Der Blog

#Visions du Réel Preisträgerfilme

 

 

©Nikita Thévoz

 

 

Virtuelle Welten

 

Der Gewinner des Grossen Preis des Festivals, While the Green Grass Grows von Peter Mettler, ist tatsächlich nirgends auf der Plattform zu finden. Andererseits ist der Film 166 Minuten lang, was am Computer kein wirklicher Spass wäre.
Also, trotz Online-Zugriff, mal wieder einen Gewinnerfilm nicht gesehen!

 

 

Knit’s Island
©Kenza Wadimoff

 

Dafür aber hier einige andere Gewinner.


Den Preis in der Kategorie Burning lights und dazu noch den FIPRESCI- Preis, also den Preis der internationalen Filmpresse, bekam:
Knit’s Island von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h.
Der Film taucht ein in die virtuelle Welt eines Computerspiels.
Innerhalb des Spiels sind die drei Filmemacher als Dokumentarfilmteam unterwegs, laufen durch die künstliche Welt, verabreden sich mit Figuren/Spielern. Anfangs sind die Protagonisten sehr in ihren Rollen verankert, Rollen, die extrem reaktionär und schiesswütig daher kommen. Im Lauf der Zeit kommen aber die Personen hinter den Rollen und vor ihren Computern immer mehr zum Vorschein. Eine sehr starke Szene ist, wenn eine Spielerin, deren Avatar eine schwerbewaffnete Soldatin darstellt, erzählt, dass sie Mutter ist, und fast gleichzeitig ihr Kind im Hintergrund anfängt zu heulen. Ihre Stimme wird leiser, sie ist raus aus dem Spiel, während ihre Figur zart animiert im Standby-Modus weiter mit dem Kopf nickt.
Das ist stark und gruselig. Nach eigenen Angaben haben die Filmemacher 963 Stunden im Spiel verbracht. In diese Zeit fiel auch die Pandemie und die Spieler ändern plötzlich ihr Spiel, sie sind weniger kriegerisch, die Personen hinter den Avataren werden privater, ihre Interaktionen im Spiel werden friedlich, spielerisch. Eine absolut ungewöhnliche, originelle Arbeit, in die man sich am Anfang allerdings erst einsehen muss.

 

Im Computer-vor dem Computer
(c) ch.dériaz

 

Kunstwelt

 

Den Preis für den besten Langfilm national gewinnt:
Nathalie Berger für Chagrin Valley

Sie beobachtet das eigentümliche „Biotop“ der Bewohner und Pfleger eines betreuten Wohnheims in den USA.
Das Heim berührt schon durch seine Anlage, in der die Zimmerflure aussehen wie eine amerikanische Kleinstadt, mit Veranden, Schaukelstühlen und einem gemalten Himmel mit Schönwetterwolken. Der Film fokussiert auf zwei alte Damen und zwei Pflegerinnen, die Welten und Träume liegen weit auseinander, und doch spürt man bei aller Geschäftigkeit eine freundliche Nähe zwischen Bewohnern und Pflegerinnen.
Ein sehr liebevoll gemachter Film, warmherzig, ein wenig traurig und ein verdienter Preisträgerfilm.

 

 Selbstfindung

Als bester mittellanger Film wurde  Self-Portrait Along the Borderline von Anna Dziapshipa gekürt.
Ein Selbstportrait in Art eines avantgardistischen Mosaiks.
Die Regisseurin, Tochter eines Abchasen und einer Georgierin, sucht nach ihrer, durch Krieg und Unabhängigkeitskämpfe, gesplitterten Identität. Sie mischt dafür diverse Archivaufnahmen, Familienfilme und neu Gedrehtes, unterlegt alles mit Gedanken und Erinnerungsfragmenten, Geräuschen und schräger Musik. Sie erschafft so ein aussergewöhliches Bild von sich selbst.

 

 

 

(c) ch.dériaz

 

Das war’s aus Nyon vom Sofa aus. Was man auf jeden Fall sagen kann: der Dokumentarfilm lebt und zeigte in Nyon seine viele Facetten. Wie für Kurzfilme gilt auch hier: Man kann dem Publikum komplexe Themen in ungewöhnlichen Filmen zumuten. Diese Filme gehören ins Kino. Aber das Angebot muss von den Verleihern, von den Kinos kommen.
Alle weiteren Informationen und Preise hier.

 

#Visions du Réel Machtspiele

 

(c) Visions du Réel

Alles für die Kunst

 

 Mon pire ennemi (My Worst Enemy)  von Mehran Tamadon

Die Qualen einer strengen Befragung am eigenen Leib erfahren und daraus einen Film machen, diese Idee steht am Anfang des Films von Mehran Tamadon.
Es beginnt eine Art Casting diverser Exiliranern in Paris, die alle im Iran harten Befragungen und – mindestens – psychischer Folter ausgesetzt waren. Sie sollen ihn befragen, sie sollen ihn spüren und lernen lassen, wie das ist, machtlos und ausgeliefert zu sein. Der Film soll, so die Idee, im Iran als eine Art Dialogöffner funktionieren, eine Idee, die schon irgendwie eher skurril und unwahrscheinlich klingt. Aber man folgt dem Gedanken. Nach ein paar kurzen Interviewsequenzen mit verschiedenen Männern folgt eine junge Frau als Interviewerin. Der Film wird rapide härter. Sie fragt Ähnliches, wie die Vorgänger, aber mit wesentlich entschlossener, geschlossener Miene, wird brutaler. Trotz unangenehmer Situationen wie: sich ausziehen, kalte Duschen ertragen, nackt in der Kälte auf einem Friedhof befragt werden, sieht man dem Regisseur immer an, dass er sich weiter der filmischen Realität bewusst ist. Mit kleinen Seitenblicken schaut er, ob die Kamera noch folgt, manchmal lächelt er. Am zweiten Tag der Befragung verändert sich die Situation, die Fragen der jungen Frau wechseln vom Allgemeinen zum Persönlichen. Sie greift das Konzept des Films an, die Unsinnigkeit der Idee, sie bezichtigt ihn, sie und ihren Schmerz für ein kindisches, eitles Projekt auszunutzen. Der Regisseur fängt an zu zweifeln, an sich, am Konzept. Er fängt an, sich schlecht zu fühlen und zu schämen. Das Machtverhältnis ist gekippt. Ein sehr intensiver, anstrengender Film. Filmisch interessant, wenn man sieht, wie die Kamera immer schafft, so auf den Protagonisten zu bleiben, dass der Fluss der Befragung nie abreisst.

