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Locarno #72 Regen und Rituale

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Tag 5, Halbzeit in Locarno, soweit ein eher erfreuliches, interessantes
Programm das Lili Hinstin zusammengestellt hat.

Am morgen heisst es ein Kurzfilmprogramm der Pardi di domani nachzuholen, selbst um halb zehn morgens und im glamourösesten Saal des Festivals ist es schon recht voll. In All the fires the fire von Efthimis Kosemund Sanidis, es geht um Rituale, um Jagd und um Konkurrenz, zwischen den Jägern, zwischen Brüdern. Die Geschichte ist archaisch, die wenigen Wortgefechte sind kurz und eher geknurrt. Ein Spielfilm, der eine dokumentarische Anmutung hat, distanziert, präzise, unparteiisch. Der schöne Animationsfilm Moutons, loup et une tasse de thé von Marion Lacourt ist ein surrealer Kindertraum. Während sich die Erwachsenen schlaffertig machen erschafft das Kind unter der Decke Wesen und Bilder, die im Verlauf ein seltsames Eigenleben bekommen, Träume, Ängste und knurrende Schafe, alles fliesst wunderbar ineinander. In Mom’s Movie von Stella Kyriapopoulos soll ein Kleinstkind die abschliessende Prüfung in einem Schwimmbecken ablegen, eine Prüfung, die sicherstellen soll, dass es sich im Notfall bekleidet im Pool über Wasser halten kann. Alles geht gut, bis bei der letzten Übung das Handy der filmenden Mutter ins Wasser fällt, und Trainerin wie Mutter Kind Kind sein lassen und sich nur um die Rettung des Mobiltelefons kümmern. Das Kind hat zum Glück den Kurs verinnerlicht. Rassentrennung und Vorurteile sind schwer loszuwerden, das zeigt in dichten 9 Minuten der Südafrikaner Tebogo Malebogo in Mthunzi. Ein junger Schwarzer wird Zeuge, wie eine Weisse vor ihrer Tür einen epileptischen Anfall erleidet, er kümmert sich, hilft die Frau in ihr Haus zu tragen. Als er nach einem Medikament suchen soll, fällt der Strom aus, im dämmerigen Haus trifft er auf einen Mann, der ihn, wie selbstverständlich, für einen Einbrecher hält, der Helfer entkommt nur knapp. Eine düstere Stimmung, die zeigt wie schnell und leicht Situationen durch festgefahrenen Muster aus dem Ruder laufen können.

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Mittlerweile versinkt Locarno in gewittrigem Starkregen, Schirme und Regencapes sind das gesuchteste Accessoire, die Schuhe nimmt man am besten in die Hand, am Mittag ist es dunkle wie am Frühabend, sich ins Kino retten ist da durchaus wörtlich zu nehmen.

Terminal Sud von Rabah Ameur-Zaïmeche ist ein starker Film, der zeitweilig schwer auszuhalten ist. In einem fiktiven Land irgendwo am Mittelmeer verbreiten bewaffnete, uniformierte Gruppen Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Manche sind einfach Verbrecher, manche Polizisten oder Armee, Rebellen oder Miliz, keiner kennt sich wirklich aus, wodurch der Terror, den sie verbreiten umso grösser wird, da er nicht abzuschätzen ist, da er völlig willkürlich ist. Mittendrin ein Arzt, der eigentlich nur versucht in diesem Chaos seiner Arbeit nachzugehen und zu überleben. Nachdem er entführt und an einen geheimen Ort gebracht wird, um einen angeschossenen Mann zu versorgen, gerät er ins Visier der Machthaber. Politische Willkür, Entführung, Mord und Folter, Einschüchterung, führen schliesslich zu Flucht, nicht nur im Film, aber das ist eine andere Geschichte, die allerdings mehr als deutlich hier mitgemeint ist. Der erste Film so weit, bei dem es frenetischen Applaus gab.
Gleich danach, der zweite, der das Publikum mitgerissen hat: The Last Black Man in San Francisco von Joe Talbot. Zwei junge Schwarze leben am Rand von San Francisco, da wo es nicht schön, nicht touristisch poliert und gentrifiziert ist. Für die Strassengang aus der Nachbarschaft sind sie die Nerds, die Seltsamen, an Kunst und Kultur interessiert, eben anders. Ein schönes altes Haus im Zentrum, das angeblich vom Grossvater des einen eigenhändig gebaut wurde, wird zum Traum, zur Obsession fast, und als es eines Tages leer steht, wollen sie es übernehmen, egal ob regulär als Käufer oder als Hausbesetzer. Ein Film vom Träumendürfen, von Loyalität, Freundschaft, Selbstverständnis und Selbstwert, warmherzig, witzig und melancholisch. Der Film hat beim Sundance Festival den Preis für die beste Regie bekommen, zu Recht.

