Der Blog

Locarno#76 Farben

 

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Gelb-Schwarz und Pink

 

Die Wolken bleiben eher bedrohlich als niedlich, aber immerhin, fast alle nassen Klamotten vom vergangenen Abend sind trocken. Die Online-Rückmeldungen sind immer noch nicht befriedigend und die WLAN-Abdeckung spärlich. Letzteres ist besonders unverständlich, ist doch ein Telekom-Unternehmen seit Jahren einer der Hauptsponsoren des Festivals, da sollte es doch möglich sein, für Gäste einigermassen flächendeckend WLAN zur Verfügung zu stellen.

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Aber sonst zeigt sich Locarno von seiner bunten Seite, Leoparden selbst in Barbie-Pink, Zuschauer, die Varianten von Schwarz-Gelb tragen, und solche, die dem Pink-Trend frönen, schön ist das.

 

 

 

 

 

 

Träume in Gelb

 

Mit Yo y las bestias von Nico Manzano wird die Open Doors Sektion eröffnet. Wie auch schon im letzten Jahr sind Filme aus Lateinamerika eingeladen, Filme und deren Filmschaffende, die in Europa oft unbekannt sind, können hier entdeckt werden. Der Erstlingsfilm Yo y las bestias ist eine melancholische Träumerei in staubigem Gelb. Ein junger Musiker verlässt die Band, in der er spielt, um alleine eine andere, komplexere Art von Musik zu machen. Aber Venezuela und die wirtschaftlichen Probleme lassen das Projekt auf sehr schwachen Füssen stehen. Auch Unterstützung von Freunden ist eher überschaubar, und so arbeitet er sich alleine an seinem Projekt ab, umgeben von imaginierten, gelb verhüllten Mitstreitern. Ein sanfter Film, vielleicht noch etwas ungelenk, aber mit reichlich Potenzial.

 

Sommersonne

 

August im Tessin, das heisst, neben plötzlichen Regenschauern und Gewittern, vor allem Sonne und Hitze. Was weiterhin fehlt, sind konsumfreie Orte, mit Schatten, mit Sitzmöglichkeiten, wo man sich zwischen den Vorstellungen kurz aufhalten kann. Was es gibt, sind Orte in der prallen Sonne, oder kümmerliche Wiesen, mit etwas Schatten und vielen Ameisen, wo man aber bereit sein sollte, auf dem Boden zu sitzen. Oder aber eines der vielen Lokale, wo man sich den Komfort und den Schatten erkaufen muss.

 

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Stimmen sehen

 

Jeden Tag um halb drei heisst es: Leoparden von morgen. Der Nachwuchs, oft, aber nicht immer, aus Filmschulen weltweit, präsentiert seine Arbeiten.

Nocturno para uma floresta von Catarina Vasconcelos, ein eigentümlich künstlicher Film, in dem Untertitel die Stimmen der Seelen von im 17Jahrhundert ausgegrenzten Frauen übernehmen. Blätter, Blumen, Bäume, in verschiedenen Farben eingefärbt fungieren als Protagonisten. Tatsächlich funktioniert die Geschichte besser als befürchtet; ein Film über Frauenselbstverständnis im Wandel der Zeit.
Stop-Motion geht (fast) immer. So auch bei Canard von Elie Chapuis. Eine Art Entensplatter-Horror-Geschichte, Sex inklusive. Sehr lustig, sehr toll gemacht.

Der Versuch eines jungen, schüchternen Fabrikarbeiters, mit einer Kollegin anzubandeln, schlägt in Yi zhi wu gui de ben ming nian (A Tortoise’s Year of Fate) von Yi Xiong gründlich fehl. Dafür fällt er auf einen Wahrsager herein, der mit einer Riesenschildkröte vor allem eines macht: ein Riesengeschäft.

Künstler, schwul, Brasilianer und in Berlin auf Zimmersuche:
Du bist so wunderbar von Leandro Goddinho und Paulo Menezes. Das Ergebnis ist die erwartbare Frustration, Stereotypen inklusive, nicht uninteressant.

Ganz stark ist: The Currency – Sensing 1 Agbogbloshie von Elom 20ce, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper. Beeindruckende Bilder einer wilden Müllkippe in Ghana, zwischen Kühen, der Dreck unserer Zivilisation, schwarze Rauchsäulen, massenweise Handygehäuse, Plastik und ein Mann, der den Müllteilen Geräusche zu entlocken scheint. Der Film, unterteilt in 4 Kapitel, mischt immer mehr Geräusche zu Musik, jazzige Elemente, aber auch Afrikanisches, eine Symphonie unseres Mülls, die eigentümlich schön ist, während die Bilder Schauderhaftes zeigen.

Mit den letzten Tönen des Abspanns heisst es allerdings schon rausrennen und in die lange Schlange des nächsten Films einreihen.

Störung


Nur 65 Minuten lang ist Yannick von Quentin Dupieux, aber ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.

