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58.Solothurner Filmtage Eröffnung

 

Grau, aber schön
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Filmland Schweiz

 

Die 58. Solothurner Filmtage unter neuer künstlerischer Leitung, nach einem Jahr mit Zwischenlösung, dieses Jahr also mit neuem Gesicht: Niccolò Castelli, Journalist, Drehbuchautor und Regisseur, und jetzt künstlerischer Leiter in Solothurn.
Eine Woche lang werden Kurz- und Langfilme das Schweizer Filmschaffen zeigen, wenn man ins Programm schaut, findet man dort sowohl Trash-Gemetzel als auch politische Dokumentarfilme, das kann spannend werden.

 

Konkurrenz und schlechtes Wetter

 

Jedes Jahr findet parallel zu den Solothurner Filmtagen auch das Weltwirtschaftsforum in Davos statt. Und wie jedes Jahr sollte trotzdem Bundesrat, dieses Jahr auch Bundespräsident, Alain Berset persönlich zur Eröffnung kommen. Sollte, denn das Winterwetter macht die Hin- und Rückreise aus Davos dieses Jahr unmöglich. Es gibt also nur eine Videobotschaft, und in Vertretung die Leiterin des Bundesamtes für Kultur.
Diese Besuche mögen vielleicht nicht nach viel klingen, oder nur nach: „da mag jemand gern zwischen Filmleuten sein“, aber bei genauer Betrachtung zeigt es den Stellenwert, den die Schweizer Politik dem heimischen Film beimisst, als Kunstform und als Wirtschaftszweig.
Ein Zeichen, das man nicht unterschätzen sollte, denn Kunst braucht Geld und Unterstützung, auch in Form von Förderung.
Zur Eröffnung betonten alle, wie wichtig nicht nur Filme heute sind, sondern das Filmschauen, und zwar im Kino, in Ruhe, im Austausch, unabgelenkt, wodurch man – paradoxerweise – der allgegenwärtigen Bilderflut entkommen kann, indem man Bilder anschaut.

 

 

58.Solothurner Filmtage
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Freiheit und Demokratie

 

Auch wenn jedem bewusst ist, dass in nächster Nähe Krieg herrscht, geraten manche, nur scheinbar kleinere, Kämpfe in der Nachbarschaft in den Hintergrund.
In Belarus zum Beispiel herrscht seit den 90er Jahren Präsident Lukaschenko uneingeschränkt und diktatorisch, unwidersprochen bleibt das vor Ort allerdings nicht. Der Eröffnungsfilm This Kind Of Hope von Pawel Siczek zeigt den unermüdlichen Kampf und oppositionellen Widerstand gegen den Machtmissbrauch. Über fast 30 Jahre zieht sich der Dokumentarfilm, am Anfang steht die Einigung Russlands, Weissrusslands und der Ukraine, die Sowjetunion zugunsten dreier unabhängiger Staaten zu teilen. Aber kurz darauf wird Lukaschenko zum Präsidenten gewählt und beginnt den neuen Staat in die bis heute existierende Diktatur zu verwandeln.
Protagonist des Films ist der Oppositionelle Andrei Sannikov, der als Diplomat bei der Umstrukturierung der Sowjetunion schon dabei war, im Weiteren aber in die Opposition ging, dafür eingesperrt und gefoltert wurde und jetzt in Polen im Exil lebt, und von dort weiterhin für die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Heimat arbeitetet. Der Film zeigt in Archivbildern die Geschichte seit den 90er Jahren und parallel die Geschichte Sannikovs und dessen Familie. Das ist sehr interessant, aber auch ziemlich anstrengend. Aber schlussendlich funktioniert die Mischung aus Politik und Privatleben, einfach, weil man vor dem Hintergrund des Grossen einen persönlichen Bezug findet, dem man folgen kann.
Der Film bekam nicht nur viel Beifall, sondern auch stehende Ovationen. Möglicherweise wurde da auch stellvertretend für alle, die in der Region für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, applaudiert, aber das soll den Erfolg des Abends nicht schmälern.

 

Gesellig

 

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Bei Wein und Häppchen im Anschluss merkt man nicht mehr, dass vor Kurzem ein Virus die grösste mögliche Bedrohung war, es darf auch hier wieder uneingeschränkt und gesellig gefeiert werden.

#FilmTipp Unrueh

 

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Zeitgefühle

 

Jede Sekunde zählt, egal, ob auf dem Weg zur Fabrik, bei der Belichtung der Photos oder beim Einsetzen der winzigen mechanischen Teile der Uhren.
Zeit ist Geld und Fortschritt.
Und dennoch gelten in einem Tal im Schweizer Jura um das Jahr 1877 mehrere verschiedene Uhrzeiten: die Fabrikzeit, die Gemeindezeit, die Zeit des Telegraphenamts oder die Zeit am Bahnhof.
Umbruch und Modernisierung liegen in der Luft in Cyril Schäublins zweitem Langfilm Unrueh. Ein Film nicht nur über die Zeit(messung), sondern auch über eine Zeit, in der Anarchie ein Konzept war, das zu mehr Gerechtigkeit für alle führen sollte.

 

Die Schweiz tickt anders

Während im Rest Europas die Anarchisten bereits verfolgt und eingesperrt werden, finden sie in der Schweiz noch Zuflucht und Anerkennung und selbst Fabrikbesitzer wissen, deren weltweite Vernetzung für sich zu nutzen.
Der Film ist bildlich und formal unkonventionell, mit sehr vielen Nahaufnahmen, nicht nur beim Uhrenmachen, dazu Totalen, in deren Vordergrund verschwommene Gestalten durchs Blickfeld huschen, ein Gefühl von Voyeurismus erzeugend. Unkonventionell häufig auch der Schnitt, wenn in Dialogszenen oft der Zuhörer, statt des Sprechers, die Leinwand bekommt.
Manche Szenen habe etwas theaterhaftes an sich, besonders wenn der Kontext erklärt wird, oder auch wenn die beiden Dorfgendarmen auftreten. Eigenwillig, oft witzig, manchmal etwas unbeholfen, aber man bleibt immer bei der Geschichte.

 

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Frauenfiguren

Besonders schön sind die Frauenfiguren der Geschichte gelungen. Zu einer Zeit, in der Frauen, nicht nur in der Schweiz, kein Wahlrecht hatten, sieht man sie hier gleichberechtigt für ihre Arbeitsbedingungen kämpfen. Man sieht, dass sie keineswegs nur ausführende Hände sind, sondern ganz genau wissen, was sie da warum machen. Eine der schönsten Szenen dazu gibt es gegen Ende des Films: Eine Arbeiterin, mitten im Wald stehend, erklärt dem jungen russischen Geographen, wie eine Uhr funktioniert. Man begreift, dass ihre Arbeit die einer hoch qualifizierten Fachkraft ist, auch wenn weder ihr Lohn noch das soziale Ansehen das widerspiegeln.

Parallelen

Das Moderne der Welt Ende des 19. Jahrhunderts weist erstaunliche, oder auch erschreckende, Parallelen zu unserer Zeit auf. Auch heute gilt das Verwalten der Zeit im Hinblick auf Produktivität als seligmachend, heisst heute eben Zeitmanagement. Das Verehren von Personen, die man nur aus verteilten oder geteilten Bildern kennt, sind heute keine wilden Anarchisten mehr, sondern gut verdienende Influencer. Und auch was die Umsetzung von Frauenrechten angeht, sind wir heute nicht so wahnsinnig weit gekommen.
Ein schöner Film, der nur scheinbar von der Vergangenheit handelt.
Unrueh läuft weiterhin im Metro Kino.

Mehr zum Schweizer Filmschaffen gibt es ab 18. Januar bei den Solothurner Filmtagen zu sehen, und hier zu lesen.

 

#FilmTipp EO

 

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Ein Esel auf Reisen

 

EO von Jerzy Skolimowski ist eine Art surreales Märchen, das jeder Zuschauer ein wenig anders sieht. Die Szenen sind eigentlich ausschliesslich durch die Anwesenheit des titelgebenden Esels verbunden. Der Rest, also die Reise, das Abenteuer, die Träume, findet durch Assoziation, durch Seherfahrung und Erwartung im Kopf der Zuschauer statt.
Skolimowski bedient das perfekt, in dem er ein wahres Paradebeispiel der Macht und Kraft der Bildmontage liefert.