 

Mon pire ennemi
(c) Mehran Tamadon

 

 

Gegen das Vergessen

Es ist immer wieder spannend, was für Filme entstehen, wenn Regisseure und Regisseurinnen auf alte, nie gesehene oder vergessene Familienfilme stossen.
Ein Rohmaterialschatz, der darauf wartet, geborgen und verarbeitet zu werden.

Para no olvidar von Laura Gabay
Ein Film gegen das Vergessen. Eine erzählerische Erinnerung, montiert aus alten Super 8- und Videofilmen und aus Audiokassetten. Eine Zeitreise durch mehrfache Exile. Die Grosseltern, die als sephardische Juden aus der Türkei nach Uruguay flohen, der Vater, der in den 70er Jahren vor der Diktatur dort nach Europa floh, die Mutter, die der Franco-Diktatur in Spanien den Rücken kehrte. Eine Familiengeschichte, deren Zusammenhalt mithilfe von Ton- und Bildaufnahmen aufrecht bleibt, und am Ende ein Abschied, der nicht in Person, sondern wieder nur durch eine Kiste voller Erinnerungen möglich wird. Eine schöne und persönliche Geschichte.

 

Überwachung

Incident von Bill Morrison
30 Minuten zusammengesetzt aus Überwachungskameras, Körper- und Fahrzeugkameras, die zeigen, wie ein Mann von einem Beamten der Chicagoer Polizei erschossen wird. Die Bilder laufen oft gleichzeitig, die Leinwand viergeteilt. Hektik und Stress entsteht, man hört den Funk der Polizei und die gestammelten Rechtfertigungen, mit denen die Beamten 2018 vor Gericht dann durchgekommen sind.

Entscheidung

 

 

 

Natalia (c) ch.dériaz
 

Natalia von Elizabeth Mirzaei
Der Film begleitet die letzten Wochen, bevor die 29-jährige Natalia ihr endgültiges Gelübde zur orthodoxen Nonne ablegen wird. In Schwarzweiss und im 4:3 Format filmt die Regisseurin den Alltag in dem kleinen Kloster, irgendwo in der amerikanischen Provinz. Aber sie zeigt auch die Zweifel, das Hadern der jungen Frau, die eine sportliche, lebensfrohe Naturwissenschaftlerin ist. Und dann immer wieder Bilder von Schatten, Landschaft, Photos, die im Sand versinken, starke, schöne Symbole für den inneren Kampf. Man fiebert tatsächlich mit, wird sie wirklich alles aufgeben, das ihr bisher wichtig war, um ein Mehr an Spiritualität zu leben? Läuft sie von etwas weg, oder zu etwas hin?

#Visions du Réel Kraft der Bilder

 

(c) Visions du Réel

 

 

Kurzes über Hunde

 

Vorteile, wenn man einem Festival online folgt: kein Stress bei der Buchung von Tickets, kein Rennen von Kino zu Kino, kein Anstellen vor Toilettentüren, regelmässiges Essen. Dafür muss man mehr Disziplin haben, nicht auf das Brummen des Handys reagieren, die Aussenwelt aussen lassen, konzentriert schauen, ohne die Hilfe, die ein dunkles Kino bietet.
Aber man schaut, was man will, wann man will. Das ist schon auch alles schön.
Am Morgen also als Erstes ein Kurzfilm über Galgos.


La Merveilleuse douleur du Gênet
von Olivia Ginevra Calcaterra
Der Film setzt diese schönen, schlanken Hunde in sehr schönen Bildern in Szene. Bilder, die aber sofort, wenn auch subtil, das Leiden offenlegen: fast immer ist vor den Hundeköpfen ein Gitter, ein Zaun, ein Maulkorb. Sie sind Gefangene eines „Sports“, den sie nur sehr kurz ausüben, um dann einfach weggeworfen zu werden. Auch diesen Aspekt, in Form von Hunderettung, zeigt der Film. Alles bleibt unaufgeregt, fast poetisch, und lässt doch keine Zweifel am Leiden der Kreaturen. Bloss schade, dass, zumindest am Rechner, der gesamte Film asynchron ist.

 

Abbild und Wirklichkeit

 

And the King Said, What a FANTASTIC MACHINE von Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck

(c) ch.dériaz

Mit einem Rundgang von den ersten Photos und Filmaufnahmen bis zur Bilderflut, die heute minütlich generiert wird, erzählt der Film von unserer Wahrnehmung. Was glauben wir zu sehen, was halten wir für real, wo dichtet unser Hirn etwas dazu?
Die Regisseure habe da eine echte Fleissarbeit geleistet, alleine das Zusammentragen und Montieren der vielen Bilder, Filmausschnitte und Clips beeindruckt. Beeindruckt und erschüttert gleichermassen, denn was immer auf einem Bild zu sehen ist, es fehlt immer das, was ausserhalb des Ausschnitts ist, der Kontext. Somit sind wir bereit zu glauben, was wir sehen, weil unser Hirn so funktioniert, aber wir sind nur selten bereit zu ergründen, was sich genau daneben befunden haben mag. Nichts anderes als die Glaubwürdigkeit unsere Wahrnehmung steht hier auf dem Prüfstand, diese Diskussion ist alt, zu finden auch in Platons Höhlengleichnis.

 

Wie gemalt

 

Manchmal reichen reale Filmbilder nicht, um zu erzählen, was erzählt werden muss, das ist der Moment, wo die Animation, mit ihren viele verschiedenen Ausdrucksformen, zum Zug kommt.
Zwei ganz unterschiedliche, aber jeweils sehr gelungene Beispiele:


Dear Daughter
von Hsu Pan Naing

Die brutalen Fakten von Menschenhandel, der jährlich Frauen aus Myanmar nach China zwangsverheiratet, in zarte, poetische, schwarzweisse Aquarellbilder getaucht. Hart, grausam und wunderschön.