Aufgrund des Starkregens wandert nicht nur die Mehrheit der Zuschauer, sondern auch künstlerische Leitung und Moderatorin von der Piazza Grande ins grosse Fevi Kino. Der Südkoreanische Schauspieler SONG Kang-ho bekommt einen Ehrenleoparden und wird lautstark bejubelt.

In Weltpremiere dann Instinct von Halina Rejin, ein Film, der wirklich unter die Haut geht. Eine junge Psychologin übernimmt die Behandlung eines psychopathischen Sexualstraftäters. Doch so souverän, wie sie gerne erscheinen möchte, ist sie nicht und so gerät sie in eine immer fataler werdende Spirale von Gefühlen, fleissig befeuert durch ihren manipulativen Patienten. Vieles bleibt angedeutet in diesem beeindruckenden Erstlingsfilm, die Spannung und Grausamkeit, die die Figuren erleben, übertragen sich auf beunruhigende Weise, durch das intensive Spiel der Schauspieler in den Kinosaal. Am Ende sitzt man fröstelnd und erleichtert im Saal.

 

 

Realfiktion

Tag 6 beginnt mit einem seltsamem, surrealen Film. Lengo Weiyang lengmo (The cold raising the cold) von RONG Guang Rong. Der Film entwirft eine gefühlskalte, graue Welt, mit Menschen, die zwar reden, aber nicht wirklich in Verbindung zu treten scheinen. Dazwischen taucht immer wieder plötzlich und nur von hinten zu sehen ein Mörder auf, ersticht jemanden, das Bild verwandelt sich, bekommt die Ästhetik eines Handyvideos, als würde jemand das Geschehen mitdrehen. Die Szenen sind lose verwoben durch den gemeinsamen Ort oder durch Begegnungen der Figuren, dazwischen stromern erst Kühe, dann ein Schwein durch den Ort, surreal, etwas befremdlich, hat aber dennoch Charme.

