der österreichischen Schaupielerin Marisa Mell, Feuerblume – Die zwei Leben der Marisa Mell von Markus Mörth ergänzt die Reihe mit einem aktuellen Dokumentarfilm zur Person Mell. Leider ist der Film eher mittelmässig. Dabei hätte er alles, um gut und interessant zu sein: Eine Grazerin, die vom Reinhard-Seminar weg eine internationale Filmkarriere macht, Zeitgenossen und Weggefährten im Interview, gutes Archivmaterial, schön gedrehte Bilder aus Rom, wo Marisa Mell gelebt und gearbeitet hat. Aber einerseits ist einfach zu viel aufdringliche und sinnlose Musik im Film, und die schönen, neuen Filmbilder sind völlig beliebig und ohne sichtbares Konzept einfach so zwischen die Interviews und Filmausschnitte gepackt. Wirklich schade, da wäre mehr möglich gewesen.

 

Verantwortung

 

Wer wir einmal sein wollten von Özgür Anil ist ein melancholischer Film mit einem sehr guten jungen Schauspielensemble. Anna, eine junge Frau, meistert ihr Leben, sie arbeitet, versucht ihr Abitur nachzumachen, Geld für ihr geplantes Studium zu sparen, alles alleine. Aber um sie herum scheinen alle ihr Verantwortungsbewusstsein auszunutzen. Ganz zuerst ihr Bruder, der irgendwelchen windigen Gestalten viel Geld schuldet und sich bei ihr einnistet. Ihr Liebhaber ist ein Egomane, dem nur seine Karriere als Regisseur wichtig ist, ihre Mutter kümmert sich wohl schon seit Jahren nicht um sie. Und doch, Anna bleibt bei all dem eine zuverlässige Stütze für alle, auch wenn sie eigentlich keiner stützt, das ist traurig, irgendwie, aber auch sehr mutig. Ein schöner, unaufgeregter Film.

 

Überleben

 

Ein weiterer Film heute, in dem vom Grauen erzählt wird, was Menschen Menschen antun: A Boy’s Life von Christian Krönes und Florian Weigensamer.
Wie schon in ihren letzten Zeitzeugen-Filmen steht auch dieses Mal der Erzählende unabgelenkt im Fokus. Daniel Chanoch kam als etwa Neunjähriger ins Konzentrationslager, überlebte nicht nur Auschwitz, sondern auch einen Todesmarsch und wurde mit knapp 13 Jahren befreit. Eine Kindheit in der „Schule  Auschwitz“, wie er es selber nennt. Die ruhigen Schwarzweissbilder: Totalen, Halbtotalen, Nahe, alle vor schwarzem Hintergrund, lenken nicht vom Erzählten ab. Stattdessen entsteht der Eindruck eines Zwiegesprächs mit dem Zuschauer. Unterbrechungen, mit Material aus Archiven, dienen nicht der Untermalung des Gesprochenen, sondern sind Zäsuren, Pausen, in denen man trotzdem nicht aufatmen kann. Trotz der erzählten Grausamkeiten verströmt der Film Ruhe, durch den Duktus der Sprache, durch den langsamen Schnittrhythmus, man hört zu und wundert – wie so oft –  wie es sein kann, dass Menschen einander solche Dinge antun.

 

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Die Jurys in Graz haben wohl heute schon entschieden. Wer die Preisträger sind, wird dann morgen bekanntgegeben. 

#Diagonale Liebe und tote Tiere

 

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Lieben

 

Morgendlicher Spass: um 9:30 auf der Reservierungsplattform einloggen, um dann erstmal eine Fehlermeldung zu bekommen. Das wiederholt sich dann etwa zweimal, bis die Plattform die vermutlich vielen gleichzeitigen Anfragen „verdaut“ hat. Mittlerweile hat sich auch eingespielt, in welchem Kino, welche Reihen zu bevorzugen sind – wenn sie denn dann noch buchbar sind.

 

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Nur um es mal wieder gesagt zu haben: Es gehören mehr Kurzfilme ins Kino.
Egal wo, wenn es Kurzfilmprogramme zu sehen gibt, sind die Säle voll, unabhängig vom Wetter und der Uhrzeit. Das Frühprogramm Kurzspielfilm ist da keine Ausnahme. Wer also Tickets hat, wird belohnt mit vier schönen Filmen, die sich auf die eine oder andere Art mit Liebe befassen.

 

Die Zerredete

gschichtl von Franz Quitt ist eine wunderbare Übung in Schauspiel und Kamera. Ein Paar, oder eben nicht mehr Paar, zerredet die möglichen Reste einer Beziehung. Immer wieder wären sie kurz davor, einen Ansatz zum Lieben zu finden, aber zielsicher wird dieser dann zerredet. Darsteller, Kamera und Schnitt tragen den Film, obwohl wenig anderes passiert als Dialog.

Die Romantische

Voodoo Jürgens – Federkleid von Hannes Starz, Marianne Andrea Borowiec und Voodoo Jürgens. Ein wunderschönes, üppig ausgestattetes Musikvideo über die ultimative, endlose und romantische Liebe. Schöne balladenhafte Musik, und dazu zart gespielt eine Liebesgeschichte. Viel zu schade für reines Streaming.


Die Schräge

In Bye Bye, Bowser von Jasmin Baumgartner treffen eine wilde, punkige Musikerin und ein Bauarbeiter aufeinander. Zwei radikal unterschiedliche Welten prallen mit Wucht aufeinander, lassen für eine lange Nacht alles möglich sein, und scheitern am Morgen tragisch.