 

Ins Wasser gefallen

 

Und dann fängt es am Abend wieder an zu regnen, erst zaghaft und dann richtig stark. Also kein Abend auf der Piazza, kein La Voie Royale von Frédéric Mermoud.
Und besonders ärgerlich: nicht dabei sein, wenn für einmal ein Cutter einen Ehrenpreis erhält. Der gebürtige Italiener Pietro Scalia hat in den USA so ziemlich alles geschnitten, was gross und teuer ist, von Spiderman über Kick-Ass, Good Will Huntig bis zu Gladiator.
Stattdessen die Pressevorführung von La bella estate von Laura Luchetti, dem Piazza Grande Film von morgen – da soll es auch regnen!
Ein Sommer in Turin 1938, ein Geschwisterpaar vom Land lebt etwas ärmlich in der grossen Stadt, während der Bruder studieren will, arbeitet seine Schwester als Schneiderin in einem Modeatelier. Alles läuft ruhig und irgendwie spiessig, vorhersehbar, bis eines Tages eine junge Frau die Schwester in die wilden Künstlerkreise der Stadt mitnimmt. Wein, Sex, Drogen, ein völlig anderes Leben als das ruhige bisherige. Aber die wilde Welt verwirrt mehr, als dass sie Freude oder Klarheit bringt. Wozu der Film im Jahr 1938 spielt, ausser um ein ziemlich veraltetes Frauenbild zu zeigen, erschliesst sich nicht, ein Schnipsel Mussolini im Radio ist alles, was es an politischem Zeitbezug gibt. Ansonsten: hübsche Kostüme, schöne Ausstattung, gute, warm eingefärbte Bilder, stimmungsvoll einerseits, aber auch etwas langweilig über die doch langen 111 Minuten.

 

 

Schneiden

 

Pietro Scalia
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Nachdem Pietro Scalia gestern Abend geehrt wurde, führt er am Vormittag ein Publikumsgespräch. Also rasch vor dem ersten Film vorbeischauen. Der Italiener, der in Aarau aufgewachsen ist, verliebt sich früh und nachhaltig ins Kino, der Zufall will es, dass er in New York und dann in Los Angeles Film studieren kann, der Rest der Geschichte ist Hartnäckigkeit und Glück. Viel Glück, möchte man in seinem Fall neidlos sagen.

 

 

 

 

Gerüchte

 

Der Tag beginnt wolkig und verspricht, schlechter zu werden. Nun gut, im Kino ist das egal. Auch in Ekskurzija von Una Gunjak überwiegt ein vorstädtisches Grau. Für Iman und ihre Mitschüler, Jugendliche um die 15, dreht sich eigentlich dauernd alles um Sexualität. Aber alle sind auch zu jung, zu unerfahren und zu linkisch, um darüber zielführend zu reden. Sie verlieren sich in Spielchen wie „Wahrheit oder Pflicht“, und protzen immer wieder mit angeblich bestandenen sexuellen Abenteuern. So kommt auch das Gerücht auf, dass Iman mit einem älteren Jungen geschlafen hat. Heimlich verliebt in ihn, befeuert sie die Gerüchte, legt noch mehr dazu, bis die Konsequenzen nicht nur ihr selbst über den Kopf wachsen. Auch wenn in dem Film viel geredet wird, sind doch die Figuren sehr schön gezeichnet, die jungen Darstellerinnen sehr gut und die Entwicklung der Geschichte plausibel. Erwachsenwerden war noch nie ein Spass, heute scheint es, noch ein bisschen nerviger zu sein.

 

 

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Gefühle

 

Gerade in den Kurzfilmen dominiert Gefühl als zentrales Thema. In diesem Program besonders augenscheinlich, wenn auch nicht besonders gelungen.

In ALEXX196 & la plage de sable rose von Loïc Hobi vermischt sich das tägliche Leben eines Jugendlichen mit seinen Abenteuern und vor allem Freundschaften in einem Computerspiel. Das Spiel scheint die einzige Verbindung zu einer emotionalen Welt zu bieten, umso schlechter das Gefühl des Jugendlichen, als sein einziger Freund die Verbindung kappt. Visuell recht interessant gestaltet.

Der Animationsfilm Pado (The waves) von Yumi Joung zeigt einen schwarz-weiss gezeichnten Strand als Metapher auf den Gang des Lebens. Hübsch und verspielt.

I mitera mou ine agia (My Mother Is a Saint) von Syllas Tzoumerkas. Erinnerungen an die Mutter, anscheinend anlässlich ihrer bevorstehenden Beerdigung, ein bisschen wirr, aber nicht uninterssant.

Der stärkste Film dieses Programms ist En undersøgelse af empati (A Study of Empathy) von Hilke Rönnfeldt. Nicht die Geschichte transportiert die im Titel erwähnte Empathie(fähigkeit), sondern die Bilder, ihre Montage, der Ausdruck der Schauspielerin. Die Kraft der Empathie, oder eben ihr Fehlen, schleichen sich so subtil ins Bewusstsein des Zuschauers, eine eigene Geschichte entsteht jenseits der Filmgeschichte.

Slimane von Carlos Pereira ist definitiv wirr. Dialoge vor statischen, menschenleeren Bildern, lange Einstellungen, die einen eher nicht einnehmen, sondern dazu verführen die eigenen Gedanken ,irgendwohin schweifen zu lassen. Beeindruckend eigentlich nur das letzte Bild, eine Nahaufnahme des Protagonisten in Stroboskoplicht, der erst lange nur steht und schaut, um dann plötzlich loszutanzen.

 

 

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Tempo und Witz

 

Drei Stunden Tempo, Spass,Politisches und politisch Unkorrektes in:

Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much From the End of the World) von Radu Jude.
Dass einem dabei nicht langweilig wird, liegt an Judes Talent für Timing, Tempo und Erzählkraft. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80erJahren wären eine umfassende Analyse wert. Trotz der Länge und der Komplexität der Erzählung sind fast alle Zuschauer bis zum Ende geblieben, der Saal war voll, und es gab reichlich Applaus.