 

Amani, Behind the Lines von Alaa Amer und Alisar Hasan

Ein Portrait der syrischen Cartoonistin Amani aus Idlib. Sie ist eine der ganz wenigen Frauen, deren Cartoons gezeigt, gedruckt und ausgestellt werden, allerdings lastet auch auf ihr immer mehr Druck. Sie zeichnet nicht nur gegen Krieg, Bomben und Angst an, sondern auch gegen die Unterdrückung der syrischen Frau. Der Film zeigt sie in ihrem häuslichen Umfeld, in sehr rohen, direkten Bildern, mit wenig Licht, wenn es aber um Ängste, Gefühle und Träume geht, wechselt der Film in die Animation. Ein künstlerischer Spagat, der gut funktioniert, der Amani und ihre Welt wirklich umfassend zu zeigen vermag.

 

#Visions du Réel Experimenteller

 

(c) ch.dériaz

 

 

 Vampire, was sonst

 

Weiter mit der eher zufälligen und sehr subjektiven Auswahl an Dokumentarfilmen.
Den Anfang macht ein Film, dessen Titel – natürlich – auffällt und neugierig macht:

Vampires, It’s Nothing to Laugh at von Kinga Michalska
Die Basis dieses experimentellen Dokumentarfilms ist die wissenschaftliche Arbeit eines Linguisten und Anthropologen aus den 60er Jahren. Eigentlich auf der Suche nach sprachlichen und folkloristischen Besonderheiten einer kaschubischen Dorfgemeinschaft in Kanada, biegt er irgendwann vom wissenschaftlichen Weg ab. Der Forscher verstrickt sich in seiner eigenen Folklore, die, gespeist von literarisch-filmischer Populärkultur, aus der Aussage einer Frau plötzlich ein Dorf von Vampiren macht. Dem Forscher bescherte das eine gute Karriere, dem Dorf einen miesen Ruf, der bis heute nachwirkt. Die Regisseurin startet mit der gleichen poppigen Neugierde, und muss am Ende beschämt feststellen, dass sie den ethisch fragwürdigen Methoden zu leicht gefolgt ist. Ein Aufruf zur Genauigkeit, verpackt in einen ungewöhnlichen Film.

 

Tagebuchnotizen

 

Animal von Riccardo Giacconi

Ein weiterer experimenteller Film, dieser aber weit weniger gelungen, als der erste. Gut zwei Drittel des Films ist Schwarzbild mit Off-Text. Ein Text, der ein Entwurf, eine Sortierung zu beinhalten scheint: Dies getan, das empfunden, jenes gedreht. Unterbrochen wird diese lange Auflistung von kurzen bebilderten Passagen, in denen man eben das sieht, was zuvor angekündigt wurde. Der im Katalog angekündigte Dialog zwischen Puppenspiel, Mechatronik und Computer erschliesst sich nur sehr spärlich. Alles in allem: eher langweilige 21 Minuten.

 

Neugier

 

The Building Opposite von Siri Pårup

Das Haus gegenüber, die Menschen hinter den Fenstern, ein Panoptikum unbekannter Skurrilitäten, bunt wie ein Adventskalender. Die Regisseurin hat aber nicht nur das Haus gegenüber abgefilmt, sondern, laut Katalogtext, einige Wohnungen im Studio nachgebaut, nachgespielt, und in die Bilder des realen Hauses unsichtbar eingefügt. Entstanden ist ein lustiges Panorama, das in jeder Stadt, in jeder Nachbarschaft so zu finden ist, man muss bloss genau hinschauen können.

 

Blut wird fliessen

 

 

Chienne de rouge
(c) Yamina Zoutat

 

 

 

 

 

 

Chienne de rouge von Yamina Zoutat

Wie die titelgebende Bluthündin, folgt die Regisseurin der Spur des Blutes. Die Spuren kreuzen und überlagern sich, von Menstruationsblut zu Nasenbluten, zu Kunstblut, todbringendem oder lebenspendendem Blut.
Überall: Blut. Echtes rotes Blut und das metaphorische Blut, das uns mit unserer Kultur, unserer Vergangenheit verbindet. Eine Reise, eine Spurensuche, die sehr schön bestätigt, was man schon weiss: Blut ist ein ganz besonderer Saft.

 

 

Narben

 

Disturbed Earth von Kumjana Novakova & Guillermo Carreras-Candi

Egal wie viele Filme man über den Krieg in Bosnien oder speziell über, oder um das Massaker von Srebrenica sieht, jeder Film ist anders. Was an Disturbes Earth beeindruckt, ist die Ruhe in den Bildern. Oft sind es lange Totale, die Zeit geben, zu schauen. Zeit, zu erkennen, wie viel Narben und offenen Wunden übrig sind. Es wird so gut wie gar nicht gesprochen in diesem Film, kurze auf Schwarz geschriebene Zwischentexte tragen den Ablauf ein Stück vorwärts. Kurze Videobilder von 1995: Soldaten, Menschen in Bussen, Bilder, die man so, oder so ähnlich, kennt. Der Rest ist ruhiger, langsamer Alltag, der trotz der Minen, der immer noch nicht gefundenen oder nicht identifizierten Toten, weitergeht, weitergehen muss. Diese Ruhe macht deutlich, dass auch das pure Überleben eine Narbe ist.

 

Ein Kurzfilm geht noch, bevor die Bilderflut überhandnimmt.

Phallisch

 

Dildotectonics von Tomás Paula Marques

Dildos herzustellen, die nicht phallisch, aber eben doch ergonomisch passend sind, und dann auch noch aus Keramik? Das ist die eine Seite der Geschichte.
Die andere ist die geträumte Rekonstruktion eines Falls von zwei Frauen während der Zeit der Inquisition, bei dem auch Dildos, vielleicht aus Keramik, eine Rolle spielten. Kurzweilig, hübsch gemacht und auf Analogfilm gedreht.

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

 

 

 

#Visions du Réel Die Welt aufs Sofa

 

(c) Visions du Réel

 

 

Die Welt nach Hause holen

 

In schweizerischen Nyon laufen wieder Dokumentarfilme.
Visions du Réel findet in diesem Jahr natürlich wieder komplett physisch statt, dennoch ist eine Online-Akkreditierung möglich. Auch wenn Filme auf der Leinwand und mit Publikum viel besser sind, mehr Spass machen, mehr Emotionen transportieren und den Bildern gerechter werden, ist der Blick auf das aktuelle Dokumentargeschehen auch vom Sofa aus spannend und wertvoll.
Ein kleiner Blick also auf das aktuelle Programm von Visions du Réel.