Die Tragische

Cornetto im Gras von David Lapuch zeigt verlorene Gestalten irgendwo im ländlichen Österreich. Einzig die Beziehung zwischen Enkel und Grossvater scheint von tiefen Gefühlen geprägt. Alle anderen Figuren, versammelt rund um den Imbisswagen des Enkels, verbindet eher die Gewohnheit und die über Jahre gewachsenen Abneigungen. Ein verloren gegangenes Pferd, eine junge Frau und eine tickende Standuhr, am Ende der Nacht reisst ein Ereignis kurz das Immergleiche auf, um dann wieder in den altenTrott zurückzufallen.

 

 

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Kraftvoll

 

Film, beschränkt in gewisser Weise durch die Zeit auf der und den Rahmen durch die Leinwand, kann genutzt werden, um zu zeigen, wie die Welt ist oder auch wie sie sein könnte. Mal ideal, mal utopisch, mal dystopisch, in der Enge von Zeit und Rahmen ist alles denkbar. Auch die Wirklichkeit. Evelyne Faye nutzt in Lass mich fliegen diese Möglichkeit. Ausgehend von ihrer eigenen Tochter, die mit Down-Syndrom geboren wurde, zeichnet sie ein Portrait von jungen Erwachsenen, die selbstbewusst und grossteils selbstbestimmt trotz und mit Down-Syndrom ihr Leben leben. Tatsächlich sind ihre Leben, ihre Träume nicht zu unterscheiden von denen anderer junger Menschen: eine erfüllte Partnerschaft, ein Beruf, soziales Miteinander, mit dem Unterschied, dass man ihnen von Staatswegen und von der Gesellschaft her immer wieder Steine in den Weg legt. Ein sehr schöner Film, der das Thema ohne Weinerlichkeit angeht, immer nah an den Personen bleibt, und durch die eingestreuten Sequenzen mit der kleinen Tochter, einen zusätzlichen Blick in Richtung Zukunft wirft.

 

Tote Tiere

 

In Archiv der Zukunft streift Joerg Burger durchs Innere des Naturhistorischen Museums in Wien. Im Zentrum stehen nicht die prunkvollen Säle, sondern die Hinterzimmer, Schubläden, Keller, Archive. Er zeigt das, was der Besucher nie zu sehen bekommt, aber wichtiger und unschätzbarer Bestand diverser Forschungsgebiete ist. Nass- und Trockenpräparate stapeln sich, und werden genutzt, um mit immer neueren wissenschaftlichen Methoden zum Beispiel DNA-Analysen vorzunehmen. Nicht nur Tiere, sondern auch Steine, Pflanzen und alte Akten sind Ziel der Forschung, und können Aufschluss aus der Vergangenheit für die Zukunft geben. Eine endlos erscheinende Arbeit, witzig anzusehen und informativ dazu.

 

Reisefieber

 

Petra Zöpnek erzählt in Wo ist Ida von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer, die ab den 1840er Jahren bis zu ihrem Tod alleine von Wien aus die Welt bereiste, und in Vielem die erste (weisse) Frau war. Soviel zu den „harten Fakten“. Der Film erzählt das alles auf extrem originelle und phantasievolle Weise, in vignettierten Schwarz-Weiss-Bildern, in Animationen, mit Zwischentiteln wie bei Stummfilmen, darunter eine ausgeklügelt komponierte Geräuschspur und immer wieder Zitate aus den Reisetagebüchern. So macht Geschichte Freude.

 

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#Diagonale Horror und Fussball

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Tonfilm-Bildfilm

 

Tatsächlich ist es immer wieder eine gute Idee, den intellektuellen Filmdiskurs zu hinterfragen, seine eingefahrenen Wege zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen. Selbst das Konzept auf den Kopf zu stellen, kann ein sehr guter Plan sein. Was bei Razzennest von Johannes Grenzfurthner passiert, ist allerdings eher grosser Unfug. Der Film besteht aus einer Bild- und einer davon losgelösten Tonspur. Im Bild gibt es Landschaft, kaputte Häuser, Friedhöfe, Kreuze, Details von jeder Komponente, die Tonspur ist ein Hörspiel, das immer mehr aus dem Ruder läuft. Am Anfang hört man eine Art Interview in einem Studio, zwischen einer Kritikerin und dem fiktiven Filmemacher der Bilder. Sie haben einen recht harschen, manchmal sogar ganz witzigen Austausch über Film als visuelles Medium, das sich, laut fiktivem Regisseur, nicht von Erklärung und Konzept in die Knie zwingen lassen darf. Dazu sind die Bilder ruhig, meditativ. Plötzlich wird aus dem Interview eine Art Horrorhörspiel, in dem sich der Tonmeister und der Kameramann in marodierende Horden aus dem 30-jährigen Krieg verwandeln, und in Folge das gesamte Studio abbrennen und am Ende alle tot sind. Die Bilder, werden – immerhin – dazu rabiater, schneller geschnitten, die Sequenzen abgefahrener. Aber es bleiben Bilder einer Landschaft, in der im 30-jährigen Krieg (wo nicht in Europa?) Mord und Totschlag herrschten, die gleichen Bilder wie vorher schon. Die Idee und Umsetzung sind eindeutig durchdacht und nicht beliebig hingepfuscht, und als Kurzfilm wäre das Ganze wahrscheinlich noch originell gewesen. So war es hauptsächlich anstrengend, und einige Zuschauer haben auch den Saal verlassen.