 

 

Traktor der Männlichkeit

 

Ausser Konkurrenz, aber im Wettbewerb für den Grünen Leoparden läuft:
5 Hectares von Émilie Deleuze. Lambert Wilson, dieses Jahr Jury-Präsident in Locarno, spielt darin einen Neurowissenschaftler, der sich ein altes Bauernhaus mit 5 Hektar Land gekauft hat. Natürlich gibt es gleich bei der ersten Begegnung mit dem bäuerlichen Nachbarn Ärger. In Abwandlung eines Weitpinkel-Wettkampfs versucht der Zugezogene sich mittels Traktorkauf Respekt zu verschaffen. Alles recht seicht, nett auch, aber vor allem sehr absehbar. Nur für Freunde der seichten Unterhaltung.

Geregnet hat es dann heute Abend doch nicht mehr.

 

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Locarno#76 Die Eröffnung

 

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Schweres Wetter

 

Die Luft, dick und schwer, genau wie die Wolken, die tief über dem See hängen.
Es wäre nicht die erste Eröffnung in Locarno, die mit den bekannten „Spezialeffekten“ Regen und Gewitter startet.

 

 

 

Gute Idee, aber

 

Es könnte so praktisch sein:
Auf der Festivalseite anmelden, mit der Akkreditierten-Nummer Vorstellungen buchen, oder gebuchte Vorstellungen stornieren, dann auf der Festival-App alle diese Informationen, klein und handlich, zur Verfügung haben, und einfach ab ins Kino.
So weit die Theorie. Die Praxis zeigt, dass die Buchungen zwar funktionieren, die Tickets aber danach nirgends aufscheinen. Mehrere E-Mails mit dem Helpdesk ergeben das Offensichtliche: da funktioniert etwas nicht richtig! Erstaunlicherweise sind solche Schwierigkeiten zwischen Online-Angebot und Festivalpraxis oft nur in der Theorie gut.
Schade eigentlich.

 

Abschiede

 

 

Marco Solari
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Es ist Marco Solaris letztes Festival als Präsident. Seit 2000 war er das Herz und das – politische – Gewissen des Locarno Filmfestivals. Seine immer sehr emotionalen Reden, immer mehrsprachig, immer voller Enthusiasmus, werden fehlen. Aber nun, mit fast 80, darf er wohl an anderes denken, als an Arbeit. Und auch wenn er seine Nachfolgerin Maja Hoffmann als die beste Kandidatin bezeichnet, wird sie sicher an seiner Arbeit gemessen werden.

Nicht nur für Solari ist es ein Abschied, auch Bundesrat (und derzeit Bundespräsident) Alain Berset wird im kommenden Jahr bei allen Schweizer Festivals keine offizielle Funktion mehr haben, da er sich mit Ende des Jahres aus der Politik verabschiedet. Das ist insofern schade, als Berset ein echter Filmnarr ist, dem man seine Begeisterung nicht nur anmerkt, sondern der auch filmpolitisch einiges geleistet hat.

Marco Solari und Alain Berset
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Noch einmal also hat Solari mit Nachdruck nicht nur die Freiheit, künstlerische wie auch ideologische, sondern auch Wahrheit, um jeden Preis, für das Festival gefordert. Und Berset, mehr Spassvogel denn Staatsmann, machte zur letzten Eröffnung Scherze über sich selbst.
Jedes Ende ist aber auch ein Anfang, und das 76. Locarno Filmfestival fängt jetzt erst an.

 

 

Guten Abend Locarno

 

 

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Die schweren Wolken haben sich entschieden, sie lassen Wasser auf Leinwand, Publikum und Eröffnung fallen, und zwar nicht zu knapp. Dennoch, Menschen strömen auf die Piazza und tatsächlich findet – unter einem mobilen Dach – auch der offizielle Teil draussen statt, und nicht wie sonst oft im trockenen Fevi-Kino. Kurz scheint es, als würde der Regen doch noch aufhören, aber nein, pünktlich zum Beginn der Filme dreht er noch mal so richtig auf. Auch schon egal, von den Regencapes tropft es, manche flüchten doch noch schnell.
Die, die geblieben sind, haben einen tollen ersten Filmabend vor sich.

 

Surreal

 

Der Kurzfilm Dammi von Yann Mounir Demange sollte eigentlich auch den Ehrenpreis an den Schauspieler Riz Ahmed begleiten, der ist aber wegen des Streiks der amerikanischen Schaupielergewerkschaft nicht angereist. Dammi erzählt von einer Suche: nach Identität, nach Heimat, nach Liebe, nach sich selbst, und das in wunderbar fieberhaften Bildern. Das nächtliche Paris scheint um die Figuren zu kreisen, Dialogfetzen und Gedankenfragmente verdichten die Stimmung, das Suchen wird fühlbar, mitfühlbar.

L’Étoile Filante von Fiona Gordon und Dominique Abel entzieht sich eigentlich einer Beschreibung. Trotzdem hier eine Annäherung an diesen tollen Film.
Ein Mann und sein Doppelgänger, beide mit Traumata geschlagen, beide eigentlich weltabgewandt. Der eine betreibt eine kleine Kneipe und war früher Bombenleger, der andere gärtnert zurückgezogen und trauert um seine verstorbene Tochter. Als ein Unbekannter den Bombenleger erkennt, und versucht ihn zu erschiessen, könnte der Doppelgänger die Lösung des Problems sein. Und diese wilde und etwas wirre Konstellation wird mit so viel Charme, Leichtigkeit, Einfallsreichtum und pantomimischem Slapstick kombiniert, dass man schwindlig wird vor Begeisterung. Die, die geblieben sind, sind am Ende des Abends nass, aber glücklich.

Ein guter Start ins Festival, und das Wetter wird sicher noch besser und die Festival-App wird sicher auch bald funktionieren.