Die erste Auswahl fällt schwer, so viele Titel klingen interessant, so viele Vorschaubilder versprechen spannende Unterhaltung, neue Einsichten. Also einfach auf einen Film klicken und losschauen. Gleich der erste Klick ist ein Volltreffer.

 

(c) ch.dériaz
Erbschaft und Chaos

 

La Maison von Sophie Ballmer
Mit schwebender Kamera, die Bilder oft auf dem Kopf stehend, immer nur kleine Ausschnitte bietend, erzählt die Regisseurin von einem geerbten Haus, dass sie mit ihrem Mann versucht zu renovieren. Der Off-Text liefert Familiengeschichte(n) und Berichte vom Bau, springt aber oft assoziativ zu anderen Themen, um dann immer wieder treu zum Nichtfortschritt der Bauarbeiten zurückzukommen. So entsteht eine gleichermassen spannende, urkomische und originelle Erzählung, der man bis zum Schluss gerne folgt.

 

Recht auf Identität

 

Pure Unknown (Sconosciuti puri) von Mattia Colombo & Valentina Cicogna
Aufgebaut fast wie ein Spielfilm, zeigt Pure Unknown den unermüdlichen Kampf der italienischen Forensikerin bei der Identifikation unbekannter Toten. Opfer, die irgendwo im Strassengraben gefunden wurden, sind da noch – fast – eine leichte Aufgabe. Aber die vielen Toten, die übers Mittelmeer versuchen, Europa zu erreichen, und die Überfahrt nicht überleben, sind ungleich schwerer zu identifizieren. Aber auch diese Toten haben ein legales Recht auf Identität, ihre Angehörigen ein Recht auf Abschluss. Der Film begleitet die Forensikerin bei der Arbeit, bei nächtlichen Spaziergängen mit ihren Hunden, aber auch auf der verzweifelten Suche nach finanzieller Unterstützung. Wenigstens ein geregelter Datenaustausch innerhalb Europas, der könnte helfen, die Daten von Vermisste mit denen von Gefundenen abzugleichen. Ein Kampf gegen bürokratische Windmühlen, geführt von einer mutigen Frau, in einem Film voller schöner, einfühlsamer Bilder und ohne jeglichen Kommentar, dafür mit einer vielschichtigen Tonbearbeitung.

 

Zeit

Le Fils du chasseur von Juliette Riccaboni
Der 26-jährige Samir versucht bei einem Jagdausflug Nähe zu seinem Vater zu schaffen. Doch so leicht, wie er sich das denkt, ist es nicht. Ein wehmütiger, ruhiger Film, angesiedelt in den Walliser Alpen, bei oft grau-nassem Wetter, aber nicht Depression, sondern Hoffnung prägen den Film. Und so bleibt auch Samir hoffnungsvoll: wenn er es diesmal nicht geschafft hat seinem Vater näherzukommen, dann eben das nächste Mal, oder spätestens in zwei Jahren.

Auswahl

Alle Filme sind online abrufbar, aber erst, nachdem sie auch in Nyon in den Kinos ihren Spieltermin haben. Da muss man manchmal auf mehrere Filme klicken, bis dann einer freigeschaltet ist. Aber fündig wird man letztlich immer. Weiter geht es also im Programm.

Dorfleben

Drei Frauen von Maksym Melnyk

Ein Jahr in einem ukrainischen Dorf am Rand zur EU, auf der eine Seite die nahe Grenze zur Slowakei, auf der anderen die Grenze nach Polen. Ein Dorf, das still stirbt, und doch bleibt es wegen seiner Einwohnerinnen ein lebhafter Ort. Im Fokus stehen drei Frauen, zwischen 50 und 70, eine Bäuerin, eine Biologin, die Postbeamtin des Dorfs. Wenn am Anfang die Bäuerin das Filmteam noch böse zu verjagen versucht, werden Regisseur und Kameramann im Verlauf des Films immer mehr Bestandteil der Gemeinschaft, wie Söhne, sagt die alte Frau, die sie nicht selbst an der Brust genährt hat. Ein sehr schöner, warmherziger und lustiger Film.

 

#Diagonale Der Abschied

 

(c) ch.dériaz
Zum Schluss

Das war sie also, die letzte Diagonale von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger.
Es waren wie immer zu wenige Stunden, um alle Filme anzuschauen, die man hätte anschauen können, oder wollen. Ob das Grund ist, dass ich dieses Jahr so gut wie keinen der Preisträgerfilme gesehen habe?

 

(c) ch.dériaz
Preise

VERA von Tizza Covi und Rainer Frimmel gewinnt als bester Spielfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark.
Souls of a River von Chris Krikellis bekommt als bester Dokumentarfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark.
Immerhin zwei Preisträgerfilme sind dann doch dabei:
Cornetto im Gras von David Lapuch, die Geschichte der Abgehängten rund um einen Imbisswagen im ländlichen Österreich, gewinnt den Preis für den besten Kurzspielfilm.
Und die beste künstlerische Kamera geht an Klemens Koscher für 27 Storey – Alterlaa forever.
Alle Preise auf der Festivalseite.

Ausblick

Mit dem Ende der Diagonale 2023 treten Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh ihre Intendanz an. Wie sie das Festival gestalten werden, was ihre Vorstellungen sein werden, wie ihre Netzwerke funktionieren, wird sich alles im kommenden Frühjahr zeigen. Vielleicht gibt es dann ja auch Saalpläne für die Buchung der Tickets…

 

(c) ch.dériaz

 

#Diagonale Aus aller Welt

 

(c) ch.dériaz

 

 

Orte der Kindheit

 

Zum Glück gibt es Sichtungslinks, denn 27 Storeys – Alterlaa Forever von Bianca Gleissinger verpasst zu haben wäre wirklich schade gewesen. Auch wenn er natürlich auf einer Kinoleinwand noch schöner ist. Der Film ist eine Rückkehr an den Ort der Kindheit, den Ort, an dem die Regisseurin aufgewachsen ist. Eine Zeitreise nicht nur, um die Erinnerungen zu überprüfen, sondern auch eine Reise zu den städtebaulichen Ideen der 70er Jahre. Zu Wohnprojekten, in denen Menschen nicht nur zum Schlafen sollten, sondern wo auch Sozialleben, Gemeinschaft, etwas Dörfliches entstehen sollte. Alterlaa in Wien, ein Hochhauskomplex, mit Clubräumen, viel Grünfläche, Swimmingpools auf den Dächern, Geschäften und vielen schrägen Bewohnern, von denen einige Gleissinger ihre Türen geöffnet haben. Sie bei dieser Spurensuche zu begleiten, selbst nur auf der anderen Seite der Leinwand, ist ein grosses Vergnügen, in dem auch immer ein kleines Stück Wehmut mitschwingt. Am Ende verlassen alle ihre verklärten Kindheitsorte, und das ist gut so.