 

Geister

 

Um 18 Uhr hat bei vollem Saal ein Horrorfilm mit zarten Schockelementen seine Uraufführung: Heimsuchung von Achmed Abdel-Salam. Eine Kleinfamilie muss gegen die Geister der Mutter kämpfen. Wie immer in solchen Geschichten, was man aus der Vergangenheit verdrängt, verfolgt und peinigt in der Gegenwart, wenn man das Verdrängte aber erkennt, stehen die Geister plötzlich im Zimmer. Zumindest bis man sie erkannt, zurückgedrängt, ihren Ursprung verstanden hat. Sehr hübsch gemachter Film, schön gespielt, vor allem vom kleinen Mädchen (Lola Herbst), das die Bandbreite von Schreck bis Aufmüpfigkeit und wieder zurück perfekt beherrscht. Diese österreichische Produktion, keine Koproduktion, braucht sich vor vergleichbaren Filmen definitiv nicht zu verstecken.

 

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Fussball

 

… ned, tassot, yossot … von Brigitte Weich erzählt sowohl von Fussballerinnen als auch von Nordkorea. Was auch bei dieser zweiten Beobachtung – nach ..hana, dul, sed..– hervorragend gelingt, ist, die Protagonistinnen offen, liebevoll und voller Enthusiasmus erzählen zu lassen. Dabei ist es egal, ob sie über ihre Karrieren nach der aktiven Zeit als Nationalspielerinnen reden, über Kinderwunsch, Abtreibung oder die Verehrung für ihren politischen Führer. Weich mischt Privates und Politisches mit ebenso leichter Hand, wie sie in den verschiedenen Lebensphasen der Frauen hin und her wechselt, und sie so immer wieder auch ihr eigens Leben mit Humor kommentieren.So entsteht eine ehrliches, feinfühliges Portrait, in dem man die Frauen wirklich kennenlernt und das beim Schauen sehr viel Spass macht.

 

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Die heutigen Vorstellungen waren alle ausverkauft, und vor den Kassen bilden sich immer wieder Schlangen, um doch noch Restkarten zu ergattern.

#Diagonale Tierisches

 

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Früh und Sommerlich

 

Während Graz langsam wach wird, geht es los ins erste Kino. Der Unsinn im Buchungssystem der Karten wird offensichtlich: Die gebuchten Sitzreihen sind entweder zu weit vorne oder zu weit hinten. Und statt bequem und bereit zur Flucht am Rand, sind sie mitten in den Reihen. Saalpläne auf der Buchungsseite wären wirklich sehr, sehr hilfreich.

 

Zäher Start

 

Das erste Programm, Kurzdokumentarfilme, klingt gut, klingt spannend, ist am Ende aber nur zu einem Drittel geglückt.
Wir sind alle Kanaken von Kervin Saint Pere will einfach zu viel gleichzeitig. Er thematisiert Kolonialismuskritik, eine sprachwissenschaftliche und soziologische Analyse des Begriffs „Kanake“, und obendrauf noch Kritik an frühen Formen der Ethnologie, am Ende kommt alles zu kurz. Und was vor allem zu kurz kommt, sind die Bilder, das Filmische, obwohl er eine gute Grundidee hat. Von alten ethnologischen, kolonialen Photos schneidet er die abgebildete indigene Bevölkerung aus, hinterlegt die frei werdende Fläche mit Filmbildern, teils aus altem Material, aber auch mit neuen, symbolträchtigen Bewegtbildern. Das alleine wird mit der Zeit anstrengend zu decodieren, weil darüber von Anfang bis Ende der sehr intellektuelle, komplexe, zu komplexe Off-Text liegt. Als Zuschauer hört man auf, den an sich interessanten Gedanken und originellen Bebilderungen zu folgen.
Sehr gelungen, und mit minimalem „didaktischem“ Überbau, kommt Reihe 6 von Lennart Hüper und Bidzina Gogiberidze aus. Sie zeigen das Leben im Exil, in einem Dorf, das zunächst nur ein Flüchtlingslager war. Geflüchtete aus dem von Russland annektiertem Südossetien sind dort gestrandet, hängen geblieben, im Exil in Georgien. Während es für die Grosselterngeneration eine Tragödie bedeutet, Heimat und Gewohntes zu verlieren, spielen die im Exil geborenen Kindern völlig entspannt, leben wie alle Kinder, und wollen eines sicher nicht: den Ort verlassen, der für sie Heimat ist.
Tara Najd Ahmadi will in My Sleepless Friends die Schlaflosigkeit ergründen, ihre und die ihrer Freunde. Sie mischt dafür Gespräche – Online-Interviews – mit sehr disparaten und – für sie –assoziativen Bildern. Die Idee dahinter ist klar, aber die real existierende Ausführung funktioniert nicht. Die Bilder und ihr Rhythmus scheinen völlig beliebig über den Texten zu liegen, mal als Überlagerung, mal in langen Ein- und Ausblenden, ihre Beziehung zum Gesagten mag sich für die Regisseurin völlig logisch erschliessen, als Zuschauer wundert man sich und ist verwirrt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit viele Gründe hat, und dass 20 Minuten ganz schön lang werden können.