#FilmTipp Asteroid City

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Wunderkinder in Pastell

 

Wenn es draussen zu heiß oder zu nass ist, wenn die Gedanken in trübes Grau versinken, dann bietet sich an, in einem Kino Zuflucht zu suchen.
Und was für ein Film wäre besser geeignet als Wes Andersons Asteroid City?
Die versponnen Welten, die man von Anderson kennt, werden hier in Pastelltönen, mit Geschichten innerhalb von Geschichten, dem bekannten Stammpersonal und Wendungen, die man nicht kommen sieht, erweitert.

 

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Perspektivwechsel

 

Der Film hat mehrere (Film)Realitätsebenen:
Ein fiktives Theaterstück, das ein überarbeiteter Autor gerade schreibt und ein TV-Moderator dem geneigten 50er Jahre Publikum präsentiert. Zu sehen in Schwarzweiss-Bildern und in 4:3 Format, alles auf einer dunklen Theaterbühne, einem scheinbar hermetischen Raum, der sich dann doch erweitern lässt.
Die nächste – leinwandfüllende– Ebene, ein pastellbunt-gleissender Schauplatz in der texanischen Wüste, das Stück, in Akte unterteilt, wird gespielt. Auch hier öffnet sich die Szenerie immer wieder kurz, überschreitet die Wand zum Publikum, um sich ebenso schnell und kommentarlos wieder zu schliessen. Neben den grellen Pastelltönen kopiert die Kamera eine 50er-Jahre Fernsehästhetik mit vielen seitlichen Kamerafahrten und Bildteilungen. Trotz der Weite der Landschaft ist auch hier immer etwas Beengtes zu spüren.

Vielfalt


Die Geschichte bietet hochbegabte Wunderkinder, gestörte Familienstrukturen, Ausseridische, Cowboys, die am Lagerfeuer singen, oder Schauspielerinnen auf Selbstfindung. Alles wird, frech und forsch, so lange geschüttelt und verwoben, es werden so oft die inneren Grenzen der Geschichten überschritten und verwoben, bis man als Zuschauer nur noch eines tun kann: Sich entspannt des Lebens in Pastell zu erfreuen, und auf die nächste, unerwartete, Wendung warten, gespannt und zufrieden.
Ein schöner Film für nasse oder heisse, trübe, graue oder fröhliche Sommerabende, eine Empfehlung.
Zurzeit läuft Asteroid City in mehreren Wiener Kinos:
In Originalversion zum Beispiel im Filmcasino, Votivkino oder im Haydnkino.

 

 

#FilmTipp Matter Out of Place

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Der Müll und wir

 

 

Warum sollte man sich einen Film über Müll anschauen? Und dann auch noch im Kino?
Im Fall von Matter Out of place, ist ein Grund der Regisseur: Nikolaus Geyrhalter.
Tatsächlich ist es relativ egal, welches Thema Geyrhalter mit der Kamera anschaut, es kommt am Ende ein toller Film heraus.
Das ist auch bei seinem aktuellen Film, der letztes Jahr in Locarno den ersten Grünen Leoparden, für Filme, die thematisch der Umwelt dienen, gewonnen hat.

 

Schöne Wimmelbilder

 

Seine Filme werden beherrscht von langen, schön komponierten Totalen. Es passiert viel in diesen Bildern, und man hat immer die Zeit, sich alles genau anzuschauen, in sich aufzunehmen.
Egal, ob es die vielen Trucks sind, die sich den Berg hoch zur Mülldeponie schleppen, oder die Seilbahn, die den Müllwagen ins Tal befördert. Müllberge, verursacht von Menschen, beseitigt von einer Ameisengleichen Armee von Menschen. Keine Musik, kein Kommentar, nichts lenkt davon ab, für sich selber zu finden, was der Film zu sagen hat.
Und zu sagen hat dieser Film über unser aller Müll eine ganze Menge.
Die Verursacher dieser weltweiten Müllhalden sind wir, wir alle.

Aktuell läuft der Film in Wien im Stadtkino und im Gartenbaukino.

#Visions du Réel Preisträgerfilme

 

 

©Nikita Thévoz

 

 

Virtuelle Welten

 

Der Gewinner des Grossen Preis des Festivals, While the Green Grass Grows von Peter Mettler, ist tatsächlich nirgends auf der Plattform zu finden. Andererseits ist der Film 166 Minuten lang, was am Computer kein wirklicher Spass wäre.
Also, trotz Online-Zugriff, mal wieder einen Gewinnerfilm nicht gesehen!

 

 

Knit’s Island
©Kenza Wadimoff

 

Dafür aber hier einige andere Gewinner.


Den Preis in der Kategorie Burning lights und dazu noch den FIPRESCI- Preis, also den Preis der internationalen Filmpresse, bekam:
Knit’s Island von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h.
Der Film taucht ein in die virtuelle Welt eines Computerspiels.
Innerhalb des Spiels sind die drei Filmemacher als Dokumentarfilmteam unterwegs, laufen durch die künstliche Welt, verabreden sich mit Figuren/Spielern. Anfangs sind die Protagonisten sehr in ihren Rollen verankert, Rollen, die extrem reaktionär und schiesswütig daher kommen. Im Lauf der Zeit kommen aber die Personen hinter den Rollen und vor ihren Computern immer mehr zum Vorschein. Eine sehr starke Szene ist, wenn eine Spielerin, deren Avatar eine schwerbewaffnete Soldatin darstellt, erzählt, dass sie Mutter ist, und fast gleichzeitig ihr Kind im Hintergrund anfängt zu heulen. Ihre Stimme wird leiser, sie ist raus aus dem Spiel, während ihre Figur zart animiert im Standby-Modus weiter mit dem Kopf nickt.
Das ist stark und gruselig. Nach eigenen Angaben haben die Filmemacher 963 Stunden im Spiel verbracht. In diese Zeit fiel auch die Pandemie und die Spieler ändern plötzlich ihr Spiel, sie sind weniger kriegerisch, die Personen hinter den Avataren werden privater, ihre Interaktionen im Spiel werden friedlich, spielerisch. Eine absolut ungewöhnliche, originelle Arbeit, in die man sich am Anfang allerdings erst einsehen muss.