 

Schuldfragen

 

(c) ch.dériaz

Im grossen Annenhof-Kino wird am Morgen noch gesaugt und geputzt, während die ersten Festivalbesucher für die Frühvorstellungen eintreffen; eine merkwürdig schwebende Stimmung erzeugt das.

 

Selma Doborac überzeugt mit ihrem 130 Minuten langen Film De Facto, in dem sie zwei Schauspieler vor exakt inszenierter und kadrierter Kulisse von den Taten während eines nicht benannten Konfliktes sprechen lässt. Nichts anderes, keine Bilder von Schauplätzen, keine zerschossenen Häuser, keine Körper, nichts von dem, was man in dem Zusammenhang kennt. Stattdessen jeweils ein Mann an einem hochglänzenden Tisch, in einem Raum, der Innen und Aussen verschwimmen lässt, die Bäume draussen rauschen, es regnet, es donnert, unbeeindruckt, quasi emotionslos rezitieren sie das Grauen. Der eine, ein einfacher Soldat, der die scheusslichsten Handlungen schildert, sagt, dass man tat, was alle taten, spricht vom Entmenschlichen der Gefangenen in den Lagern, von Verstümmelung und Vergewaltigung. Spricht im Verlauf aber auch davon, dass ihm dann manches doch zu viel war, sieht sich als Zeuge der, für die Überlebenden aussagt, da diese doch als Zeugen, ob ihres andauernden Traumas, kaum zu gebrauchen sind. Der andere, ein Befehlsgeber, einer der „Autoren“ der Geschehnisse, spricht von sich immer in der zweiten Person, sieht sich als Verantwortlichen, aber nicht als Schuldigen. Sieht die Soldaten als stumpfe Tiere, denen man nie gesagt hätte, sie sollten entmenschlichen. Ein Technokrat, ein Theoretiker, der sich immer mehr in einer kruden Pseudophilosophie verliert. Sie sprechen abwechselnd, in jeweils einer statischen Einstellung, atemlos fast, ohne „Ähs“ und „Hms“. Das macht ihre Aussagen so extrem unangenehm, lässt sie noch mehr als alles andere unter die Haut kriechen. Man versteht die Universalität solcher Handlungen, solcher Gedanken; hier geht es – unausgesprochen – wohl um Bosnien, aber es kann um jeden sinnlosen Konflikt gehen, in dem Menschen entmenschlicht werden, die Opfer, genau wie die Täter.

 

Von Graz in die Welt

 

Das Rahmenprogramm In Referenz zeigt dieses Jahr, unter anderem, eine Auswahl Filme mit der österreichischen Schaupielerin Marisa Mell, Feuerblume – Die zwei Leben der Marisa Mell von Markus Mörth ergänzt die Reihe mit einem aktuellen Dokumentarfilm zur Person Mell. Leider ist der Film eher mittelmässig. Dabei hätte er alles, um gut und interessant zu sein: Eine Grazerin, die vom Reinhard-Seminar weg eine internationale Filmkarriere macht, Zeitgenossen und Weggefährten im Interview, gutes Archivmaterial, schön gedrehte Bilder aus Rom, wo Marisa Mell gelebt und gearbeitet hat. Aber einerseits ist einfach zu viel aufdringliche und sinnlose Musik im Film, und die schönen, neuen Filmbilder sind völlig beliebig und ohne sichtbares Konzept einfach so zwischen die Interviews und Filmausschnitte gepackt. Wirklich schade, da wäre mehr möglich gewesen.

 

Verantwortung

 

Wer wir einmal sein wollten von Özgür Anil ist ein melancholischer Film mit einem sehr guten jungen Schauspielensemble. Anna, eine junge Frau, meistert ihr Leben, sie arbeitet, versucht ihr Abitur nachzumachen, Geld für ihr geplantes Studium zu sparen, alles alleine. Aber um sie herum scheinen alle ihr Verantwortungsbewusstsein auszunutzen. Ganz zuerst ihr Bruder, der irgendwelchen windigen Gestalten viel Geld schuldet und sich bei ihr einnistet. Ihr Liebhaber ist ein Egomane, dem nur seine Karriere als Regisseur wichtig ist, ihre Mutter kümmert sich wohl schon seit Jahren nicht um sie. Und doch, Anna bleibt bei all dem eine zuverlässige Stütze für alle, auch wenn sie eigentlich keiner stützt, das ist traurig, irgendwie, aber auch sehr mutig. Ein schöner, unaufgeregter Film.

 

Überleben

 

Ein weiterer Film heute, in dem vom Grauen erzählt wird, was Menschen Menschen antun: A Boy’s Life von Christian Krönes und Florian Weigensamer.
Wie schon in ihren letzten Zeitzeugen-Filmen steht auch dieses Mal der Erzählende unabgelenkt im Fokus. Daniel Chanoch kam als etwa Neunjähriger ins Konzentrationslager, überlebte nicht nur Auschwitz, sondern auch einen Todesmarsch und wurde mit knapp 13 Jahren befreit. Eine Kindheit in der „Schule  Auschwitz“, wie er es selber nennt. Die ruhigen Schwarzweissbilder: Totalen, Halbtotalen, Nahe, alle vor schwarzem Hintergrund, lenken nicht vom Erzählten ab. Stattdessen entsteht der Eindruck eines Zwiegesprächs mit dem Zuschauer. Unterbrechungen, mit Material aus Archiven, dienen nicht der Untermalung des Gesprochenen, sondern sind Zäsuren, Pausen, in denen man trotzdem nicht aufatmen kann. Trotz der erzählten Grausamkeiten verströmt der Film Ruhe, durch den Duktus der Sprache, durch den langsamen Schnittrhythmus, man hört zu und wundert – wie so oft –  wie es sein kann, dass Menschen einander solche Dinge antun.