 

 

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Sehr schön Dunkel

 

Nachdem die Vorstellungen weitgehend entzerrt wurden, ist immer wieder Zeit, in der Sonne zu sitzen, die letzten Bilder sacken zu lassen, und sich auf die nächsten Bilder vorzubereiten.
Mit frischem Blick also zurück ins Dunkel, und das ist durchaus wörtlich gemeint.
Staging Death von Jan Soldat zeigt in 8 kompakten Minuten die Filmtode von Udo Kier. Alle Filmtode! Das ist witzig, skurril, gekonnt und sehr blutig. Kier als Meister des abseitigen Films bietet eine wirklich sensationelle Bandbreite an Filmtoden.
Wenn Albträume albträumen würden, dann käme dabei wahrscheinlich sowas wie Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 – The Orgy of the Damned heraus. Wie schon im ersten Teil der als Trilogie angelegten Geschichte, taucht Pfaffenbichler Kellerräume in monochrom eingefärbte Horrorräume, in denen maskierte Gestalten ihr Unwesen treiben. Blut, Gedärme, Sex und Gewalt in allen möglichen Kombinationen, die sich damit ersinnen lassen, und alles ohne eine einzige Dialog- oder Textzeile. Aber bei allen originellen Einfällen, in der Basis erzählt er eine Geschichte voller Liebe, Empathie, Action und Verrat und löst die Sequenzen auch ganz klassisch oder genregerecht auf. Die Phantasie, das Aussergewöhnliche kommt allein aus den schrägen Gestalten, aus den Orten, der Farbdramaturgie, der Tonspur und der überbordenden Menge an vermeintlichen Schockeffekten. Ein Konzept, das wunderbar funktioniert, sofern man mit dem Genre keine Probleme hat.
Danach wundert man sich, dass draussen Menschen friedlich und unverletzt in der Sonne sitzen.

 

Der Nachwuchs schläft nicht

 

N.Geyhalter mit jungem Filmteam
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Während der nächsten Pause plötzlich hektische Betriebsamkeit. Eine Gruppe ganz junger Filmschaffender rennt in den Hof des Schubert-Kinos, räumt Tische weg, baut ihr Equipment auf. Auftritt Nikolaus Geyrhalter, der von der Gruppe interviewt wird. Der Profi ganz entspannt, die künftigen Profis leuchten still vor sich hin, ein schönes Bild. Am Ende des Interviews gibt er dem jungen Tonmann noch einen Tipp, wie er die Tonangel besser halten kann, ohne dabei Kraft zu verlieren.

 

Stilisiert

 

Le Formiche di Mida von Edgar Honetschläger will mit seinem Film dazu beitragen, dass der Mensch mit der ihn umgebenden und ihn nährenden Natur (wieder) pfleglich umgeht. Das ist ein nobles Ansinnen. Ob sein überstilisierter Film das wirklich schafft, bleibt unsicher. Über den immer sehr schönen Bildern liegen fast konstant Off-Texte, in denen die diversen Mythen, Philosophien und Religionen das Verhältnis von Mensch und Natur verhandeln. Es „sprechen“ ein Esel, ein Baumgeist, Ameisen, und – grösstenteils– Männer, deren Funktion im Gefüge nicht näher definiert werden. Das hat etwas filmpoetisch-essayhaftes und kann, wenn man sich Mühe gibt, mit den Landschaftsbildern in Beziehung gesetzt werden. Über die Länge des Films ist es aber etwas manieriert. Und die Frage, ob der Mensch die Natur nährt, oder die Natur den Menschen, ja, kann man diskutieren, ist aber beim aktuellen Zustand der Umwelt fast schon egal.

 

Tiere gehen immer

 

Während der Hochphase der Pandemie hatte auch der Salzburger Zoo geschlossen. Von den Tieren und ihren Pflegern in dieser Zeit handelt Zoo Lock Down von Andreas Horvath. Was bereits nach den ersten Minuten nervt, ist die Musik, sie suggeriert Spannung bis hin zu Horrorelementen, die der Film dann in keinster Weise einlöst. Insgesamt leitet der Film einen grossen Teil seiner Spannung von behaupteten Kausalzusammenhängen her, die aber selten belegt werden. Ja, dafür ist Schnitt (auch) da, man zeigt ein Tier, man hört ein Geräusch, man zeigt den Blick, oder die Bewegung. Wenn man also erklären will, wie Filmschnitt funktioniert, dann kann man das hier gut zeigen. Aber Horvath macht es sich damit irgendwie zu leicht, er zeigt zu selten den Gesamteindruck, und spielt zu oft mit den kreierten Erwartungen. Schön ist, dass es weder Interviews noch Kommentare gibt, die Tiere tun, was sie so tun in ihren Gehegen und Käfigen, die Pfleger arbeiten, und selbst die Tiere, die verfüttert werden, werden liebevoll in ihren Behausungen gezeigt. Am wildesten ist eine Sequenz, in der einem betäubten Nashornbullen von zwei Tierärzten Sperma „abgezapft“ wird. Das Spendersperma wird kurz untersucht und dann einer, ebenfalls betäubten, Nashornkuh in mühevoller Arbeit in die Gebärmutter gespritzt. Was man nie erfährt: Ist diese Transaktion erfolgreich verlaufen? Ein kleiner Verweis im Nachspann wäre schön gewesen.
Es wurde auf jeden Fall viel und fröhlich gelacht im Kino, weil: Tiere gehen immer.

 

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#Diagonale Grosse Gefühle zum Start

 

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Vorarbeit

 

Die Festivalarbeit beginnt noch vor der Anreise nach Graz, um 9:30 wird die Reservierungsseite freigeschaltet. Also schnell für morgen Tickets reservieren. Seit der Pandemie besteht keine freie Platzwahl mehr, wieso allerdings nur einige Plätze zur Auswahl erscheinen, ist etwas undurchsichtig. Und ohne Saalplan ist die Reservierung für den ersten Festivaltag ein Ratespiel: Welches war doch gleich die richtige Reihe? Welcher Platz ist aussen? Nun gut, spätestens übermorgen wird sich das wieder eingependelt haben. Die ersten vier Vorstellungen sind auf jeden Fall gebucht.