 

Im Computer-vor dem Computer
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Kunstwelt

 

Den Preis für den besten Langfilm national gewinnt:
Nathalie Berger für Chagrin Valley

Sie beobachtet das eigentümliche „Biotop“ der Bewohner und Pfleger eines betreuten Wohnheims in den USA.
Das Heim berührt schon durch seine Anlage, in der die Zimmerflure aussehen wie eine amerikanische Kleinstadt, mit Veranden, Schaukelstühlen und einem gemalten Himmel mit Schönwetterwolken. Der Film fokussiert auf zwei alte Damen und zwei Pflegerinnen, die Welten und Träume liegen weit auseinander, und doch spürt man bei aller Geschäftigkeit eine freundliche Nähe zwischen Bewohnern und Pflegerinnen.
Ein sehr liebevoll gemachter Film, warmherzig, ein wenig traurig und ein verdienter Preisträgerfilm.

 

 Selbstfindung

Als bester mittellanger Film wurde  Self-Portrait Along the Borderline von Anna Dziapshipa gekürt.
Ein Selbstportrait in Art eines avantgardistischen Mosaiks.
Die Regisseurin, Tochter eines Abchasen und einer Georgierin, sucht nach ihrer, durch Krieg und Unabhängigkeitskämpfe, gesplitterten Identität. Sie mischt dafür diverse Archivaufnahmen, Familienfilme und neu Gedrehtes, unterlegt alles mit Gedanken und Erinnerungsfragmenten, Geräuschen und schräger Musik. Sie erschafft so ein aussergewöhliches Bild von sich selbst.

 

 

 

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Das war’s aus Nyon vom Sofa aus. Was man auf jeden Fall sagen kann: der Dokumentarfilm lebt und zeigte in Nyon seine viele Facetten. Wie für Kurzfilme gilt auch hier: Man kann dem Publikum komplexe Themen in ungewöhnlichen Filmen zumuten. Diese Filme gehören ins Kino. Aber das Angebot muss von den Verleihern, von den Kinos kommen.
Alle weiteren Informationen und Preise hier.

 

#Visions du Réel Machtspiele

 

(c) Visions du Réel

Alles für die Kunst

 

 Mon pire ennemi (My Worst Enemy)  von Mehran Tamadon

Die Qualen einer strengen Befragung am eigenen Leib erfahren und daraus einen Film machen, diese Idee steht am Anfang des Films von Mehran Tamadon.
Es beginnt eine Art Casting diverser Exiliranern in Paris, die alle im Iran harten Befragungen und – mindestens – psychischer Folter ausgesetzt waren. Sie sollen ihn befragen, sie sollen ihn spüren und lernen lassen, wie das ist, machtlos und ausgeliefert zu sein. Der Film soll, so die Idee, im Iran als eine Art Dialogöffner funktionieren, eine Idee, die schon irgendwie eher skurril und unwahrscheinlich klingt. Aber man folgt dem Gedanken. Nach ein paar kurzen Interviewsequenzen mit verschiedenen Männern folgt eine junge Frau als Interviewerin. Der Film wird rapide härter. Sie fragt Ähnliches, wie die Vorgänger, aber mit wesentlich entschlossener, geschlossener Miene, wird brutaler. Trotz unangenehmer Situationen wie: sich ausziehen, kalte Duschen ertragen, nackt in der Kälte auf einem Friedhof befragt werden, sieht man dem Regisseur immer an, dass er sich weiter der filmischen Realität bewusst ist. Mit kleinen Seitenblicken schaut er, ob die Kamera noch folgt, manchmal lächelt er. Am zweiten Tag der Befragung verändert sich die Situation, die Fragen der jungen Frau wechseln vom Allgemeinen zum Persönlichen. Sie greift das Konzept des Films an, die Unsinnigkeit der Idee, sie bezichtigt ihn, sie und ihren Schmerz für ein kindisches, eitles Projekt auszunutzen. Der Regisseur fängt an zu zweifeln, an sich, am Konzept. Er fängt an, sich schlecht zu fühlen und zu schämen. Das Machtverhältnis ist gekippt. Ein sehr intensiver, anstrengender Film. Filmisch interessant, wenn man sieht, wie die Kamera immer schafft, so auf den Protagonisten zu bleiben, dass der Fluss der Befragung nie abreisst.

 

Mon pire ennemi
(c) Mehran Tamadon

 

 

Gegen das Vergessen

Es ist immer wieder spannend, was für Filme entstehen, wenn Regisseure und Regisseurinnen auf alte, nie gesehene oder vergessene Familienfilme stossen.
Ein Rohmaterialschatz, der darauf wartet, geborgen und verarbeitet zu werden.

Para no olvidar von Laura Gabay
Ein Film gegen das Vergessen. Eine erzählerische Erinnerung, montiert aus alten Super 8- und Videofilmen und aus Audiokassetten. Eine Zeitreise durch mehrfache Exile. Die Grosseltern, die als sephardische Juden aus der Türkei nach Uruguay flohen, der Vater, der in den 70er Jahren vor der Diktatur dort nach Europa floh, die Mutter, die der Franco-Diktatur in Spanien den Rücken kehrte. Eine Familiengeschichte, deren Zusammenhalt mithilfe von Ton- und Bildaufnahmen aufrecht bleibt, und am Ende ein Abschied, der nicht in Person, sondern wieder nur durch eine Kiste voller Erinnerungen möglich wird. Eine schöne und persönliche Geschichte.