 

(c) ch.dériaz

 

Die Jurys in Graz haben wohl heute schon entschieden. Wer die Preisträger sind, wird dann morgen bekanntgegeben. 

#Diagonale Liebe und tote Tiere

 

(c) ch.dériaz

 

 

Lieben

 

Morgendlicher Spass: um 9:30 auf der Reservierungsplattform einloggen, um dann erstmal eine Fehlermeldung zu bekommen. Das wiederholt sich dann etwa zweimal, bis die Plattform die vermutlich vielen gleichzeitigen Anfragen „verdaut“ hat. Mittlerweile hat sich auch eingespielt, in welchem Kino, welche Reihen zu bevorzugen sind – wenn sie denn dann noch buchbar sind.

 

(c) ch.dériaz

 

Nur um es mal wieder gesagt zu haben: Es gehören mehr Kurzfilme ins Kino.
Egal wo, wenn es Kurzfilmprogramme zu sehen gibt, sind die Säle voll, unabhängig vom Wetter und der Uhrzeit. Das Frühprogramm Kurzspielfilm ist da keine Ausnahme. Wer also Tickets hat, wird belohnt mit vier schönen Filmen, die sich auf die eine oder andere Art mit Liebe befassen.

 

Die Zerredete

gschichtl von Franz Quitt ist eine wunderbare Übung in Schauspiel und Kamera. Ein Paar, oder eben nicht mehr Paar, zerredet die möglichen Reste einer Beziehung. Immer wieder wären sie kurz davor, einen Ansatz zum Lieben zu finden, aber zielsicher wird dieser dann zerredet. Darsteller, Kamera und Schnitt tragen den Film, obwohl wenig anderes passiert als Dialog.

Die Romantische

Voodoo Jürgens – Federkleid von Hannes Starz, Marianne Andrea Borowiec und Voodoo Jürgens. Ein wunderschönes, üppig ausgestattetes Musikvideo über die ultimative, endlose und romantische Liebe. Schöne balladenhafte Musik, und dazu zart gespielt eine Liebesgeschichte. Viel zu schade für reines Streaming.


Die Schräge

In Bye Bye, Bowser von Jasmin Baumgartner treffen eine wilde, punkige Musikerin und ein Bauarbeiter aufeinander. Zwei radikal unterschiedliche Welten prallen mit Wucht aufeinander, lassen für eine lange Nacht alles möglich sein, und scheitern am Morgen tragisch.

Die Tragische

Cornetto im Gras von David Lapuch zeigt verlorene Gestalten irgendwo im ländlichen Österreich. Einzig die Beziehung zwischen Enkel und Grossvater scheint von tiefen Gefühlen geprägt. Alle anderen Figuren, versammelt rund um den Imbisswagen des Enkels, verbindet eher die Gewohnheit und die über Jahre gewachsenen Abneigungen. Ein verloren gegangenes Pferd, eine junge Frau und eine tickende Standuhr, am Ende der Nacht reisst ein Ereignis kurz das Immergleiche auf, um dann wieder in den altenTrott zurückzufallen.

 

 

(c) ch.dériaz
Kraftvoll

 

Film, beschränkt in gewisser Weise durch die Zeit auf der und den Rahmen durch die Leinwand, kann genutzt werden, um zu zeigen, wie die Welt ist oder auch wie sie sein könnte. Mal ideal, mal utopisch, mal dystopisch, in der Enge von Zeit und Rahmen ist alles denkbar. Auch die Wirklichkeit. Evelyne Faye nutzt in Lass mich fliegen diese Möglichkeit. Ausgehend von ihrer eigenen Tochter, die mit Down-Syndrom geboren wurde, zeichnet sie ein Portrait von jungen Erwachsenen, die selbstbewusst und grossteils selbstbestimmt trotz und mit Down-Syndrom ihr Leben leben. Tatsächlich sind ihre Leben, ihre Träume nicht zu unterscheiden von denen anderer junger Menschen: eine erfüllte Partnerschaft, ein Beruf, soziales Miteinander, mit dem Unterschied, dass man ihnen von Staatswegen und von der Gesellschaft her immer wieder Steine in den Weg legt. Ein sehr schöner Film, der das Thema ohne Weinerlichkeit angeht, immer nah an den Personen bleibt, und durch die eingestreuten Sequenzen mit der kleinen Tochter, einen zusätzlichen Blick in Richtung Zukunft wirft.

 

Tote Tiere

 

In Archiv der Zukunft streift Joerg Burger durchs Innere des Naturhistorischen Museums in Wien. Im Zentrum stehen nicht die prunkvollen Säle, sondern die Hinterzimmer, Schubläden, Keller, Archive. Er zeigt das, was der Besucher nie zu sehen bekommt, aber wichtiger und unschätzbarer Bestand diverser Forschungsgebiete ist. Nass- und Trockenpräparate stapeln sich, und werden genutzt, um mit immer neueren wissenschaftlichen Methoden zum Beispiel DNA-Analysen vorzunehmen. Nicht nur Tiere, sondern auch Steine, Pflanzen und alte Akten sind Ziel der Forschung, und können Aufschluss aus der Vergangenheit für die Zukunft geben. Eine endlos erscheinende Arbeit, witzig anzusehen und informativ dazu.

 

Reisefieber

 

Petra Zöpnek erzählt in Wo ist Ida von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer, die ab den 1840er Jahren bis zu ihrem Tod alleine von Wien aus die Welt bereiste, und in Vielem die erste (weisse) Frau war. Soviel zu den „harten Fakten“. Der Film erzählt das alles auf extrem originelle und phantasievolle Weise, in vignettierten Schwarz-Weiss-Bildern, in Animationen, mit Zwischentiteln wie bei Stummfilmen, darunter eine ausgeklügelt komponierte Geräuschspur und immer wieder Zitate aus den Reisetagebüchern. So macht Geschichte Freude.