 

Grosse Gefühle

 

Milde 20 Grad am Eröffnungstag der Diagonale in Graz.
Die Helmut List Halle ist voll wie lange nicht mehr und mit etwas Verspätung gibt es den ersten Eröffnungsfilm des Abends: NYC RGB von Viktoria Schmid.
Sieben kurzweilige Minuten New York: analog und in Dreifachbelichtung, mit schrägen Farbakzenten und interessanter Tonbearbeitung. Eine Postkarte ans Publikum, eine Aufforderung zu träumen, ein schöner Einstieg.
Erst danach treten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber das letzte Mal vors Publikum, um die Diagonale zu eröffnen. Schon als sie auf die Bühne kommen, ist der Applaus mächtig, hindert sie anzufangen. Auch in diesem Jahr verbinden sie in ihre Rede Kunstgeschehen und Politik. Sowohl Weltpolitik als auch österreichische Lokalpolitik werden dabei mit kritischen Seitenhieben bedacht. Unterbrochen werden sie immer wieder von wildem Klatschen. Die Intendanten werden dann doch langsam etwas verlegen, ob dieser mächtigen emotionalen Welle, die sie zum Abschied anschwappt.
Auch die Vergabe des Schauspielpreises an Margarethe Tiesel wird von grossem Beifall und kleinen Freudentränen begleitet.

 

 

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Vom Warten

 

Spät, aber dann doch, die Österreich-Premiere von Das Tier im Dschungel von Patric Chiha.
Der Film beginnt mit grobkörnigen 4:3 Aufnahmen, ein Fest, irgendwo, Menschen tanzen, feiern, unspezifisch, eher ein Urlaubsfilm. Dann ein Sprung, Menschen tanzen, diesmal in einem Club, ausgelassen, wild, sexy. Im Off, eine Erzählerin, sie spricht von May und John, die sich 1979 treffen. Ein Paar, das den ganzen Film über kein Paar sein wird. Zwei Menschen, die im Warten verharren, während draussen die Jahre vergehen. Aber für May und John, die sich nur in diesem Club sehen und das auch nur samstags, steht die Zeit in einer Schleife. Für den Zuschauer bricht die Zeit immer wieder mittels kurzer Sätze, oder mittels kurzer Fernseh-Ausschnitte durch, schafft Zäsuren im immer Gleichen. Jahrzehnte verstreichen, andere Tänzer, andere Musik, aber das Warten, das die Beiden verbindet, wird nicht belohnt. Sie warten auf das Grosse, das eintreffen wird, irgendwann, und das Johns Welt komplett verändern wird. Mit May wartet auch der Zuschauer, und wie bei May schleicht sich doch bald die Erkenntnis ein, dass das, worauf John wartet, schon längst da ist, dass er sein und ihr Leben sinnlos vertrödelt mit dem endlosen Warten. Und das ist dann auch das Problem des Films, es ist so offensichtlich, auf was die Geschichte hinaus will, dass es dann viel zu lange dauert, dort anzukommen. Der Film halt viel Interessantes, zuallererst die Kamera, die Entfesselung und Statik spannend ins Bild bringt, und der Schnitt, der einem oft kontrapunktischen Rhythmus folgt, aber trotzdem: zu lang.

Gegen halb elf schiebt sich das Premierenpublikum dann hungrig und durstig ins Foyer, und wie im Film gibt’s dann: Party, das Warten hat ein Ende.

 

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# Diagonale Vorschau

 

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Der Anfang vom Ende

 

Das war sie nun, die letzte Diagonale Programmpräsentation des Intendantenduos Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. In gewohnter Doppelconférence, die auch immer eine Art Schnellrede-Wettbewerb ist, führten sie durch das Filmprogramm ihrer letzten Diagonale.
115 Spiel-, Dokumentar-, und Experimentalfilme werden in Graz zu sehen sein, dazu noch Rahmenprogramme, Retrospektiven, Diskussionen und wie immer wird die österreichische Filmbranche in grosser Zahl die Gassen und Cafés der Stadt bevölkern.
Frühling in Graz eben.

Frühlingsanfang

 

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Eröffnet wird am 21. März mit dem bereits in Berlin gezeigten Spielfilm Das Tier im Dschungel (AT/BE/FR 2023) von Patric Chiha. Aber auch wenn der Eröffnungsfilm eine grosse Koproduktion und auch keine Uraufführung ist, sind im Programm dann doch eine ganze Reihe Uraufführungen vertreten.
Wie so oft machen hauptsächlich die Dokumentar – und Experimentalfilme neugierig, zum Beispiel Brigitte Weichs ...ne, tassot, yossot…, die Fortsetzung des grossartigen Hana, dul, set… über das nordkoreanische Flussballfrauennationalteam. Oder Archiv der Zukunft von Joerg Burger über das Naturhistorische Museum in Wien, und bei den Experimentalfilmen zum Beispiel Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 The Orgy of the Damned.

Wenn man von der überschwänglichen Begeisterung der Intendanten ausgeht, dann wird diese Diagonale ein rauschendes Fest bunter Bilder, voller Emotionen, Humor und Intellekt.