 

Überwachung

Incident von Bill Morrison
30 Minuten zusammengesetzt aus Überwachungskameras, Körper- und Fahrzeugkameras, die zeigen, wie ein Mann von einem Beamten der Chicagoer Polizei erschossen wird. Die Bilder laufen oft gleichzeitig, die Leinwand viergeteilt. Hektik und Stress entsteht, man hört den Funk der Polizei und die gestammelten Rechtfertigungen, mit denen die Beamten 2018 vor Gericht dann durchgekommen sind.

Entscheidung

 

 

 

Natalia (c) ch.dériaz
 

Natalia von Elizabeth Mirzaei
Der Film begleitet die letzten Wochen, bevor die 29-jährige Natalia ihr endgültiges Gelübde zur orthodoxen Nonne ablegen wird. In Schwarzweiss und im 4:3 Format filmt die Regisseurin den Alltag in dem kleinen Kloster, irgendwo in der amerikanischen Provinz. Aber sie zeigt auch die Zweifel, das Hadern der jungen Frau, die eine sportliche, lebensfrohe Naturwissenschaftlerin ist. Und dann immer wieder Bilder von Schatten, Landschaft, Photos, die im Sand versinken, starke, schöne Symbole für den inneren Kampf. Man fiebert tatsächlich mit, wird sie wirklich alles aufgeben, das ihr bisher wichtig war, um ein Mehr an Spiritualität zu leben? Läuft sie von etwas weg, oder zu etwas hin?

#Visions du Réel Kraft der Bilder

 

(c) Visions du Réel

 

 

Kurzes über Hunde

 

Vorteile, wenn man einem Festival online folgt: kein Stress bei der Buchung von Tickets, kein Rennen von Kino zu Kino, kein Anstellen vor Toilettentüren, regelmässiges Essen. Dafür muss man mehr Disziplin haben, nicht auf das Brummen des Handys reagieren, die Aussenwelt aussen lassen, konzentriert schauen, ohne die Hilfe, die ein dunkles Kino bietet.
Aber man schaut, was man will, wann man will. Das ist schon auch alles schön.
Am Morgen also als Erstes ein Kurzfilm über Galgos.


La Merveilleuse douleur du Gênet
von Olivia Ginevra Calcaterra
Der Film setzt diese schönen, schlanken Hunde in sehr schönen Bildern in Szene. Bilder, die aber sofort, wenn auch subtil, das Leiden offenlegen: fast immer ist vor den Hundeköpfen ein Gitter, ein Zaun, ein Maulkorb. Sie sind Gefangene eines „Sports“, den sie nur sehr kurz ausüben, um dann einfach weggeworfen zu werden. Auch diesen Aspekt, in Form von Hunderettung, zeigt der Film. Alles bleibt unaufgeregt, fast poetisch, und lässt doch keine Zweifel am Leiden der Kreaturen. Bloss schade, dass, zumindest am Rechner, der gesamte Film asynchron ist.

 

Abbild und Wirklichkeit

 

And the King Said, What a FANTASTIC MACHINE von Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck

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Mit einem Rundgang von den ersten Photos und Filmaufnahmen bis zur Bilderflut, die heute minütlich generiert wird, erzählt der Film von unserer Wahrnehmung. Was glauben wir zu sehen, was halten wir für real, wo dichtet unser Hirn etwas dazu?
Die Regisseure habe da eine echte Fleissarbeit geleistet, alleine das Zusammentragen und Montieren der vielen Bilder, Filmausschnitte und Clips beeindruckt. Beeindruckt und erschüttert gleichermassen, denn was immer auf einem Bild zu sehen ist, es fehlt immer das, was ausserhalb des Ausschnitts ist, der Kontext. Somit sind wir bereit zu glauben, was wir sehen, weil unser Hirn so funktioniert, aber wir sind nur selten bereit zu ergründen, was sich genau daneben befunden haben mag. Nichts anderes als die Glaubwürdigkeit unsere Wahrnehmung steht hier auf dem Prüfstand, diese Diskussion ist alt, zu finden auch in Platons Höhlengleichnis.

 

Wie gemalt

 

Manchmal reichen reale Filmbilder nicht, um zu erzählen, was erzählt werden muss, das ist der Moment, wo die Animation, mit ihren viele verschiedenen Ausdrucksformen, zum Zug kommt.
Zwei ganz unterschiedliche, aber jeweils sehr gelungene Beispiele:


Dear Daughter
von Hsu Pan Naing

Die brutalen Fakten von Menschenhandel, der jährlich Frauen aus Myanmar nach China zwangsverheiratet, in zarte, poetische, schwarzweisse Aquarellbilder getaucht. Hart, grausam und wunderschön.

 

Amani, Behind the Lines von Alaa Amer und Alisar Hasan

Ein Portrait der syrischen Cartoonistin Amani aus Idlib. Sie ist eine der ganz wenigen Frauen, deren Cartoons gezeigt, gedruckt und ausgestellt werden, allerdings lastet auch auf ihr immer mehr Druck. Sie zeichnet nicht nur gegen Krieg, Bomben und Angst an, sondern auch gegen die Unterdrückung der syrischen Frau. Der Film zeigt sie in ihrem häuslichen Umfeld, in sehr rohen, direkten Bildern, mit wenig Licht, wenn es aber um Ängste, Gefühle und Träume geht, wechselt der Film in die Animation. Ein künstlerischer Spagat, der gut funktioniert, der Amani und ihre Welt wirklich umfassend zu zeigen vermag.