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Und dann das bisher beste Programm der Pardi di domani. Marée von Manon Coubia erzählt von Pistenraupenfahrern in den Alpen, eine laute, raue Mannschaft, die sich auf den Weg macht jeder mit seinem Gefährt. Doch plötzlich wird der Schnee zum Schneesturm und der Ausspruch des Einen „der Berg macht, was er will“ wird zur dramatischen Wahrheit. Sehr schön und ruhig in 35 mm gedreht, das Schneegestöber im Dunklen erscheint wie ein abstraktes Gemälde. In Poslednja slika o ocu (The last image of Father) von Stefan Djordjevic reisen Vater und kleiner Sohn per Anhalter quer durch ein graues, verregnetes Serbien, es wird die letzte Reise sein, die beide zusammen unternehmen. Ein Abschied im Krankenhausflur, anrührend und trotzdem nicht kitschig, ein kleiner stiller, schöner Film über Liebe und Verlust. L’azzurro del cielo von Enea Zucchetti erzählt mit Formen, Bildern und Rhythmus von einer Welt, die zerfällt. Türme, verlassen Fabriken, leere Fensterhöhlen, Fabrikschlote, Überbleibsel einer Zivilisation, am unteren Bildrand, manchmal nur halb zu sehen, spaziert ein Mann, bis auch er, wie der Rest des Lebendigen, in einer Türöffnung verschwindet. Wunderbar gedreht, geschnitten, sodass Form und Inhalt eine konsequente Einheit bilden. Ähnlich spielt All come from dust von Younes Ben Slimane mit Formen und Bildern. Staub und Sand, ein verlassener Wüstenort, in dem ein einzelner Mann Ton mit Wasser mischt, verputzt, Ziegel brennt. Eine tiefe Ruhe liegt auch hier über den Bildern und den Bewegungen. Seh schön. Witzig und grell dagegen Frisson d’amour von Maxence Stamatiadis, der den lockeren Umgang einer Grossmutter mit modernen Kommunikationsmedien porträtiert, gleichzeitig aber auch die Vergangenheit und den verstorbenen Grossvater mit einzubauen schafft, ohne den Faden zu verlieren.

 

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Zur Abwechslung mal Atempause und kurzes Sitzen in der Sonne, bevor es dann doch wieder ins Kino geht.
Ivana cea Groaznica (Ivana die Schreckliche) von Ivana Mladenović. Was macht eine Regisseurin und Schauspielerin, um sich selbst zu therapieren – sie schreibt ein ausgefeiltes Drehbuch, fährt von Bukarest, wo sie lebt, ins heimatliche Kladovo, und setzt ihr Drehbuch mit ihrer Familie und ihren Freunden um. Es spielen also alle sich selbst, aber nach dem Buch der Regisseurin, die natürlich auch mitspielt. Was dabei entsteht, ist extrem lustig, manchmal nah am Chaos, dabei aber gut durchdacht und toll gedreht. Realität und Spiel purzeln munter durcheinander und alles tanzt nach Ivanas Pfeife, wenn das keine prima Therapie ist.

Auf der Piazza Grande gibt es mit Camille von Boris Lojkine einen Spielfilm nach realen Ereignissen. Erzählt wird das letzte Jahr der französischen Fotojournalistin Camille Lepage, die 2014 in Zentralafrika erschossen wurde. Ein starker, aber auch grausamer Film, der die Realität des Bürgerkriegs nicht ausspart. Aber hauptsächlich erzählt er von einer jungen Frau, die an das geglaubt hat, was sie machen wollte, die der Welt zeigen wollte, was passiert in Zentralafrika, die aufrütteln und informieren wollte. Die tolle Kameraarbeit, kombiniert mit einer beeindruckenden Hauptdarstellerin, einigen Originalfotos der Journalistin und ab und zu Nachrichtenbildern ergeben einen Film, der nachdenklich macht, und trotzdem spannend unterhält.

Und als wäre das alles noch nicht genug, schwebt der fast volle Mond kitschig über  Locarno.

Locarno #72 Regen, Blut, Beton

Tag drei, die Wolken hängen drohend über Locarno, im Kino dagegen Sommerstimmung in einer amerikanischen Kleinstadt. Ham on Reye von Tyler Taormina ist ein erstaunlicher Erstlingsfilm. Gut das erste Drittel des Films ist überwiegend in Nah- und Detailaufnahmen erzählt, Gesichter, kurze Bewegungen, sehr schnell versteht man, eine Stadt bereitet sich vor. Dann sticht eine Gruppe hervor aus der Vorbereitung, mehr und mehr fokussiert sich der Blick auf eine Gruppe etwa 17-Jähriger. Bewegungen, Gesten, Ausdrücke, kurze Dialogfetzen, eine Art Ritual steht bevor. In manchen Momenten wirkt der Film, als wollte er in experimenteller Form vom Balz- und Initiationsritus unter Teenagern berichten. Bis die Jugendlichen plötzlich wie magisch aus dem Film verschwinden. Der Film wechselt ab da etwas seine Form, bleibt aber in fast abstrakten, seltsam entrückten Betrachtungen des Geschehenen im Ort, und wandelt sich zu einer Allegorie vom Verlassen des Gewohnten, vom Erwachsenwerden, vom ritualisierten Zwang das Nest zu verlassen. Eigenwillig, lustig, und eine originelle Erzählform.