 

Schernhuber und Höglinger in Aktion
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Kino-Flatrate

 

Nicht für Festivalkinos, sondern für den täglichen Kinobedarf gedacht, ist die neue Nonstopkino-Karte, die es ab Mitte des Monats österreichweit geben wird.
Mit dieser personalisierten Karte – sprich: nicht übertragbar – kann man dann für 24 Euro monatlich in jedes der mitmachenden Kinos gehen und so viele Filme schauen, wie man mag.
Der Haken an der Sache?
Es machen „nur“ die Programmkinos mit und, in wirklich grosser Zahl, auch nur in Wien.
Weiterer Haken, man muss sich mindestens 8 Monate binden. Bei Kartenpreisen von derzeit ca. 10 Euro, sollte man also dreimal im Monat ins Kino gehen. Jeden Monat, 8 Monate lang. Man muss also ein fleissiger Kinogänger sein, denn sonst sind die 24 Euro doch teuerer als sie erscheinen.

Da alles noch sehr in den Anfängen steckt, machen im Moment auch nicht alle Verleiher der Programmkinos mit, was dann auch bedeutet, dass einige Filme, selbst in den mitmachenden Kinos, nicht im Preis der Karte inbegriffen sind.

Ansonsten klingt das Projekt wie eine sehr schöne Idee, um einerseits mehr Menschen ins Kino zu bringen, dem Publikum preislich entgegenzukommen und andererseits die Planbarkeit für die Kinos zu erhöhen.

 

# Marcel The Shell With Shoes On

Filmcasino
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Verliebt in eine Muschel

 

Vielleicht ist es nicht ganz fair, einen Film zu bewerben, der zurzeit kaum in Kinos zu sehen ist, aber nach Marcel the shell with shoes on von Dean Fleischer-Camp sollte man dringend Ausschau halten, und jeden möglichen Vorführtermin wahrnehmen.

Einfache Geschichte


An sich erzählt der Film eine ganz einfache, altmodische Geschichte:
vom Erwachsenwerden, vom Lernen, von Freundschaft und Veränderung.
Das aber wird mit so viel Phantasie, Spass und technischem Witz erzählt und gestaltet, dass man nicht anders kann, als in Begeisterung zu geraten.

 

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Der Film mischt Stop-Motion, für die Muscheln, mit Realbildern und kreiert so eine Welt, in der Unglaubliches möglich wird.
Marcel, die kleine, einäugige, schuhtragende Muschel lebt mit seiner Grossmutter in einem Haus, das nach der Trennung und dem anschliessendem Auszug des Besitzerpaares über Airbnb vermietet wird. So lernt Marcel den Mieter Dean kennen, der sofort anfängt, kleine Dokumentarfilmchen mit der Muschel zu drehen, und diese online stellt. Marcel wird zum Internet-Star, mit allen Problemen und Chancen, die sich daraus ergeben. So weit die Basis der Geschichte.

Süss, aber nicht klebrig


Aber Marcel ist nicht nur ein gewitzter kleiner Muschel-Kerl, der Wege finde, das Haus für seine Bedürfnisse umzubauen – grossartig der Moment, in dem er erklärt, wie er aus Schamhaaren aus der Badewanne eine stabile Kordel bastelt – er ist auch ganz selbstverständlich und kitschfrei ein empathisches Wesen, mit komplexen Gedanken und Überlegungen. Das alles ist so zauberhaft und süss und doch komplett frei von Überzuckerung, und so verlässt man das Kino statt genervt und verklebt mit einem warmen Gefühl der Freude.

Marcel the Shell With Shoes On ist für den Oscar in der Kategorie Animation nominiert, vielleicht kommt er also demnächst doch noch mal in das eine oder andere Kino.

 

 

 

58.Solothurner Filmtage Zum Schluss

 

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Was ist schweizerisch am Schweizer Film?

 

Nach sechs Tagen und 27 Filmen ist die Frage nach der Identität des Schweizer Films immer noch nicht zu beantworten.
Es gab Filme zu allen nur denkbaren Themen, in allen möglichen Formen, Filmsprachen und in allen möglichen Sprachen. Vielleicht ist das am Ende das Einende, dass Schweizer Filme eine grosse Vielfalt abdecken. Es ist nicht nur die wirtschaftliche Globalisierung, sondern auch, weil Schweizer Filmschaffende aus vielen Ländern kommen, mehr als die vier Landessprachen sprechen, und in vielen Ländern ausserhalb der Schweiz leben und arbeiten können.
Aber eine echte Handschrift, etwas, an dem man sofort erkennt: Schweizer Film, nein, das gibt es so nicht.
Bleibt die Frage, ob das jetzt etwas Gutes ist, oder ob das ein Verlust ist.
Was aber auf jeden Fall wichtig ist, ist die Sichtbarkeit der Filme im europäischen Kino. Daran kann sicher noch etwas gearbeitet und verbessert werden.

 

 

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Die Preise

 

Der Prix de Soleure geht an Until Branches Bend von Sophie Jarvis, was insofern erstaunlich ist, als in der Anforderung für den Preisträger-Film nicht nur ein humanitärer Anspruch gefragt ist, sondern auch innovative visuelle Konzepte. Ersteres mag man in der Geschichte finden, innovatives visuelles Konzepte eher nicht.
Der Publikumspreis geht an Amine – Held auf Bewährung von Dani Heusser, leider nicht gesehen. Genauso wenig den Preis Opera Prima, für den besten Erstlingsfilm, der an Foudre von Carmen Jaquier, geht.