Stetiges Vorwärts

Der Esel tut im Wesentlichen nichts anderes, als stetig vorwärtszugehen, seinem Schicksal entgegen, oder weniger dramatisch:
Er geht einfach seinen Lebensweg.
Die Emotionen, die scheinbaren Geschichten, alles entsteht aus der Spannung von Perspektiven, Blickwinkeln, Bildausschnitten und eben Erwartungen.
Besonders schön, vor allem am Anfang, ist die reduzierte, aber kraftvolle Musik und die überdeutlichen Geräusche, diese scheinen die akustische Perspektive der Eselsohren einzunehmen. Später im Film wird die Musik etwas sehr breit, und die Präsenz der Geräusche geht zurück, was beides ein bisschen schade ist.

Mit didaktischem Eifer sind die Menschen im Film ebenso zufälliger Hintergrund wie die Landschaft, dadurch reduziert sich das, was sie sagen, auch zu atmosphärischem Klang, es ist nicht wichtig, für den Esel nicht und für die Geschichte nicht. Es bleiben aufgeschnappte Momente.
Damit bleibt das, was der Zuschauer sich an Eselsabenteuer denkt, ganz im Vordergrund und dadurch macht der Film Spass, und bietet Raum für eigene Geschichten.

 

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Eine Botschaft

 

„Sicherheitshalber“  beginnt der Film mit einer kurzen Botschaft des Regisseurs, der die Botschaft seines Films schon mal vorab verkündet: Es geht um die Tiere.
Tatsächlich hätte man das wohl auch so verstanden, und dieser Anfang irritiert, vor allem durch seine extrem amateurhafte Anmutung.

Was der Film neben den sehr schönen Bildern und dem tollen Schnitt bietet, ist insofern wertvoll, als man ohne dramatischen Höhepunkt, ohne Schreck- und Schockmomente einfach im langsam trabenden Rhythmus des Esels schauen und frei assoziieren kann. Das ist selten genug.
Nach dem Film möchte man eigentlich dringend eine weiche Eselsnase streicheln gehen.

 

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Der Film läuft in Wien weiterhin in folgenden Kinos:
Stadtkino, Village-Cinema, Votiv Kino

 

 

 

 

#FilmTipp Ninjababy

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Gefühlsvielfalt

 

Was tun, wenn man plötzlich erfährt, dass man seit sechseinhalb Monaten schwanger ist?
Das ist die Ausgangslage im norwegischen Film Ninjababy von Yngvild Sve Flikke.

Rakel, die Schwangere, ist chaotisch, liebenswert, versoffen, und hat gerne Sex, all das passt so überhaupt nicht mit Mutterschaft zusammen. Dass sie eigentlich auch zunächst nicht genau weiss, wer der mögliche Mann zum werdenden Kind ist, hilft natürlich auch nicht weiter.
Und so ist für sie auch völlig klar: Das Kind muss weg.
Hier wäre schon viel Platz, um mit widersprüchlichen Gefühlen und Möglichkeiten zu hadern, zu kämpfen, zu räsonieren.

Zeichen an der Wand

Ninjababy fügt dem aber noch die Animation hinzu. Das Ungeborene, das sich so lange gar nicht manifestiert hat, wird plötzlich sehr vorlaut und erscheint Rakel in Form des titelgebenden Ninjababys. Mal meckert es von der Zimmerwand, mal vom Schreibtisch runter, es quängelt und will diskutieren, es will mitbestimmen.
Kurz, es ist das personifizierte Gefühlschaos. Dazu kommen zu Anfang noch recht schräge Erinnerungsfetzen und Zukunftvisionen, die ins Film-Jetzt hineinkrachen, aber leider irgendwann verloren gehen.

Kitschklippen

Die Geschichte schwankt immer wieder verdächtig nah an Kitschklippen heran, spielt mit den bekannten, erwartbaren 08/15 Standardlösungen, nur um diese im letzten Moment zu umfahren. Man atmet auf.
Die Figur Rakel muss nicht gerettet werden, weder vom netten Aikidolehrer, noch vom gruseligen One-Night-Stand, der für das Kind mitverantwortlich ist.
Das macht den Film angenehm.
Dazu kommen die sehr guten Darsteller, die alle, anders als in vergleichbare amerikanischen Filmen, weder als Modell noch als Leistungssportler durchgehen würden, sie sind einfach junge Erwachsene, die irgendwie aussehen. Auch das ist dem Film hoch anzurechnen. Dass er insgesamt weniger schräg ist, als der Trailer vermuten lässt, liegt auch an der subjektiven Erwartung.

Insgesamt ein freundlicher Film, der zwischen Spass und Ernst eine angenehme Balance findet und der es zulässt, Mutterschaft nicht als das höchste Glück zu feiern.

Zurzeit noch in folgenden Kinos zu sehen:
Stadtkino oder Votivkino

 

# Film:Schweiz in Berlin

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Hinter den sieben Bergen….

 

Nein, das wird jetzt kein Märchen.
Auch wenn viele Zuschauer das Filmland Schweiz nur vom Hörensagen kennen.
Die Filme sind oft eher unbekannt oder tauchen unerkannt und unbemerkt im Kino auf. Diese Aufmerksamkeitslücke wird von der Schweizerin Teresa Vena mit Gefühl und Hingabe geschlossen. Das kleine Festival Film:Schweiz fungiert so bereits zum 4. Mal als Botschafter des schweizer Films in Deutschland.

Wer also in Berlin lebt, hat es gut, nicht nur weil: Berlin, sondern weil dort vom 14. bis 21. September 2022 in den Eva Lichtspielen eine tolle Auswahl dieser unbeachteten Filmgattung zu sehen sein wird.

 

Politisch – komisch – kurz

Einige Beispiele aus dem Programm:

Wer politisch interessiert ist, wird mit Moskau einfach! von Micha Lewinsky ein Stück unbekannte, und in der Öffentlichkeit nicht gut aufgearbeitete, neuerer Geschichte kennenlernen. Informativ, grotesk und, bei allem Ernst: lustig.
Mehr zum Film hier.

Grell, bunt, frech und mit einer ganz eigenen künstlerischen Handschrift:
Wer hat die Konfitüre geklaut? von Cyrill Oberholzer und Laura Stoll.
Ein Film nicht nur für Furby-Fans.
Mehr dazu lesen.

Zu fast allen Langfilmen gibt es auch einen Kurzfilm.
Menschen am Samstag von Jonas Ulrich ist besonders schön, vor allem aufgrund seiner formalen Strenge.

 

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Werbung

 

Ist das jetzt Werbung statt eines Märchens?
Ein bisschen, ja.
Und diese Werbung wird es so lange geben, bis schweizer Filme in den europäischen Nachbarländern so selbstverständlich sind, wie jetzt schon, zum Beispiel, französische oder englische Filme, oder bis sie so bekannt sind wie schweizer Schokolade.
Hier das ganze Program.

 

(c) Film:Schweiz

 

#Locarno75_ Zum Schluss

 

 

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Brotjob zuerst

 

Als Kelly Reichardt gestern Abend ihre Ehren-Leoparden bekam, wurde auch sie gebeten, einen Tipp für zukünftige Regisseure und Regisseurinnen zugeben.
Dieser Rat fiel gleichermassen pragmatisch wie traurig aus: „Sucht euch auf jeden Fall einen Brotjob“. Film(kunst) bleibt ein Vergnügen, das man sich leisten können muss, vor allem, wenn man unabhängig von eingefahrenen Sehgewohnheiten und Formen produzieren will.