 

(c) ch.dériaz

#Diagonale Horror und Fussball

(c) ch.dériaz

 

Tonfilm-Bildfilm

 

Tatsächlich ist es immer wieder eine gute Idee, den intellektuellen Filmdiskurs zu hinterfragen, seine eingefahrenen Wege zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen. Selbst das Konzept auf den Kopf zu stellen, kann ein sehr guter Plan sein. Was bei Razzennest von Johannes Grenzfurthner passiert, ist allerdings eher grosser Unfug. Der Film besteht aus einer Bild- und einer davon losgelösten Tonspur. Im Bild gibt es Landschaft, kaputte Häuser, Friedhöfe, Kreuze, Details von jeder Komponente, die Tonspur ist ein Hörspiel, das immer mehr aus dem Ruder läuft. Am Anfang hört man eine Art Interview in einem Studio, zwischen einer Kritikerin und dem fiktiven Filmemacher der Bilder. Sie haben einen recht harschen, manchmal sogar ganz witzigen Austausch über Film als visuelles Medium, das sich, laut fiktivem Regisseur, nicht von Erklärung und Konzept in die Knie zwingen lassen darf. Dazu sind die Bilder ruhig, meditativ. Plötzlich wird aus dem Interview eine Art Horrorhörspiel, in dem sich der Tonmeister und der Kameramann in marodierende Horden aus dem 30-jährigen Krieg verwandeln, und in Folge das gesamte Studio abbrennen und am Ende alle tot sind. Die Bilder, werden – immerhin – dazu rabiater, schneller geschnitten, die Sequenzen abgefahrener. Aber es bleiben Bilder einer Landschaft, in der im 30-jährigen Krieg (wo nicht in Europa?) Mord und Totschlag herrschten, die gleichen Bilder wie vorher schon. Die Idee und Umsetzung sind eindeutig durchdacht und nicht beliebig hingepfuscht, und als Kurzfilm wäre das Ganze wahrscheinlich noch originell gewesen. So war es hauptsächlich anstrengend, und einige Zuschauer haben auch den Saal verlassen.

 

Geister

 

Um 18 Uhr hat bei vollem Saal ein Horrorfilm mit zarten Schockelementen seine Uraufführung: Heimsuchung von Achmed Abdel-Salam. Eine Kleinfamilie muss gegen die Geister der Mutter kämpfen. Wie immer in solchen Geschichten, was man aus der Vergangenheit verdrängt, verfolgt und peinigt in der Gegenwart, wenn man das Verdrängte aber erkennt, stehen die Geister plötzlich im Zimmer. Zumindest bis man sie erkannt, zurückgedrängt, ihren Ursprung verstanden hat. Sehr hübsch gemachter Film, schön gespielt, vor allem vom kleinen Mädchen (Lola Herbst), das die Bandbreite von Schreck bis Aufmüpfigkeit und wieder zurück perfekt beherrscht. Diese österreichische Produktion, keine Koproduktion, braucht sich vor vergleichbaren Filmen definitiv nicht zu verstecken.

 

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Fussball

 

… ned, tassot, yossot … von Brigitte Weich erzählt sowohl von Fussballerinnen als auch von Nordkorea. Was auch bei dieser zweiten Beobachtung – nach ..hana, dul, sed..– hervorragend gelingt, ist, die Protagonistinnen offen, liebevoll und voller Enthusiasmus erzählen zu lassen. Dabei ist es egal, ob sie über ihre Karrieren nach der aktiven Zeit als Nationalspielerinnen reden, über Kinderwunsch, Abtreibung oder die Verehrung für ihren politischen Führer. Weich mischt Privates und Politisches mit ebenso leichter Hand, wie sie in den verschiedenen Lebensphasen der Frauen hin und her wechselt, und sie so immer wieder auch ihr eigens Leben mit Humor kommentieren.So entsteht eine ehrliches, feinfühliges Portrait, in dem man die Frauen wirklich kennenlernt und das beim Schauen sehr viel Spass macht.

 

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Die heutigen Vorstellungen waren alle ausverkauft, und vor den Kassen bilden sich immer wieder Schlangen, um doch noch Restkarten zu ergattern.

#Diagonale Tierisches

 

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Früh und Sommerlich

 

Während Graz langsam wach wird, geht es los ins erste Kino. Der Unsinn im Buchungssystem der Karten wird offensichtlich: Die gebuchten Sitzreihen sind entweder zu weit vorne oder zu weit hinten. Und statt bequem und bereit zur Flucht am Rand, sind sie mitten in den Reihen. Saalpläne auf der Buchungsseite wären wirklich sehr, sehr hilfreich.

 

Zäher Start

 

Das erste Programm, Kurzdokumentarfilme, klingt gut, klingt spannend, ist am Ende aber nur zu einem Drittel geglückt.
Wir sind alle Kanaken von Kervin Saint Pere will einfach zu viel gleichzeitig. Er thematisiert Kolonialismuskritik, eine sprachwissenschaftliche und soziologische Analyse des Begriffs „Kanake“, und obendrauf noch Kritik an frühen Formen der Ethnologie, am Ende kommt alles zu kurz. Und was vor allem zu kurz kommt, sind die Bilder, das Filmische, obwohl er eine gute Grundidee hat. Von alten ethnologischen, kolonialen Photos schneidet er die abgebildete indigene Bevölkerung aus, hinterlegt die frei werdende Fläche mit Filmbildern, teils aus altem Material, aber auch mit neuen, symbolträchtigen Bewegtbildern. Das alleine wird mit der Zeit anstrengend zu decodieren, weil darüber von Anfang bis Ende der sehr intellektuelle, komplexe, zu komplexe Off-Text liegt. Als Zuschauer hört man auf, den an sich interessanten Gedanken und originellen Bebilderungen zu folgen.
Sehr gelungen, und mit minimalem „didaktischem“ Überbau, kommt Reihe 6 von Lennart Hüper und Bidzina Gogiberidze aus. Sie zeigen das Leben im Exil, in einem Dorf, das zunächst nur ein Flüchtlingslager war. Geflüchtete aus dem von Russland annektiertem Südossetien sind dort gestrandet, hängen geblieben, im Exil in Georgien. Während es für die Grosselterngeneration eine Tragödie bedeutet, Heimat und Gewohntes zu verlieren, spielen die im Exil geborenen Kindern völlig entspannt, leben wie alle Kinder, und wollen eines sicher nicht: den Ort verlassen, der für sie Heimat ist.
Tara Najd Ahmadi will in My Sleepless Friends die Schlaflosigkeit ergründen, ihre und die ihrer Freunde. Sie mischt dafür Gespräche – Online-Interviews – mit sehr disparaten und – für sie –assoziativen Bildern. Die Idee dahinter ist klar, aber die real existierende Ausführung funktioniert nicht. Die Bilder und ihr Rhythmus scheinen völlig beliebig über den Texten zu liegen, mal als Überlagerung, mal in langen Ein- und Ausblenden, ihre Beziehung zum Gesagten mag sich für die Regisseurin völlig logisch erschliessen, als Zuschauer wundert man sich und ist verwirrt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Schlaflosigkeit viele Gründe hat, und dass 20 Minuten ganz schön lang werden können.