Vor dem grossen Fevi Kino eine unüberschaubare Menge Menschen, die sich langsam in den 2800 Plätze grossen Saal schiebt, um Yokogao (A girl missing) von Koji FUKADA zu sehen. Der Film erzählt wie mediale Sippenhaft, verschmähte Liebe und gedankenlos Erzähltes ein Leben komplett aus der Bahn werfen können. Zunächst spielt der Film in zwei Zeitebenen, eine Frau lässt sich eine neue Frisur machen, beiläufig hört man, dass sie ihr Leben ändern will. Dann die gleiche Frau als Krankenpflegerin bei einem Hausbesuch, sie scheint die personifizierte Hilfsbereitschaft und Nettigkeit zu sein, die Andere hingegen wirkt gehetzt, depressiv, einsam. Die beiden Zeitebenen nähren sich, bis sich der Hintergrund klärt: der Neffe der Krankenpflegerin hat eine Verwandte, der von ihr Gepflegten, entführt und möglicherweise vergewaltigt. Und in kleinen, unauffälligen Schritten bricht alles in sich zusammen. Sensationell in dieser, fast möchte man sagen, Doppelrolle: Mariko TSUTSUI, die beide Seiten so perfekt darstellt, dass man sie von einer Figur zur anderen fast nicht wiedererkennt.
Merveilles à Montfermeil von Jeanne Balibar dagegen ist nur schlecht. Der Film will etwas wie eine absurde Politkomödie sein, ist dafür aber weder absurd genug, noch komisch genug, dafür chargiert eine grosser Stab an sich sehr guter Schauspieler 100 Minuten lang von der Leinwand runter; in der Pressevorführung haben ab etwa der 15. Minute Zuschauer den Saal verlassen.

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Bereits um 11 Uhr morgens wurde angezeigt, dass die Piazza Grande am Abend für den neuen Tarantino Film ausverkauft ist. Das Gedränge an den Kontrollstellen war entsprechend beeindruckend, obwohl weiterhin schwere, dunkle Wolken jeden Moment mit Regengüssen drohten.

 

Dunkle Wolken, volle Piazza
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Zunächst aber wurde mit Claire Atherton eine Filmcutterin mit einem Leoparden geehrt. Selten genug kommt das vor und um so erfreulicher war es dann. Während ihrer Rede fing es zaghaft an zu tröpfeln, steigerte sich bei der, kurzen, Präsentation des Films, und pünktlich mit den ersten Bildern von Once uopn a time…. in Hollywood fing es dann an kurz aber heftig zu regen. Etwa 8000 Menschen raschelten mit Regenpelerinen, keiner schien auch nur annähernd willig zu sein den ergatterten Sitzplatz wieder aufzugeben. Belohnt wurde das mit einem knallbunten, schrägen Tarantino Film, randvoll mit Zitaten, Referenzen, Selbstreferenzen an allen Ecken, Witz, Tempo, einem lockeren Umgang mit historischen Fakten und, ja, auch viel Blut.
Und der Regen war dann doch nicht so schlimm.

 

Liebespaare

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Tag 4: Locarno gleicht mehr und mehr einer Waschküche, die Wolken hängen so tief, dass man meint, sie berühren zu können, dabei scheinen die Temperaturen täglich ein wenig zu steigen. Höchste Zeit gleich nach dem Frühstück wieder in einem Kino zu verschwinden.