 

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Hexen

 

Bei gleissendem Sonnenschein ein letztes Mal in einen dunklen Kinosaal.
Der Kontrast von realem Aussen zu Svetlonoc (Nightsiren) von Tereza Nvotová könnte nicht grösser sein. Ein abgeschiedenes Dorf in der Slovakei, die Menschen dort sind abergläubisch, heuchlerisch und brutal. Hier ist es normal, seine Ehefrau zu prügeln, der jungen Nachbarin nachzustellen und alles, was ein bisschen fremd ist, als Hexe zu diffamieren.
In dieses Dorf kommt eine junge Frau zurück und findet sich fast sofort mitten im Strudel aus Missgunst, Aberglaube und Brutalität. Nur langsam erschliessen sich die Beziehungen der Frau mit den anderen Dorfbewohnern und mit einer weiteren jungen Frau, die erst seit kurzem im Dorf lebt. Ein düsteres Märchen voller schwarzer Symbolik und mit viel reinigendem Feuer.

 

 

Lichtspiele
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Die Leoparden-Show

 

Dieses Jahr gab es nicht nur viele schräge, ungewöhnliche Filme im Programm, sondern auch viele Filme, die mutig Themen behandelt haben, die ausserhalb des Gängigen liegen. Und so gehen alle Leoparden an wirklich aussergewöhnliche und tolle Filme und ihre Macher und Macherinnen.

Besonders schön sind zwei der Preise der Jugendjury, weil sie sich wirklich zwei komplexe, komplizierte und sehr schöne Filme ausgesucht haben:
Piaffe von Ann Oren und Balıqlara xütbə (Sermon to the fish) von Hilal Baydarov.

 

Goldener Leopard
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Pardo d’oro Internationaler Wettbewerb:
Regra 34 (Rule 34) von Julia Murat

Pardo d’oro Cineasti del presente:
Svetlonoc (Nightsiren) von Tereza Nvotová

 

 

Spezialpreis der Jury Cineasti del presente:
Yak Tam Katia? (How is Katia?) von Christina Tynkevyc
Bester Erstlingsfilm:
Sigurno mjesto (Safe Place) von Juraj Lerotić
WWF Pardo verde:
Matter out of Place von Nikolaus Geyrhalter

Alle Preise gibt es hier.

 

Alle Preisträger&Julia Murat
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Letzte Vorstellung

 

Nachdem alle Preisträger auf der Bühne waren und Präsident Marco Solari das Festival mit Dank an alle Beteiligten beendet hat, ein letzter Film.

Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit von André Schäfer.
Wer den Autor Suter kennenlernen will, hat in diesem Dokumentarfilm Gelegenheit, sowohl seinen Werdegang, sein Privatleben und Texte seiner Bücher zu sehen. Die Mischung, auch mit unter den Buchpassagen liegenden (stummen) Spielszenen, und Suter in allen Lebenslagen, ist eine Weile lustig, nutzt sich aber doch schnell ab. Danach wird der Film eher langatmig und etwas eitel. Die lustigste Szene, die auch spontan Applaus bekam: Suter und der Musiker Stephan Eicher überqueren den „Röstigraben“, sie reden dabei zunächst Französisch miteinander, dann mitten im Satz und im Gehen Schweizerdeutsch, bleiben stehen, gehen zurück, das gleiche Spiel, und wieder vorwärts, nochmal der Sprachwechsel im Satz, im Gehen.
Das ist kurz genug gehalten, um wirklich lustig zu sein, und sehr schweizerisch.

 

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Das war also die 75. Ausgabe des Locarno Filmfestivals. Es war wärmer als in manchen anderen Jahren, es war so voll wie seit zwei Jahren nicht mehr, es war insgesamt ein schönes Festival.
Am 2. August 2023 wird Marco Solari, zum letzten Mal als Präsident, das Festival eröffnen. Bis dahin heisst es, Ausschau halten, nach den Filmen, die hier gelaufen sind und ins Kino gehen.

 

 

#Locarno75 _ Die Zielgerade naht

 

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Grün und inklusiv

 

Das Locarno Filmfestival ist nicht nur seit Jahren bemüht, Müll zu reduzieren und seinen ökologischen Fussabdruck zu minimieren, sondern bietet seit diesem Jahr auch, als Massnahme zur Inklusion, sogenannte Relaxvorstellungen an. Dabei wird das Kino nicht komplett abgedunkelt, der Filmton ist etwas leiser und Zuschauer können während der Vorführung rein- und rausgehen gehen oder auch Lärm machen. Die meisten Zuschauer an diesem Morgen haben eine solche Spezialprojektion nicht willentlich gebucht. Vermutlich ist niemand im Saal, für den diese Form gedacht ist. Vielleicht muss man einfach die gute Absicht anerkennen.
Also, auf geht’s in eine Relaxvorstellung.

 

Uneindeutig

 

Before I Change My Mind von Trevor Anderson spielt mit Erwartungen, denen der Zuschauer und denen der Filmfiguren. Insgesamt geht es ums Erwachsenwerden, am Rand auch ein bisschen um die nicht eindeutige geschlechtliche Zuordnung der Hauptfigur Robin.
Kanada1987, Robin kommt in eine neue Schule, und es wird schnell klar, dass das Kind nicht eindeutig als Mädchen oder Junge eingeordnet werden kann. Das Englische unterstützt die Ambiguität, alle sprechen von allen Kindern als „the kid/the kids“, der Name ist uneindeutig, das Verhalten eher jungenhaft, aber auch nicht ganz. Tatsächlich geht es aber wesentlich mehr um die Position in der Klasse, keiner will der Aussenseiter sein, und die, die als solche ausgemacht werden, werden schnell übelst behandelt. Entscheidungen, ob man bei denen ist, die mobben, oder gemobbt wird, sind zu treffen. Gruppendruck mit 12 Jahren, das ist traurig. Die Geschichte ist hübsch erzählt, die jungen Darsteller sind gut und schmerzhaft überzeugend. Die Uneindeutigkeit der Figur Robin wird auch am Schluss nicht geklärt, denn darum ging es die ganze Zeit über nicht.
Die Relaxvorstellung hat sich nicht wirklich bemerkbar unterschieden, der Ton war immer noch laut genug, das Mehr an Licht ist nicht wirklich aufgefallen, und rumgelaufen ist auch niemand.

 

 

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Hölle und Anderes

 

Dieses letztes Kurzfilmprogramm fordert heraus, die Filme teilen ihre Geschichte, ihr Inneres nicht so einfach mit den Zuschauern.
Soberane von Wara zum Beispiel. Eindeutig geht es um Identität, aber darüber hinaus ist der Verlauf eher undeutlich. Eine Brasilianerin in Kuba, entwurzelt? Oder eine Ausserirdische, auch entwurzelt? Oder, oder? Die Möglichkeiten sind vielfältig, der Film lässt alles zu und erklärt nichts.
Männlichkeit und Rituale scheinen das Thema in Brandon Roi von Romain Jaccoud zu sein. Zwei junge Männer ringen irgendwo in einer Berglandschaft miteinander. Training oder Spass, ein Ausflug, sind sie Freunde, oder Liebhaber? Auch hier sind alle Möglichkeiten offen.
Lake of Fire des Kollektivs NEOZOON gestaltet aus Foundfootage eine wilde, bunte Collage zum Thema Tod und Hölle. Das ist sehr eindrucksvoll, vor allem in seinem Rhythmus.
Eine Schulklasse im verschneiten Kananda gibt es in Au crépuscule von Miryam Charles. Eines der Mädchen geht ständig vor, scheint schneller und stärker zu sein als die anderen. Aber etwas plagt sie, etwas sieht sie in der Umgebung, oder sind das alles nur Visionen eines jungen Mädchens, das die Nahrungsaufnahme verweigert?
Deutlich klarer ist die Kapitalismuskritik im Animationsfilm Money and Happiness von Ana Nedeljkovic und Nikola Majdak Jr. In Hamsterland leben lustige Knetmassefiguren. Ihr einziges Ziel im Leben: arbeiten, um das Bruttosozialprodukt zu erhöhen, in schwindelerregende Höhe zu steigern. Koste es, was es wolle. Sehr hübsch gemacht, und ganz schön gruselig.