 

#Visions du Réel Experimenteller

 

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 Vampire, was sonst

 

Weiter mit der eher zufälligen und sehr subjektiven Auswahl an Dokumentarfilmen.
Den Anfang macht ein Film, dessen Titel – natürlich – auffällt und neugierig macht:

Vampires, It’s Nothing to Laugh at von Kinga Michalska
Die Basis dieses experimentellen Dokumentarfilms ist die wissenschaftliche Arbeit eines Linguisten und Anthropologen aus den 60er Jahren. Eigentlich auf der Suche nach sprachlichen und folkloristischen Besonderheiten einer kaschubischen Dorfgemeinschaft in Kanada, biegt er irgendwann vom wissenschaftlichen Weg ab. Der Forscher verstrickt sich in seiner eigenen Folklore, die, gespeist von literarisch-filmischer Populärkultur, aus der Aussage einer Frau plötzlich ein Dorf von Vampiren macht. Dem Forscher bescherte das eine gute Karriere, dem Dorf einen miesen Ruf, der bis heute nachwirkt. Die Regisseurin startet mit der gleichen poppigen Neugierde, und muss am Ende beschämt feststellen, dass sie den ethisch fragwürdigen Methoden zu leicht gefolgt ist. Ein Aufruf zur Genauigkeit, verpackt in einen ungewöhnlichen Film.

 

Tagebuchnotizen

 

Animal von Riccardo Giacconi

Ein weiterer experimenteller Film, dieser aber weit weniger gelungen, als der erste. Gut zwei Drittel des Films ist Schwarzbild mit Off-Text. Ein Text, der ein Entwurf, eine Sortierung zu beinhalten scheint: Dies getan, das empfunden, jenes gedreht. Unterbrochen wird diese lange Auflistung von kurzen bebilderten Passagen, in denen man eben das sieht, was zuvor angekündigt wurde. Der im Katalog angekündigte Dialog zwischen Puppenspiel, Mechatronik und Computer erschliesst sich nur sehr spärlich. Alles in allem: eher langweilige 21 Minuten.

 

Neugier

 

The Building Opposite von Siri Pårup

Das Haus gegenüber, die Menschen hinter den Fenstern, ein Panoptikum unbekannter Skurrilitäten, bunt wie ein Adventskalender. Die Regisseurin hat aber nicht nur das Haus gegenüber abgefilmt, sondern, laut Katalogtext, einige Wohnungen im Studio nachgebaut, nachgespielt, und in die Bilder des realen Hauses unsichtbar eingefügt. Entstanden ist ein lustiges Panorama, das in jeder Stadt, in jeder Nachbarschaft so zu finden ist, man muss bloss genau hinschauen können.

 

Blut wird fliessen

 

 

Chienne de rouge
(c) Yamina Zoutat

 

 

 

 

 

 

Chienne de rouge von Yamina Zoutat

Wie die titelgebende Bluthündin, folgt die Regisseurin der Spur des Blutes. Die Spuren kreuzen und überlagern sich, von Menstruationsblut zu Nasenbluten, zu Kunstblut, todbringendem oder lebenspendendem Blut.
Überall: Blut. Echtes rotes Blut und das metaphorische Blut, das uns mit unserer Kultur, unserer Vergangenheit verbindet. Eine Reise, eine Spurensuche, die sehr schön bestätigt, was man schon weiss: Blut ist ein ganz besonderer Saft.

 

 

Narben

 

Disturbed Earth von Kumjana Novakova & Guillermo Carreras-Candi

Egal wie viele Filme man über den Krieg in Bosnien oder speziell über, oder um das Massaker von Srebrenica sieht, jeder Film ist anders. Was an Disturbes Earth beeindruckt, ist die Ruhe in den Bildern. Oft sind es lange Totale, die Zeit geben, zu schauen. Zeit, zu erkennen, wie viel Narben und offenen Wunden übrig sind. Es wird so gut wie gar nicht gesprochen in diesem Film, kurze auf Schwarz geschriebene Zwischentexte tragen den Ablauf ein Stück vorwärts. Kurze Videobilder von 1995: Soldaten, Menschen in Bussen, Bilder, die man so, oder so ähnlich, kennt. Der Rest ist ruhiger, langsamer Alltag, der trotz der Minen, der immer noch nicht gefundenen oder nicht identifizierten Toten, weitergeht, weitergehen muss. Diese Ruhe macht deutlich, dass auch das pure Überleben eine Narbe ist.

 

Ein Kurzfilm geht noch, bevor die Bilderflut überhandnimmt.

Phallisch

 

Dildotectonics von Tomás Paula Marques

Dildos herzustellen, die nicht phallisch, aber eben doch ergonomisch passend sind, und dann auch noch aus Keramik? Das ist die eine Seite der Geschichte.
Die andere ist die geträumte Rekonstruktion eines Falls von zwei Frauen während der Zeit der Inquisition, bei dem auch Dildos, vielleicht aus Keramik, eine Rolle spielten. Kurzweilig, hübsch gemacht und auf Analogfilm gedreht.

 

(c) ch.dériaz

 

 

 

 

 

 

#Visions du Réel Die Welt aufs Sofa

 

(c) Visions du Réel

 

 

Die Welt nach Hause holen

 

In schweizerischen Nyon laufen wieder Dokumentarfilme.
Visions du Réel findet in diesem Jahr natürlich wieder komplett physisch statt, dennoch ist eine Online-Akkreditierung möglich. Auch wenn Filme auf der Leinwand und mit Publikum viel besser sind, mehr Spass machen, mehr Emotionen transportieren und den Bildern gerechter werden, ist der Blick auf das aktuelle Dokumentargeschehen auch vom Sofa aus spannend und wertvoll.
Ein kleiner Blick also auf das aktuelle Programm von Visions du Réel.