Alle Preise und Begründungen: hier

 

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58.Solothurner Filmtage Identität

 

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Identität

 

Eine letzte Diskussionsrunde bei Fare Cinema, diesmal das Thema: Generation Diaspora, im Ausland zuhause.
Auf dem Podium junge Schweizer Regisseure und Regisseurinnen mit familiären Wurzeln in anderen Ländern. Die Frage, wie weit sie Identitätssuche durch oder mit ihren Filmen betreiben, und auch wie universell diese Suche dann für andere sein kann.
Es ist auch eine Frage nach der Identität eines Schweizer Films an sich.
Was macht ihn aus?  Gibt es eine Handschrift?
Und wie weit hängt die ab, von den nationalen und ethnischen Wurzeln?
Tatsächlich ist diese Frage nicht zu beantworten, es ist manchmal eine Eigendefinition, manchmal eine „bürokratische“ Definition, mal der Pass, mal der Standort, mal das Herz, mal das Geld.
Ein guter Film wird am Ende immer der sein, bei dem das Publikum eine eigene Beziehung zur Geschichte, zum Thema finden kann. Die Frage nach der Identität des Films ist vielleicht insgesamt gar nicht so wichtig, ausser eben im Kontext eines nationalen Festivals.

 

 

Alkohol

 

The Curse von Maria Kaur Bedi und Satindar Singh Bedi ist einer der schwersten Filme dieses Festivals, inhaltlich und bildlich.
Er ist ein Dialog in der Vorhölle, eine Geschichte von Alkoholsucht und Co-Abhängigkeit, und von Liebe. Der Film hat zwei fast getrennte erzählerische Ebenen, einmal die Sprache, der Dialog, der erzählt von einem Mann, der schon als Kind alkoholsüchtig wird, und von einer Frau, die behütet aufgewachsen ist. Erzählt vom Zusammentreffen der Beiden, dem Kampf mit und gegen die Dämonen der Sucht. Hier setzt die zweite Ebene an, das Visuelle: wie zeigt man, was sich abspielt?
Die Wahl fiel auf Abstraktion und Verfremdung. Die Bilder sind extrem verlangsamt, unscharf, wie durch eine geriffelte Milchglasscheibe, Lichtreflexe so verlangsamt, dass sie über die Leinwand schweben wie Schmetterlinge. Und dann, immer wieder Schatten: von Händen, von Köpfen, alleine, zusammen.
Der Dialog, der zwischendurch zum Streit, zum Schreien wird, und sich wieder beruhigt, der die ultimative Drohung enthält: Wenn du je wieder trinkst, gehe ich. Kompromisslos.
Der schwerste, der vielleicht auch privateste Film, denn er zeigt
die beiden Filmemacher sozusagen nackt. Während der Abspann lief, vor stilisierten Wellen, kamen beide, Hand in Hand, auf die Bühne, ihre Silhouetten verschmelzen mit den letzten Filmbildern. Filmreif und auch rührend.

 

 

 

Körper

 

Die Filme von Verena Paravel und Lucien Casting-Taylor muss man mögen, und aushalten können, das gilt für De Humani Corporis Fabrica ganz besonders.
Zwei Stunden führen sie das Publikum durch Pariser Krankenhäuser, von unten nach oben, in diverse OP-Säle, durch die Geriatrie und aufs Dach. Wer die Filme der beiden visuellen Anthropologen kennt, weiss, es geht um Bilder, ums Schauen. Kein Text, keine Erklärung, nur Sehen und Bilder wirken lassen. In diesem neuen Film sollte man auch Blut sehen können, viel Blut sogar. Die neuen Kameras, die bei Operationen eingesetzt werden, ermöglichen Blicke ins Innere, und kommen so auf die Leinwand.
Dann ist es wieder „nur“ die neugierige Kamera während der OP, in der Pathologie, in den Gängen. Blut, Knochen, Geräte, Gesichter in Ausschnitten, konzentriert. Wir haben alle einen Körper, und der ist verletzlich.

 

Rebellen

 

Jungle Rouge von Juan José Lozano und Zoltán Horváth zeigt die letzten fünf Jahre des FARC Anführers Raul Reyes im Dschungel. Aber nicht als Dokumentarfilm, sondern als Animationsfilm.
Reale Spielsequenzen, verfremdet, modifiziert, dass sie wie gemalt wirken, wechseln sich mit Traumsequenzen ab, die wie bewegte Plakate des sozialistischen Realismus wirken. Als Grundlage des Films, des Spiels, dienten E-Mails, die auf Reyes Computer gefunden wurden. Diese Mischung aus Animation, Abenteuerfilm und realen geschichtlichen Fakten funktioniert bestens, wird dem Thema gerecht, während das Publikum intelligent unterhalten wird.

Das war der letzte Film, den ich bei dieser Ausgabe der Solothurner Filmtage angeschaut habe. Morgen folgen noch die Preise.

58.Solothurner Filmtage Erinnern

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Eisig

Der vorletzte Kinotag, eisiger Wind bläst, die Aare hat Wellen mit Schaumkrönchen, das ist malerisch, aber unwirtlich. Da klingt Kurzfilmprogramm Architektur doch recht verführerisch. Tatsächlich ist es im Kino aber kühl und die drei Filme des Morgens sind eher – na ja.