 

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Pferde, Farne und Geräusche

 

Schräg, voller phantastischer Ideen und surreal, das ist die einfachste Zusammenfassung von Ann Orens Piaffe. Das Gerüst der Geschichte: die Schwester eines Geräuschemachers muss den Ton für einen Psychopharmaka- Werbespot machen, weil ihr Bruder nach einem nicht beschriebenen Vorfall in der Psychatrie gelandet ist. Gefragt sind Pferdegeräusche, Ahnung hat sie davon keine. Aber mit diesem Gerüst wird man der Geschichte nicht gerecht. Lauter skurrile Gestalten bevölkern die Szenerie, und dann wächst der jungen Frau auch noch am Steissbein ein veritabler Pferdeschwanz, was wiederum ein Botaniker erotisierend findet. Nein, man kann dieses phantastische Spektakel einfach nicht beschreiben, wozu auch. Pferde, Farne, BDSM-Sex (ein bisschen), Geräusche und Techno, gedreht auf 16 mm Film, bunt und ein bisschen irre.

 

 

Leises Tröpfeln

 

Zwei Minuten vor dem Anfang der Abendveranstaltung auf der Piazza fängt zart an zu tröpfeln, einige verlassen fluchtartig ihre Plätze, die meisten bleiben. Das Tröpfeln hört wieder auf.

Vous n’aurez pas ma haine von Kilian Riedhof ist ein Film nach einer wahren Begebenheit. Antoine Leiris verliert 2015 beim Anschlag auf das Pariser Bataclan seine Frau, in all der Trauer schreibt er kurz nach dem Anschlag einen Post, in dem er den Attentätern verspricht, dass sie seinen Hass nicht bekommen werden, dass er und sein kleiner Sohn, bei aller Trauer, nicht hassen werden. Der Post wird 1000-fach geteilt, es folgen Interviews und TV-Auftritte. Der Film erzählt also genau das: ein Vater, der trauert, der sich trotzdem mit seinem 2-jährigen Sohn beschäftigt, auch wenn der ihn manchmal zum Ausrasten bringt. Aber das reicht alles nicht für einen guten Film, vor allem, wenn man den Fakten treu bleiben will. Und es reicht auch nicht für 102 Minuten. Ab dem Augenblick, wo der Post geschrieben ist, bleibt der Geschichte nur noch zu zeigen, wie eine Familie trauert, mit allen Trauer-Stadien. Das macht der Film so professionell wie kitschig, und für alle, die es bisher nicht wussten: 2-jährige Kinder sind häufig extreme Nervensägen.
Das scheint auch kein Kandidat für den Publikumspreis zu werden.

Alle anderen Jurys dürften heute im Laufe des Tages ihre Preisträger bestimmt haben. Morgen Abend werden die Leoparden verteilt, auch der Publikumspreis.

 

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#Locarno75_ Abgründe

 

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Festivalalltag

 

Nachdem im letzten Jahr alles kontrolliert wurde, also Ticket, Impfpass, Ausweis und dann noch Taschenkontrolle, ist es dieses Jahr erstaunlich entspannt. Ticket in der App (oder auf Papier) zeigen, Tasche öffnen, erklären, dass die Trinkflasche nicht aus Glas ist. Manchmal wird das mit einem leichten Schlag der Taschenlampe gegen die Flasche gegengecheckt, fertig. Ab ins Kino, abkühlen.
Was geblieben ist aus den restriktiveren Ausgaben, ist die Reservierung von Tickets, allerdings ohne festen Sitzplatz, und die zeitlich etwas weiter auseinanderliegenden Vorstellungen. Man braucht nicht ganz so sehr zu rennen, in der Theorie ist damit auch mal ein Kaffee drin, oder etwas zu essen, wobei, das ist dann fast schon wieder herausfordernd.

Plastikstühle im Fevi
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Langsam werden auch alle Kinositze unbequem, egal, ob weiche, breite Kinosessel oder Varianten von Plastikstühlen, die persönliche Sitzfläche leidet.

 

 

Kinderseelen

 

Wenn schon Erwachsenwerden schwer ist, um wieviel schwerer muss das sein, wenn man eine labile Persönlichkeit ist. Das lotet Franciska Eliassen in Den siste våren aus. Zwei Schwestern im nördlichen Norwegen, in einer Gegend, die ausser Natur nicht viel zu bieten hat. Das ältere der beiden Mädchen verliert sich im Lauf der Geschichte immer mehr in Ängsten und Wahn, während die jüngere, bodenständiger, versucht zu begreifen, was passiert. So fängt sie an, das Tagebuch ihrer Schwester zu lesen, in dem Kollagen und wüste Gedanken von einer immer schwärzeren Gefühlswelt zeugen. Wie kann man sich an einer immer kränkeren (Um)Welt reiben, seine Grenzen finden, wenn sich die umgebende Welt in Auflösung und freiem Fall befindet? Der Film arbeitet viel mit der Landschaft und mit immer mehr symbolisch aufgeladenen Bildern, der Seelenzustand der grossen Schwester übernimmt die visuelle Umsetzung auf der Leinwand. Auch hier darf am Ende ein Lämmchen symbolhaft über den Küchentisch staksen, da der Film aber insgesamt mit Metaphern und Symbolen arbeitet, stört auch das Lamm nicht.

 

Ist Sex politisch

 

Ein weiterer anstrengender, aber auch nachdenklich stimmender Film:
Regra 34 von Julia Murat. Simone, eine junge, schwarze Brasilianerin, Jurastudentin und künftige Pflichtverteidigerin, verdient sich ihr Studium mit Online Sexchats. Ein lukratives Geschäftsmodell, bei dem sie auch Spass hat. An der Uni führen sie Diskussionen zu Unterdrückung, Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, staatliche Gewalt, und Möglichkeiten, all das zu verbessern, ohne dabei wieder staatliche Gewalt auszuüben. Hochtheoretische Diskussionen, die auch im Privatleben weitergehen. Wie weit sind Simones, immer mehr Richtung S/M-Sex gehenden, sexuellen Aktivitäten eine Selbstermächtigung, und damit auch politisch? Oder sind sie doch ein Zeichen ihrer Unterdrückung in einem patriarchalischen System? Der Film dekliniert die Frage bis zum gefährlichen Ende durch, ohne plakative Antworten oder moralischen Zeigefinger.

 

Es wird recycelt
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Müll

 

Wir alle produzieren zu viel Müll, so weit, so wenig überraschend. Nikolaus Geyrhalter macht daraus in Matter Out of Place einen Kinofilm. Und er macht das so, wie er alle Themen behandelt, mit wunderbaren Bildern, in meistens sehr weiten Totalen, die in Ruhe angeschaut werden können. So also auch diesmal. Von Albanien über Nepal, von den Malediven bis Österreich, vom Mittelmeer bis in ein schweizer Skiressort, überall grosse Mengen von Müll, grosse Maschinen, grosse LKW. Überhaupt ist alles gross, ausser den Menschen, die den Müll produziert haben, und ameisengleich letzte Hand in der Entsorgung anlegen. Gesprochen wird so gut wie nie in diesem Film, am Anfang reden Leute einmal miteinander, und am Ende noch einmal, das war es. Den Rest darf man als Zuschauer anschauen, staunend, sich schwörend, nie wieder Müll zu produzieren.  Einige Zuschauer haben diese mächtigen, vollen Bilder nicht ausgehalten und verliessen das Kino, das ist schade.
Der Film könnte auch ein guter Kandidat für den neuen grünen Leoparden sein.

 

 

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Noch mehr Abgründe

 

Jeden Abend eine Ehrung, das ist der Glamourfaktor, der mal besser, mal schlechter funktioniert. Heute Abend war es Laurie Anderson, die für ihr künstlerisches Schaffen einen Leoparden bekam. Und sie wurde laut und herzlich vom Publikum gefeiert.

Danach dann der erste Langfilm der schweizer Regisseurin Caterina Mona:
Semret.
In der Säuglingsabteilung eines Züricher Krankenhauses arbeitet die Eritreerin Semret, neben ihrer Arbeit gibt es für sie nur ihre Tochter, die sie versucht,vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Aber die 14-Jährige rebelliert, will wie ihre Schulfreundinnen auch mal weggehen dürfen, will mehr wissen über das Leben in Eritrea, doch Semret verweigert alles. In kleinen Häppchen muss sie sich ihre Vergangenheit doch stellen. Der Film deutet dabei gerade so viel an, dass man versteht, ohne einen langen, dramatischen Seelenstriptease zu bieten, und auch wenn einiges sich zum Guten wendet, lässt er auch zu, dass eben nicht alles am Ende einer Geschichte schön und rosig ist.