Die erste Auswahl fällt schwer, so viele Titel klingen interessant, so viele Vorschaubilder versprechen spannende Unterhaltung, neue Einsichten. Also einfach auf einen Film klicken und losschauen. Gleich der erste Klick ist ein Volltreffer.

 

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Erbschaft und Chaos

 

La Maison von Sophie Ballmer
Mit schwebender Kamera, die Bilder oft auf dem Kopf stehend, immer nur kleine Ausschnitte bietend, erzählt die Regisseurin von einem geerbten Haus, dass sie mit ihrem Mann versucht zu renovieren. Der Off-Text liefert Familiengeschichte(n) und Berichte vom Bau, springt aber oft assoziativ zu anderen Themen, um dann immer wieder treu zum Nichtfortschritt der Bauarbeiten zurückzukommen. So entsteht eine gleichermassen spannende, urkomische und originelle Erzählung, der man bis zum Schluss gerne folgt.

 

Recht auf Identität

 

Pure Unknown (Sconosciuti puri) von Mattia Colombo & Valentina Cicogna
Aufgebaut fast wie ein Spielfilm, zeigt Pure Unknown den unermüdlichen Kampf der italienischen Forensikerin bei der Identifikation unbekannter Toten. Opfer, die irgendwo im Strassengraben gefunden wurden, sind da noch – fast – eine leichte Aufgabe. Aber die vielen Toten, die übers Mittelmeer versuchen, Europa zu erreichen, und die Überfahrt nicht überleben, sind ungleich schwerer zu identifizieren. Aber auch diese Toten haben ein legales Recht auf Identität, ihre Angehörigen ein Recht auf Abschluss. Der Film begleitet die Forensikerin bei der Arbeit, bei nächtlichen Spaziergängen mit ihren Hunden, aber auch auf der verzweifelten Suche nach finanzieller Unterstützung. Wenigstens ein geregelter Datenaustausch innerhalb Europas, der könnte helfen, die Daten von Vermisste mit denen von Gefundenen abzugleichen. Ein Kampf gegen bürokratische Windmühlen, geführt von einer mutigen Frau, in einem Film voller schöner, einfühlsamer Bilder und ohne jeglichen Kommentar, dafür mit einer vielschichtigen Tonbearbeitung.

 

Zeit

Le Fils du chasseur von Juliette Riccaboni
Der 26-jährige Samir versucht bei einem Jagdausflug Nähe zu seinem Vater zu schaffen. Doch so leicht, wie er sich das denkt, ist es nicht. Ein wehmütiger, ruhiger Film, angesiedelt in den Walliser Alpen, bei oft grau-nassem Wetter, aber nicht Depression, sondern Hoffnung prägen den Film. Und so bleibt auch Samir hoffnungsvoll: wenn er es diesmal nicht geschafft hat seinem Vater näherzukommen, dann eben das nächste Mal, oder spätestens in zwei Jahren.

Auswahl

Alle Filme sind online abrufbar, aber erst, nachdem sie auch in Nyon in den Kinos ihren Spieltermin haben. Da muss man manchmal auf mehrere Filme klicken, bis dann einer freigeschaltet ist. Aber fündig wird man letztlich immer. Weiter geht es also im Programm.

Dorfleben

Drei Frauen von Maksym Melnyk

Ein Jahr in einem ukrainischen Dorf am Rand zur EU, auf der eine Seite die nahe Grenze zur Slowakei, auf der anderen die Grenze nach Polen. Ein Dorf, das still stirbt, und doch bleibt es wegen seiner Einwohnerinnen ein lebhafter Ort. Im Fokus stehen drei Frauen, zwischen 50 und 70, eine Bäuerin, eine Biologin, die Postbeamtin des Dorfs. Wenn am Anfang die Bäuerin das Filmteam noch böse zu verjagen versucht, werden Regisseur und Kameramann im Verlauf des Films immer mehr Bestandteil der Gemeinschaft, wie Söhne, sagt die alte Frau, die sie nicht selbst an der Brust genährt hat. Ein sehr schöner, warmherziger und lustiger Film.

 

#Diagonale Der Abschied

 

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Zum Schluss

Das war sie also, die letzte Diagonale von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger.
Es waren wie immer zu wenige Stunden, um alle Filme anzuschauen, die man hätte anschauen können, oder wollen. Ob das Grund ist, dass ich dieses Jahr so gut wie keinen der Preisträgerfilme gesehen habe?

 

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Preise

VERA von Tizza Covi und Rainer Frimmel gewinnt als bester Spielfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark.
Souls of a River von Chris Krikellis bekommt als bester Dokumentarfilm den großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark.
Immerhin zwei Preisträgerfilme sind dann doch dabei:
Cornetto im Gras von David Lapuch, die Geschichte der Abgehängten rund um einen Imbisswagen im ländlichen Österreich, gewinnt den Preis für den besten Kurzspielfilm.
Und die beste künstlerische Kamera geht an Klemens Koscher für 27 Storey – Alterlaa forever.
Alle Preise auf der Festivalseite.

Ausblick

Mit dem Ende der Diagonale 2023 treten Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh ihre Intendanz an. Wie sie das Festival gestalten werden, was ihre Vorstellungen sein werden, wie ihre Netzwerke funktionieren, wird sich alles im kommenden Frühjahr zeigen. Vielleicht gibt es dann ja auch Saalpläne für die Buchung der Tickets…

 

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