 

Beton

 

Ghost Fair Trade von Laurence Bonvin und Cheikh Ndiaye zeigt das Messegelände in Dakar. Ein Bau aus der Mitte der 70er Jahre, von französischen Architekten konzipiert, mit der Idee, archaische, senegalesische Formen als neue senegalesische Architektur zu etablieren. Der Ort wirkt unbelebt, das organische Äussere verbindet sich nicht mit dem Inneren, nicht mit der Nutzung und auch nicht mit den Geistern, die an diesem Platz zu Hause waren.
Sichtbeton mit Sicht auf Beton, wesentlich mehr an kreativer Idee steckt nicht in Cemento grezzo von Christian Balictan. Ein Parkhaus, von aussen, von innen, von innen nach aussen, von innen nach innen. Alles in einem Rhythmus, der keinem spürbaren Konzept folgt, dafür aber das irritierte Publikum zum Kichern und Hüsteln brachte. Ist ja auch schon was.
Am besten funktioniert Piazzale d’Italia von Enea Zucchetti.
Der Film suggeriert eine Art Turmbau zu Babel, bei dem der Bau eines festungsgleichen Casinos gezeigt wird. Sehr schön ist die Tondramaturgie, die mit Geräuschen so spielt, dass daraus Musik wird. Oder ist es umgekehrt? Einstellungen vom Bau und vom fertigen Gebäude blenden ineinander und zeigen, dass letztlich nur ein Geldgrab entsteht. Der Film hat einen schönen Fluss, ist intelligent konstruiert und erzählt mühelos, schwebend mehrere Ebenen.

 

 

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Knochen

 

The DNA Of Dignity von Jan Baumgartner ist der wohl sensibelste und berührendste Film zum Thema der Opfer-Identifizierung in Bosnien.
In sehr schönen, ruhigen Bildern zeigt er die vielen Schritte, die nötig sind, die Vermissten des Bosnienkriegs zu finden und zu identifizieren. Dass er dabei ohne Kommentar und redende Köpfe arbeitet, macht die Stärke des Films aus. Sparsam setzt er im Off Interviewpassagen ein, gesprochen nicht von den Protagonisten im Bild, wodurch ein professioneller Fluss in der Sprache, im Ton entsteht, ohne den Inhalt zu schmälern. Die Kamera beobachtet die minuziöse Arbeit der Forensiker, wie sie aus Knochenstücken und Fragmenten einen identifizierbaren Menschen rekonstruieren. Folgt einem Bauern in den Wald, der seit Jahren nach Stellen sucht, wo weitere Knochen zu finden sind, und zeigt eine Mutter, die immerhin einen ihrer beiden Söhne jetzt begraben kann. Aber immer noch sind tausende Vermisste nicht gefunden, nicht identifiziert. Und die Zeugen, die sagen könnten, wo man suchen muss, werden immer weniger.
Der Film ist nominiert für den Prix de Soleure und wäre absolut würdig, diesen Preis zu bekommen.

Wasser

 

Ein spanisches Dorf, Sommer, ausgelassene Freundinnen, und immer wieder alte Mythen, das ist der Hintergrund vor dem El Agua von Elena López Riera spielt.
Der Fluss im Dorf, ein dreckiges, stinkiges Gewässer, in dem keiner baden möchte. Aber der Fluss ist auch zentraler Teil des Dorfmythos, nach dem der Fluss sich immer wieder in junge Frauen verliebt, und sie mitnimmt. Diejenigen, die sich weigern, sich dem gierigen Verlangen hinzugeben, sind verantwortlich für die Zerstörung, die der wütende Fluss mithilfe des Regens bringt. Die junge Ana ist im Zentrum dieser sommerlich flirrenden Geschichte voller Aberglauben und unterschwelliger Frauenfeindlichkeit. Ein sehr stimmungsvoller Film, der um reale Naturkatastrophen mit altem Volksglauben eine neue Geschichte spinnt.

 

Technik entzaubert

 

Die Festival-App verweigert plötzlich den Dienst. Weder Bitten noch Betteln, in Techniksprache: Neuinstallieren und Handy Neustart, wollen helfen. Die App will mich nicht wiedererkennen, und damit auch nicht zeigen, welche weiteren Vorstellungen ich gebucht habe, oder wo ich da sitzen werde.
Nicht schlimm, geht alles auch ohne, ist aber lästig!

 

Rache

 

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The Land Within von Fisnik Maxville ist ein archaisch-dunkles Märchen von Wölfen, Heimat, Geheimnissen und Rache.
Ein junger Mann reist 2008 aus Genf zurück in den Kosovo. Stück für Stück zeigt sich ihm dort eine Welt voller Geheimnisse und Lügen. Parallel wird ein Massengrab im Dorf von internationalen Forensikern untersucht. Auf ihrer Einwohnerliste steht eine Frau, die auf keiner Liste von Familienangehörigen erwähnt wird. Wer ist die Frau? Wer ist die Frau auf einem Photo, von dem keiner etwas wissen will?
In Rückblenden und Erinnerungen decken sich immer mehr Teile auf, und damit geben dann auch im Jetzt immer mehr Leute ihr Wissen preis. Eine düstere Welt voller patriarchalisch-nationalistischer Bilder erscheint.
Und doch, am Schluss gibt es eine Art Befreiung, und ein Schimmer Hoffnung – vielleicht.

 

Fünfzehn sein


Benedetta ist 15 und rundlich, sehr zum Missfallen ihrer gertenschlanken Mutter. Das ist die Ausgangslage in
Calcinculo von Chiara Bellosi. Aber 15 sein heisst auch, jede Menge Dinge vermeintlich verstehen zu können. Als ein Jahrmarkt vor dem Haus der Familie aufgebaut wird, ändert sich durch einen sehr femininen und versponnen Schausteller Benedettas Leben und sie ist auf einmal bereit, mit radikalen Schritten aus ihrer Welt auszubrechen. Die Geschichte ist sehr feinfühlig erzählt und bringt einem das Mädchen mit all seinen verwirrenden Stimmungen nah. Schön gespielt, schön gedreht, ein Film der fliegt, wie das Kettenkarussell im Titel.