 

 

 

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Gelb-Schwarz

 

Nicht alles, was in gelb-schwarz daher kommt, ist ein Filmfestivalfan. Dieses Jahr sind besonders viele Wespen unterwegs. Kein Tisch in einer Bar ohne umherschwirrende Wespen, und selbst auf der Piazza, wenn die sich Abends die ersten Zuschauer ihre Plätze sichern, fliegen die gelb-schwarzen Plagegeister herum.

Brüder

 

Wie umgehen mit dem Suizid des eigenen Bruders? Juraj Lerotić macht darüber den Film: Sigurno mjesto (Safe place).
Der Film besticht in erster Linie durch seine sehr geometrischen Bilder. In fast jeder Einstellung gibt es mittig etwas, das als Tür, Fenster, Ausgang, Fluchtpunkt gesehen werden kann. Mal sind es tatsächlich Türen oder Fenster, manchmal aber auch grosse Bilder, oder Linien in der Architektur der Szenerie, die eine Öffnung bilden. Die Figuren sind oft am Rand des Bildes, hier, aber doch nicht ganz da. Spiegelungen sind ein weiteres Element, das den Fokus verschiebt, und das Ende vorwegnimmt, oder vorbereitet. Die Geschichte folgt den Brüdern vom ersten Suizidversuch, der Flucht aus dem Krankenhaus, zeigt die Versuche, die Situation, das Problem zu begreifen. Der Regisseur nutzt verschieden Mittel, um die Schichten der Problematik künstlerisch zu bearbeiten. So wechselt er relativ am Anfang des Films innerhalb einer Szene die Zeit – und Realitätsebenen, zusammen mit der visuellen Umsetzung entsteht daraus während der Filmgegenwart ein Hinweis auf die Filmzukunft.
Die streng komponierte Form kreiert eine Ebene, die das Unbegreifliche vielleicht begreiflicher macht.

 

Liebe

 

Ein Kurzfilmprogramm der Liebe in all ihren Formen gewidmet. In Euridice, Euridice von Lora Mure-Ravaud ist das am deutlichsten und am schönsten. Die grosse, leidenschaftliche Liebe zweier junger Frauen wird durch den plötzlichen Tod der einen jäh zerrissen. Zurück bleibt eine tiefe Wunde, auch wenn das Leben weiter geht. Immer wieder scheint die Geliebte aufzutauchen, den Neuanfang macht das zeitweilig fast unmöglich. Eine Geschichte in schönen Bildern, gut gespielt und ans Herz gehend.

Tako se je končalo poletje (That’s How the Summer Ended) von Matjaž Ivanišin ist da eher spröde. Ein Mann und eine junge Frau am Wasser sitzend, wortlos. Spannung scheint in der Luft zu liegen, bis ein anderer Mann kommt, und die Frau ihm folgt. Am Himmel schlagen Flugzeuge Kapriolen. Im ersten Moment wirkt der Film gar nicht, aber er wirkt nach, und das ist dann auch schön. In HEARTBEAT von Michèle Flury geht es um 4 Freundinnen. Sie campen zusammen, irgendwo im Wald, aber zwischen zwei von ihnen schient etwas zerbrochen zu sein. Eine echte Aussprache findet nicht statt, so vergeht eine Mädchenfreundschaft.

AirHostess-737 von Thanasis Neofotistos ist eine wilde, etwas absurde Geschichte. Eine ältere Stewardess, ganz frisch mit Zahnspange geschlagen, scheint irgendwie nicht gut drauf zu sein. Plagen sie Schmerzen wegen der Zahnspange? Als das Flugzeug in Turbulenzen kommt, erzählt sie fast schreiend ihre Lebensgeschichte, und dass die sterblichen Überreste ihrer Mutter im Flugzeug mitfliegen. Am Ende ein etwas verhuschtes Zahnspangenlächeln. Naja.

 

 

Der rote Teppich wird geputzt (c) ch.dériaz

 

Neokolonialismus

 

In der Kategorie extrem seltsamer Filme nimmt Nossa Senhora da Loja do Chinês von Ery Claver einen der vorderen Plätze ein. Nach eigener Aussage, am Ende der Vorführung, wollte der angolanische Regisseur „a fucked up fairytale“ machen. Nun, das sollte soweit gelungen sein. Der Film hat so viele Schichten, die auch nicht immer in der „richtigen“ zeitlichen Abfolge erzählt werden, dass man schwindlig werden kann. Eine chinesische Off-Stimme erzählt, im Stil eines Märchens, doch was erzählt wird ergibt zunächst keinen Sinn. Ein kranker Mann, leidend, seine Frau, die endlos Wasser, das von der Decke stürzt, in Eimern rausträgt, ein junger Mann auf der Suche nach seinem Hund und ein chinesischer Ladenbesitzer, der Madonnen-Figuren verkauft, sind die Hauptfiguren der Geschichte. Die christlichen Figuren, als Symbol des ersten Kolonialismus, das chinesische Viertel mit all seinen modernen Symbolen und seiner bedeutenden wirtschaftlichen Macht, der neue Kolonialismus, dazwischen Aberglaube und eine Politfarce. Schon spannend alles, sehr schön gedreht, sehr komplex und sehr fremd.

 

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Politischer Abend

 

Ein grosser Regisseur bekommt am Abend den Ehrenleoparden für sein künstlerisches Schaffen: Costa-Gavras. Gefragt nach seinem Tipp für heutige junge Regisseure und Regisseurinnen, empfiehlt er, mit einem Krimi anzufangen, und zu schauen, dass man dafür gute Darsteller findet.

Alles andere als ein Krimi ist der Film des Abends, spannend ist er trotzdem.
Annie Colère von Blandine Lenoir, spielt in Frankreich 1974, dem Jahr, bevor das Abtreibung legalisiert wurde. Als die Fabrikarbeiterin Annie, Mutter zweier Kinder, wieder schwanger wird, findet sie Hilfe und Unterstützung in einer der vielen Hilfsgruppen, die sich damals formierten. Die Gruppen verstehen sich als sowohl politisch wie auch praktisch. Freiwillige Helferinnen, Ärzte und Ärztinnen, zum Teil noch studierend, bieten Rat, Hilfe und führen Abtreibungen durch, illegal, aber nicht heimlich. Annie engagiert sich immer mehr in der Gruppe, und verändert damit auch ihr eigenes Leben. Ein schöner Film, mit einem tollen Darstellerinnenensemble, der ein wieder wichtiges Thema mit Gefühl aber ohne Pathos behandelt.

Das Festival geht in die Schlussgerade, und immer noch würde ich bei keinem Film auf einen Preis wetten.

 

 

#Locarno75_Familienstress

 

neue Stühle
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Die Stühle

 

Es sieht so aus, als habe sich das Festival zum 75. Geburtstag einen Satz neuer Stühle für die Piazza geschenkt. Bisher ist zumindest keiner während der Vorführung zerbrochen. Die ikonischen gelben und schwarzen Plastikstühle sehen auch irgendwie frischer aus, bequemer sind sie allerdings nicht gewordenen.

 

Sternenstaub

 

Bei einigen Filmen fragt man sich schon, was die Auswahlkommission sich beim Programmieren gedacht hat. Bei Fragments from heaven von Adnane Baraka zum Beispiel. Ausgehend von einem Meteoriten, der irgendwo in der marokkanischen Wüste aufgeschlagen ist, ist der Film eine lange, elegische Meditation über die Zeit, das Dasein und dessen Sinnlosigkeit. Eine Zeitlang sind die zerklüfteten, verwitterten Gesichter der lokalen Hirten, vor ebenso verwitterter und zerklüfteter Landschaft, reizvoll anzusehen. Ihre Suche nach Fragmenten des Meteoriten, ihre Gedanken, die fast gehaucht, als Off-Texte, über den Bildern liegen, das alles trägt einen Moment, nutzt sich aber rasch ab. Anfangs gibt es noch einen Parallelstrang, in dem an der Uni über die Beschaffenheit von Meteoriten geforscht, aber auch philosophiert, wird. Aber dieser Strang endet recht abrupt, dient nur als eine Art metaphysischem Stichwortgeber: Wir sind alle Sternenstaub und Leben ist ein Kreislauf.
So weit ist der Film nur etwas langweilig. Kurz vor Ende wird er dann tatsächlich ärgerlich, als eine minutenlange Sequenz mit eruptierender Sonnenoberfläche, kollidierenden Steinen im All und nerviger Musik eingeschoben wird, nur um dann doch wieder bei den Hirten in der Wüste zu landen. Der Kreis der sinnfreien Bewegungen geschlossen.