 

 

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Sehr schön Dunkel

 

Nachdem die Vorstellungen weitgehend entzerrt wurden, ist immer wieder Zeit, in der Sonne zu sitzen, die letzten Bilder sacken zu lassen, und sich auf die nächsten Bilder vorzubereiten.
Mit frischem Blick also zurück ins Dunkel, und das ist durchaus wörtlich gemeint.
Staging Death von Jan Soldat zeigt in 8 kompakten Minuten die Filmtode von Udo Kier. Alle Filmtode! Das ist witzig, skurril, gekonnt und sehr blutig. Kier als Meister des abseitigen Films bietet eine wirklich sensationelle Bandbreite an Filmtoden.
Wenn Albträume albträumen würden, dann käme dabei wahrscheinlich sowas wie Norbert Pfaffenbichlers 2551.02 – The Orgy of the Damned heraus. Wie schon im ersten Teil der als Trilogie angelegten Geschichte, taucht Pfaffenbichler Kellerräume in monochrom eingefärbte Horrorräume, in denen maskierte Gestalten ihr Unwesen treiben. Blut, Gedärme, Sex und Gewalt in allen möglichen Kombinationen, die sich damit ersinnen lassen, und alles ohne eine einzige Dialog- oder Textzeile. Aber bei allen originellen Einfällen, in der Basis erzählt er eine Geschichte voller Liebe, Empathie, Action und Verrat und löst die Sequenzen auch ganz klassisch oder genregerecht auf. Die Phantasie, das Aussergewöhnliche kommt allein aus den schrägen Gestalten, aus den Orten, der Farbdramaturgie, der Tonspur und der überbordenden Menge an vermeintlichen Schockeffekten. Ein Konzept, das wunderbar funktioniert, sofern man mit dem Genre keine Probleme hat.
Danach wundert man sich, dass draussen Menschen friedlich und unverletzt in der Sonne sitzen.

 

Der Nachwuchs schläft nicht

 

N.Geyhalter mit jungem Filmteam
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Während der nächsten Pause plötzlich hektische Betriebsamkeit. Eine Gruppe ganz junger Filmschaffender rennt in den Hof des Schubert-Kinos, räumt Tische weg, baut ihr Equipment auf. Auftritt Nikolaus Geyrhalter, der von der Gruppe interviewt wird. Der Profi ganz entspannt, die künftigen Profis leuchten still vor sich hin, ein schönes Bild. Am Ende des Interviews gibt er dem jungen Tonmann noch einen Tipp, wie er die Tonangel besser halten kann, ohne dabei Kraft zu verlieren.

 

Stilisiert

 

Le Formiche di Mida von Edgar Honetschläger will mit seinem Film dazu beitragen, dass der Mensch mit der ihn umgebenden und ihn nährenden Natur (wieder) pfleglich umgeht. Das ist ein nobles Ansinnen. Ob sein überstilisierter Film das wirklich schafft, bleibt unsicher. Über den immer sehr schönen Bildern liegen fast konstant Off-Texte, in denen die diversen Mythen, Philosophien und Religionen das Verhältnis von Mensch und Natur verhandeln. Es „sprechen“ ein Esel, ein Baumgeist, Ameisen, und – grösstenteils– Männer, deren Funktion im Gefüge nicht näher definiert werden. Das hat etwas filmpoetisch-essayhaftes und kann, wenn man sich Mühe gibt, mit den Landschaftsbildern in Beziehung gesetzt werden. Über die Länge des Films ist es aber etwas manieriert. Und die Frage, ob der Mensch die Natur nährt, oder die Natur den Menschen, ja, kann man diskutieren, ist aber beim aktuellen Zustand der Umwelt fast schon egal.

 

Tiere gehen immer

 

Während der Hochphase der Pandemie hatte auch der Salzburger Zoo geschlossen. Von den Tieren und ihren Pflegern in dieser Zeit handelt Zoo Lock Down von Andreas Horvath. Was bereits nach den ersten Minuten nervt, ist die Musik, sie suggeriert Spannung bis hin zu Horrorelementen, die der Film dann in keinster Weise einlöst. Insgesamt leitet der Film einen grossen Teil seiner Spannung von behaupteten Kausalzusammenhängen her, die aber selten belegt werden. Ja, dafür ist Schnitt (auch) da, man zeigt ein Tier, man hört ein Geräusch, man zeigt den Blick, oder die Bewegung. Wenn man also erklären will, wie Filmschnitt funktioniert, dann kann man das hier gut zeigen. Aber Horvath macht es sich damit irgendwie zu leicht, er zeigt zu selten den Gesamteindruck, und spielt zu oft mit den kreierten Erwartungen. Schön ist, dass es weder Interviews noch Kommentare gibt, die Tiere tun, was sie so tun in ihren Gehegen und Käfigen, die Pfleger arbeiten, und selbst die Tiere, die verfüttert werden, werden liebevoll in ihren Behausungen gezeigt. Am wildesten ist eine Sequenz, in der einem betäubten Nashornbullen von zwei Tierärzten Sperma „abgezapft“ wird. Das Spendersperma wird kurz untersucht und dann einer, ebenfalls betäubten, Nashornkuh in mühevoller Arbeit in die Gebärmutter gespritzt. Was man nie erfährt: Ist diese Transaktion erfolgreich verlaufen? Ein kleiner Verweis im Nachspann wäre schön gewesen.
Es wurde auf jeden Fall viel und fröhlich gelacht im Kino, weil: Tiere gehen immer.

 

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