 

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Das Ich

 

Zur Belohnung dann ein ganz starkes, tolles Kurzfilmprogramm.
Rien ne sera plus comme avant von Elina Löwensohn sind drei Kurzfilme in einem, ein filmisches Triptychon, gedreht in 8- und 16 mm. Sie treibt dabei eine Art Schabernack auf visueller und akustischer Ebene. Texte, die wie surrealistische Gedichte klingen, begleiten suggestive Bilder, die das Ich infrage stellen, und die über den Schnitt einen dramatischen Bogen bekommen. Das ist schön und lustig und ein wenig befremdlich.
Dancing colors von M.Reza Fahriyansyah erzählt auf einfühlsame und heitere Art von der mangelnden Akzeptanz von Homosexualität in Indonesien. Ein islamischer Geistlicher verspricht den Eltern eines schwulen Teenagers, mittels Hokuspokus den bösen Djin zu exorzieren und den Jungen so zu heilen. Wäre die Geschichte nicht so federleicht und auch mit Witz inszeniert, wäre das gruselig.
Kinderzeichnungen, die auf halluzinogenen Drogen eine Party feiern. Anders kann man die Farb- und Fantasieexplosion in Mini-mini-pokke no okina niwa de von YUKI Yoko nicht beschreiben. Unfassbar gut!
Asterión von Francesco Montagner ist wieder ein 8 mm Film.
Ein Stier in der Arena: er schnauft, rennt gegen die Banden an, ein Abbild von Männlichkeit. Gedreht und geschnitten, dass der, nicht gezeigte, Kampf zu jeder Sekunde präsent ist. Der zweite Teil des Films zeigt das Abtasten und Zerlegen des toten Tierkörpers, um letztlich in eine Art Metamorphose mit dem ihn zerlegenden Menschen zu treten. Sehr spannungsgeladen und komplett ohne Ton, wodurch die Bilder noch näher gehen.
Douwe Dijkstras Spezialität sind filmische Satiren mit viel Greenscreen-Einsatz.
In
Buurman Abdi erzählt er die Geschichte seines Nachbarn, der als Kind aus Somalia nach Holland geflohen ist, dort dann im Gefängnis landet, um schliesslich als Kunstschmied wieder auf die Füsse zu kommen. Man sieht, wie Regisseur, Nachbar und Helfer Mogadischu nachbauen, in diesem Setting spielen, erzählen, erfinden. Ein Film, der Filmtricks verrät, eine ernste Geschichte erzählt und dabei extrem lustig ist.

 

Vater und Tochter

 

Tengo sueños eléctricos von Valentina Maurel ist ein Film voller unterdrückter Gefühle, mit einer Familie in Auflösung. Die komplett fehlende Impulskontrolle des Vaters hat vermutlich die Ehe zerstört, in der Folge sind alle Beteiligten, Katze inklusive, in emotionalem Chaos. Während die kleine Tochter bei jedem Gewaltausbruch des Vaters vor Angst in die Hose pinkelt, versucht ihre 16-jährige Schwester den Kontakt beizubehalten, sogar zu intensivieren. Ihre Gefühlswelt, altersbedingt, in komplettem Aufruhr kollidiert mit dem Freiheitswunsch des Vaters, der Sorge der Mutter und den Wünschen der kleinen Schwester. Hin- und hergerissen zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, alleingelassen und der Sicherheit durch die Eltern beraubt, lebt sie Schmerz, Auflösung und Ablösung und auch, ein bisschen, den Umgang mit Gewalt.

 

 

Komödien

 

Fürs Erste ist der Regen vorbei, einem entspannten Abend auf der Piazza steht also nichts im Weg.
Seit letztem Jahr wird der Locarno Kids Award vergeben. Dieses Jahr geht der Preis an die indische Regisseurin Gitanjali Rao. Eine Ehrung für ihr gesamtes Filmschaffen, vergeben von Kindern und Jugendlichen, die in speziellen Workshops und Schulung lernen, filmische Ausdrucksformen einzuordnen, zu begreifen und zu bewerten.
Gezeigt wird zu diesem Anlass ihr erster animierter Kurzfilm Printed Rainbow.  Rao hat für diesen Film jedes Einzelbild selber gemalt, weshalb die Herstellung dann drei Jahre gedauert hat – für 15 Minuten Film. Das Ergebnis ist optisch und inhaltlich ein schwebender Traum von grosser Schönheit und Tiefe.

 

 

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Danach die Komödie Last Dance von Delphine Lehericey. Ein freundlicher Film um einen Mann, der plötzlich seine Frau verliert. Während seine Kinder, Enkel und die Nachbarin einen Plan machen, damit sich immer jemand um ihn kümmert, löst er ein Versprechen ein, das er und seine Frau sich gegeben haben: Der, der zurückbleibt, macht das zu Ende, was der andere zum Zeitpunkt seines Todes angefangen hat.
In seinem Fall heisst das, sich einer Tanzgruppe aus Laien und Profis anzuschliessen, und an dem Stück weiter zu arbeiten, an dem seine Frau arbeitete. Das ist hübsch, und auch berührend. Allerdings sagt er nichts davon seiner Familie. Missverständnisse und die daraus entstehende Komik sind also vorprogrammiert. Wie bei vielen Komödien, ist die Diskrepanz zwischen Wissen und Nichtwissen der einzige Drehpunkt, um den herum sich die Komödie entwickelt, was doch irgendwie nicht genug ist, um wirklich komisch zu sein.
Dem Publikum hat es gefallen, es war der bisher lauteste und enthusiastischste Applaus.

 

 

Dekorative Wolken über dem See

 

 

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Die Hälfte des Festivals  ist bereits vorbei. Ob schon Leoparden dabei waren? Schwer zu sagen. Weiterhin ein Ärgernis:
Fehlende WLAN-Abdeckung auch in der, von einem Kapselhersteller betriebenen, Presse Lounge. Das ist wirklich ärgerlich, der Platz ist, besonders morgens, angenehm schattig, mit bequemen Sesseln, in denen man gut sitzen und schreiben kann. Nachdem Swisscom einer der Sponsoren ist, ist es wirklich mehr als unverständlich, warum es nicht machbar sein soll, ein flächendeckendes Netz anzubieten.

 

Haufenweise Lügen

 

Der Film Astrakan von David Depesseville schafft etwas unglaubliches: er zerstört sich mit den letzten Szenen selbst. Erzählt wird vom jungen Samuel, der bei einer Pflegefamilie, mit zwei eigenen Söhnen, im ländlichen Frankreich lebt. Auch wenn die Pflegeeltern mehrfach betonen, dass ihnen der Junge ans Herz gewachsen ist, machen sie ebenso deutlich, dass sie das staatliche Pflegegeld brauchen. Es herrscht ein verzweifelt-archaisches Klima, wo schnell zum Gürtel gegriffen wird, um zu strafen, wo der Onkel den Neffen, mutmasslich, missbraucht, die Mitschülerin ihre Promiskuität an Samuel auslebt, Kätzchen erschlagen werden, aber immer wieder eifrig zur Jungfrau Maria gebetet wird. Diese explosive Stimmung muss irgendwann zum Knall führen. Der Film erzählt all das in schönen, analog gedrehten, Bildern, manchmal meint man in einem alten holländischen Bild zu sein. Aber am Ende, nach dem Knall, wird noch einmal ein religiöser „Heiler“ gerufen, und in einer langen Folge von Bildern werden die unterdrückten, verheimlichten Geschehnisse – ein wenig – aufgedeckt, untermalt von Bachs Agnus Dei. Der Gipfel und die Zerstörung des Films ist erreicht, als in dieser (sinnlosen) Sequenz die Pflegemutter, namens Marie(!), ein schwarzes Lamm an ihre entblössten Brüste hält. Mehr Zerstörung eines bis dahin guten Films, der eben genau von all dem nicht Gesagten, nicht Gezeigten lebt, geht kaum noch.

 

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Krieg und Liebe

 

Das Kollektiv Total Refusal zeigt in Hardly Working 24 Stunden im „Dasein“ von nichtspielenden Figuren, oder Statisten, in einem Computerspiel. Diese Figuren, die eine Funktion, eine Aufgabe haben, sind trotzdem nur rudimentär programmiert, was zu teils absurden Momenten führt, aber vor allem als Metapher für die Ausbeutung der Arbeitskraft im Kapitalismus dient. Das ist gewitzt, intelligent und lustig.

Daron, Daron Colbert von Kevin Steen zeigt Darstellung und Selbstdarstellung des titelgebenden Daron. Der Film über den sehr übergewichtige Mann aus einem Industrieort nahe Detroit ist eine merkwürdige Mischung, nicht nur von Filmformaten, sondern auch von Sicht- und Erzählweisen. Nicht ganz überzeugend, aber einen Blick wert.

Heart Fruit von Kim Allemand erzählt von Liebe in all ihren Ausführungen. Oder eigentlich erzählt der Film eher von Versuchen, diese Liebe in einem heutigen, urbanen Kontext zu finden und zu halten. Schön sind die Bilder der sehr graphisch-architektonischen Umgebungen, in denen die Figuren agieren, auf der Suche nach etwas rundem, weichen, wenn man so will.

Paradiso,XXXI,108 von Kamal Aljafari ist ein schwieriger Film. Foundfootage von Soldaten, Kriegsgerät, Kriegseinsätzen, zum Teil montiert wie ein Industriefilm und unterlegt mit klassischer Musik. Das ist in weiten Teilen visuell und rhythmisch spannend, aber auch schwierig zu decodieren.

 

Apokalyptisch schön

 

Balıqlara xütbə (Sermon to the fish) von Hilal Baydarov wird es sicher nicht leicht haben in Kinos zu kommen, könnte sich aber zu einem gern gesehen Gast bei Festivals entwickeln. Eine Geschichte so künstlich wie künstlerisch, mit phantastischen Bildern einer desolaten Landschaft und einer wunderbaren, stimmigen Tongestaltung. Und dabei ist alles „unecht“, der Bildausschnitt macht aus aserbaidschanischen Ölfeldern eine tödliche Traumlandschaft, das gleiche gilt für die Bilder des Flusses mit Ölpfützen, die kargen Hügel und Steppen, aber eben auch für jeglichen Ton. Kein Geräusch, kein Dialogfetzen wurde während des Drehs aufgenommen. Und so wirken die beiden Figuren, ein aus irgendeinem Krieg heimkehrender Mann und seine, an einer seltsamen Krankheit leidende Schwester, wie die letzten Überlebenden nach der Apokalypse. Überstilisiert, verloren und trotzdem sehr schön. Hilal Baydarov bezeichnet sich als besessenen, schwierigen Menschen, wenn es um seine Filme geht, was wohl auch der Grund ist, dass er alles, Kamera, Regie und Sounddesign selber macht. Publikumsrenner werden solche Filme sicher trotzdem nicht.

 

 

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Eine Frau sieht Rot

 

Une femme de notre temps von Jean Paul Civeyrac ist ein klassisches Drama. Wenn man der ganz grossen Liebe nicht mehr vertrauen kann, dann nützt es auch nichts, dass man Polizeikommissarin ist und in einem tollen Haus lebt. Nachdem die Kommissarin (Sophie Marceau) befürchtet, dass ihr Mann eine Affäre hat, macht sie das, was man als Polizistin so tut: beschatten, hinterher schnüffeln, Beweise sammeln. Leider begegnet ihr dabei ein noch grösserer Verrat ihres Mannes, und ein Drama steuert unaufhaltsam seinem Höhepunkt und Ende entgegen. Der Film ist gut gespielt, gut gedreht, wartet mit einigen, nicht weiter geklärten, Schockeffekt(ch)en auf, ist aber sonst nichts besonderes. So gewinnt man eher keinen Publikumspreis.

#Locarno75_ Das Wochenende

 

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Wochenendwolken

 

Die Abkühlung hat nicht lange gehalten.
Zum Wochenende, mit noch mehr Leuten in Locarno, brütet wieder eine feuchte Hitze über der Stadt.

 

Väter und Söhne

 

Ein, trotz seiner Schwarzweissbilder, gleissender Film:
A Perfect Day for Caribou von Jeff Rutherford. Ein Film, in dem die Landschaft in all ihrer Weite, trotz engen 4:3 Formats, den Menschen dominiert, ameisenhaft wirken lässt. Zunächst ein Vater, der sich umbringen will, und eine Art Lebensbeichte für seinen, ihm entfremdeten, Sohn auf Band aufnimmt. Doch dann taucht der Sohn auf, begleitet wiederum von dessen kleinem Sohn.
Bei aller Schönheit der Bilder braucht man die monologartigen Dialoge zwischen den Männern, um zu verstehen. Dennoch erzählt, wenn man erstmal weiss, worum es geht, die Bildkomposition alles, was man über ihre Gefühle, ihre Gefühlswelt und ihre Beziehung wissen muss. Sie erzählen von Entfremdung, von Leben, die nicht ideal laufen, von grossen und kleinen Enttäuschungen.
Ein Film wie eine Hemingway Geschichte.

 

Despoten

 

Skaska (Märchen) von Alexander Sokurov fängt ziemlich cool an und enttäuscht dann recht schnell.
Ein schwarz-weiss gezeichneter Wartesaal zum Himmel (oder doch zur Hölle?), in dem multiple Versionen von Hitler, Stalin, Mussolini und Churchill Einlass zu Gott begehren. Sie schwafeln und schwadronieren, ganz in ihren jeweiligen Rollen. Mal reden sie miteinander, mal mit ihren Varianten.
Technisch und bildlich ist das spannend. Die Mischung aus statischer Hintergrundzeichnung und bearbeiteten Realbildern der Diktatoren, all das sieht nach viel Fleissarbeit am Computer aus. Aber es hilft nicht gegen die Langeweile, die sich bald einstellt, weil es einfach keine Entwicklung in der Geschichte gibt. Mehrmals vermeint man, das Ende des Films zu sehen, aber nein. Weder das Crescendo aus wabernder, gesichtsloser Masse, die wie eine Welle die Diktatoren fortzuschwemmen droht, noch der Einlass zu Gott, einer der Churchill-Figuren, unbeirrt geht es weiter.
Als das Ende dann – endlich – da ist, weiss man dafür nicht wieso.

 

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Wenn alle korrupt sind

 

Einer der stärksten Filme bisher ist: Yak Tam Katia? von Christina Tynkevych. Geschichte, Kamera, Spiel, alles greift ineinander und ist als Gesamtheit toll.
Und das, obwohl es weder eine einfache noch eine nette Geschichte ist, die da erzählt wird. Eine junge Unfallärztin, alleinerziehend, lebt auf engstem Raum mit ihrer Tochter, einer dementen Mutter und einer schlechtgelaunten Schwester zusammen. Ein schwieriges Leben, aber als ihre Tochter auf dem Schulweg angefahren wird, gerät das fragile Gleichgewicht komplett aus den Fugen. Ärzte müssen extra bezahlt werden, um das Kind zu behandeln, die Unfallfahrerin ist die Tochter der Bürgermeisterkandidatin, und ein finanzielles Angebot, den Fall nicht vor Gericht zu bringen, wird ihr nahegelegt.
Die Handkamera, ohne zusätzliches Licht, unterstreicht die Nervosität, die über allem liegt. Sie folgt, oder verfolgt die Figuren, bleibt oft hinter ihnen, um dann grazil um sie herumzutanzen. Extreme Unschärfen in der Tiefe unterstreichen zusätzlich die Konflikte, die sich zunehmend um die junge Ärztin bilden. Die Kamera bildet das hektische Tempo bei Einsätzen genauso ab, wie die zunehmende Verzweiflung. Einfach toll gemacht.

 

Gewitter

 

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Am Ausgang dann, Regen, Gewitter, schwarzer Himmel.
Die Sommerkleidung, die bis eben noch fast zu viel war, ist jetzt deutlich zu wenig. Gegen 21 Uhr ist der Himmel zwar immer noch schwarz, aber es tröpfelt nur noch. Die Piazza füllt sich, Mitarbeiter wischen die Stühle trocken. Der offizielle Teil findet allerdings im Fevi statt, mit Verspätung, was gar nicht gut ankommt. Ebensowenig, dass sich dort alle extra viel Zeit lassen, immerhin tröpfelt es draussen hin und wieder, Blitze zucken über den Himmel und einzelne Windböen drohen.

Truckerin

 

Endlich ist es doch so weit, Paradise Highway von Anna Gutto fängt an.
Der Film meint es gut, bleibt aber letztlich zu amerikanisch in seiner Dramaturgie und Figurenzeichnung, um wirklich zu begeistern. Juliette Binoche, ungeschminkt als Truckerin, mit Herz auf dem rechten Fleck und einer belastenden Vergangenheit, ein fieser Mädchenhändlerring, Morgan Freeman als eigentlich pensionierter FBI Mann, der dem Neuling zeigt, wie man Recht beugt, aber dabei moralisch siegt, und das kleine, starke Mädchen, das aus den Klauen der Menschenhändler gerettet wird. Dazu weite amerikanische Highways, coole Trucks, und neben Binoche weitere Truckerinnen, die natürlich zur Stelle sind, wenn es darauf ankommt.
Nicht schlecht, aber auch nicht so super. Egal, mit der Kulisse, den Regentropfen und den Blitzen macht es dann doch einen ganz schönen Samstagabend.

 

 

Leinwand von hinten (c) ch.dériaz

 

Kinohunger

 

Die Vorstellungen sind allesamt gut besucht, voll bis ausverkauft. Selbst gestern Abend, bei bedenklichem Wetter, waren 2.300 Menschen auf der Piazza und 3.000 zusätzlich im Fevi.
Es mag ein bisschen an der Festivalsituation liegen, dass wirklich alle Arten von Filmen zu allen Uhrzeiten so gut besucht sind. Aber Verantwortliche, also Kinobetreiber, Verleiher, sollten diesen Schwung mitnehmen. Zuschauer, die bei Festivals interessante Filme sehen, gehen nach Hause, erzählen davon, machen sozusagen gratis Werbung, nur um dann festzustellen, dass viele dieser tollen Filme  nirgendwo zu sehen sind.
Das ist sehr schade. Es besteht ein Markt dafür, man muss ihn nutzen.

 

Schülerproteste

 

Der thailändische Film Arnoln pen nakrian tuayang (Arnon, der Musterschüler) von Sorayos Prapapan ist ein höchst politischer Film. Korruption, Proteste, die hart niedergeschlagen werden, und traditionelle Regeln treffen im Mikrokosmos einer Schule aufeinander. Während der Schulleiter extra stolz ist, dass Arnold bei einer akademischen Olympiade eine Medaille gewonnen hat, führt die Lehrerin für Bürgerrechte ein restriktives Regime, in dem sie auch gerne zum Rohrstock greift. Persönliche Freiheit, Entscheidungen, die zu treffen sind, und immer wieder Korruption und übersteigerte Tradition führen auf der Strasse und in der Schule zu harschen Protesten. Inhaltlich eine spannende, politische Geschichte, filmisch etwas langatmig und hölzern.

 

Die Macht der Geschichten

 

Anlässlich der 20-jährigen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, war UN Botschafter Maher Nasser bereits gestern auf der Piazza Grande. Dort betonte er schon, wie wichtig es ist, Themen wie Menschenhandel ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Bei einem Publikumsgespräch heute unterstreicht Nasser das Gewicht, das Filme, als heutige Geschichtenerzähler, haben, wenn es darum geht, komplexe Themen an die Öffentlichkeit zu bringen. Geschichten können da ins Bewusstsein gelangen, Aufmerksamkeit schaffen und Veränderungen anstossen, wo Daten, Zahlen und Fakten nur eine Art Hintergrundrauschen erzeugen.

 

UN Botschafter Nasser und Giona A. Nazzaro

 

 

Ausdrucksformenvielfalt

 

Das Kurzfilmprogramm der vielen Formen und Formate an diesem Sonntag.
Aus einer Übung mit 16 mm-Kamera entsteht Serafina von Noa Epars und Anna Simonetti. Dazu eine Westernbildästiethik und eine zügige Montage, ergibt einen interessanter Versuch, der aber nicht komplett gelungen ist.

Quadratisches 1:1 Format gibt es in At little wheelie three days ago von Andrew Stephen Lee. Interessanter als das Bildformat sind die menschlichen Interaktionen. Ein Vater, der einen Internetclip für bare Münze nimmt, und loszieht, seine, sich vermeintlich in Gefahr befindliche, Tochter zu retten. Am Ende drischt ein wütender Mob auf das Auto des vermuteten Aggressors ein. Das Format bringt der Geschichte allerdings keinen wirklichen Mehrwert, ist aber als Fingerübung ganz nett. Richtig toll ist: Fairplay von Zoel Aeschbacher. Auch hier geht es um menschliches (Fehl)Verhalten. Drei verschiedene Szenarien mit völlig schwachsinnigen Wettbewerben werden parallel montiert. Die Situationen beschleunigen, und laufen immer mehr aus dem Ruder, bis jede der drei in einem grausigen Höhepunkt enden. Idee, Kamera und Schnitt in perfekter Einheit.

Luna que se quiebra sobre la tiniebla de mi soledad von Lucia Mariani ist ein No-Budget Projekt, was an sich erstmal nichts Schlechtes ist. Leider fällt es schwer, der Geschichte zu folgen, die auch mit diversen visuellen Spielereien aufwartet, deren Zweck innerhalb des Films sich nicht erschliessen.

Big bang von Carlos Segundo ist eine böse Geschichte. Der Kleinwüchsige Chico, der in Öfen steigt, um sie zu reparieren (oder um sie zu zerstören?), entkommt, im Kofferraum eines Autos reisend, als einziger lebend einer Massenkarambolage. Im Krankenhaus trifft er auf eine schwarze Hausangestellte, die ihren Job verlieren wird, weil sie bei ihrem Kind in der Klinik bleiben will. Zwei Ausgegrenzte der Gesellschaft und ein Big Bang. Kurz und böse.

 

Vorführkabine
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Geschmackssachen

 

Zur Einführung von Bianca Lucas‘ Love Dog erzählt der künstlerische Leiter Nazzaro, wie einhellig sie diesen Film in der Auswahl toll und bewegend fanden.
Das klingt vielversprechend.
Der Film allerdings erweist sich als sehr sperrig.
Ein junger Mann fährt scheinbar ziellos durch die Gegend, irgendetwas bedrückt ihn. Aber was? In sehr dunklen Bilder, bei denen auch nicht immer klar ist, wo die Schärfe liegen soll, erfährt man ganz langsam, dass sich seine Freundin umgebracht hat. Er trauert, er leidet, manchmal trifft er Freunde, oder redet mit Fremden in Internetforen. Kurze Einstellungen zeigen die Freundin. Aber so wirklich schafft man nicht einzusteigen in die Geschichte. Gar nicht so wenige Zuschauer verlassen vorzeitig den Saal. Beim Publikumsgespräch im Anschluss klärt sich wenigstens, warum der Film oft so rau und unfertig wirkt. Gedreht wurde während des Lockdowns, mit einem Minimalteam bestehend aus Regie, Kamera und dem (Laien)Darsteller. Auch ein Drehbuch im eigentlichen Sinn gab es nie, nur die Idee, dass die Figur mit ihrer Trauer umzugehen hat. Nun gut, dafür ist es nicht schlecht geworden, aber, dass das die Auswählenden des Festivals so umgehauen haben soll, ist schwer zu verstehen.

 

Mehr Gewitterwolken
(c) ch.dériaz

Und schon wieder ist der Himmel tief dunkel schwarz beim Rauskommen aus diesem dunklen Film.
Das sieht sehr schlecht aus für die Piazza heute Abend; bei allem Optimismus.