Die dritte Aufführung von Douze Mille (12.000) von Nadège Trebal ist ausverkauft, eine Zusatzvorstellung bereits geplant.
Die Beziehung der Figuren und der Rhythmus des Films scheinen einem Tanz zu folgen, einem flamencohaften, erotisch aufgeladenem Anziehen und Wegstossen, einem Gleichgewicht, das darauf basiert, dass jeder die Schritte kennt, und trotzdem die Freiheit hat, eigene Figuren einzubringen, sofern er die Regeln befolgt. Dass dabei dann eine Geschichte entsteht, die von Leidenschaft, Geld und sozialen Problemen erzählt, und dennoch die tänzerische Leichtigkeit erhalten bleibt ist unbeschreiblich elegant und unbeschreiblich schön.

Quer durch die Stadt und in die nächste Warteschlange für Bergmál (Echo) von Rúnar Rúnarsson. Kein Tanz eher einer Meditation über die Dinge des Lebens. Island in den Tagen vor Weihnachten bis kurz nach Silvester, einzelnen statische Totalen zeigen wie auf einer Bühne Lebenssituation, von Tod bis Geburt, von Streit bis Weihnachtssingen, Beiläufiges und Wichtiges, ein Bilderbogen des Seins, nicht speziell isländisch eher universell. Ein bisschen langweilig, aber auch irgendwie sehr beruhigend.

La Paloma y el Lobo von Carlos Lenin beeindruckt mit wunderschönen Bildern, verwirrt aber mit seiner Liebesgeschichte. Paloma und Lobo leben an irgendeinem Stadtrand, ein verfallenes Industriegebiet, zerstörter Beton, Eisenbahngleise, Lärm, Schmutz, keine Infrastruktur, kein fliessendes Wasser in der Wohnung. Eine Schwere scheint zusätzlich auf ihrer Beziehung zu liegen, dass beide dann noch ihr Jobs verlieren, macht die Probleme nicht geringer. Ein fast einsilbiger Film, spärliche Dialoge dafür mit Off-Texten, die zu Träumen und Erinnerungen zu gehören scheinen, insgesamt mehr Stimmung als Geschichte.

 

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Am Abend keine Ehrenleoparden auf der Piazza. Dafür gibt es zwei Komödien hintereinander, Notre Dame von Valérie Donzelli und Die fruchtbaren Jahre sind vorbei von Natascha Beller. Beide Filme handeln von Frauen, die Beruf, Karriere, Kinder und altes, neues oder zu findendes Liebesleben jonglieren. Beide wurden eingeführt, als wären das endlich die lang ersehnten „weiblichen“ Komödien, bei denen ein anderes Frauenbild zelebriert wird, aber nein, es wäre auch zu schön gewesen. In beiden Fällen sind die Frauenfiguren irgendwie hektisch, chaotisch, überdreht, wollen vieles und verzetteln sich dabei häufig, und in beiden Filmen schwebt immer im Hinterkopf der sprichwörtliche Märchenprinz, der verlässlich dann auch eintrudelt. Einsprengsel von Zauberei, Sing- und Tanzeinlagen, aus dem Radio kommende Kommentare der Situation machen das dann auch nicht wett.
Die Geschichten sind weder “modern”, noch wirklich lustig, egal wie überdreht die Figuren sind. Sie tauschen lediglich Kirche – Kinder – Küche gegen Kinder – Karriere – Kamasutra.

 

Locarno #72 Katzen, Hunde, Cockpit

Tag zwei, der erste Film im Programm Cineasti del Presente, Love Me Tender von Klaudia Reynicke. Ein junges Mädchen und ihre Eltern, zunächst scheint sie sich einfach nur von irgendetwas zu erholen, aber schnell wird klar, in ihrem teils brutalen, teils nur abweisendem Verhalten steckt mehr, und sie ist allein und unverstanden mit ihrem Problem. Als erst die Mutter stirbt und wenig später der Vater sie einfach allein zurücklässt, wird ihr Wahn offenbar. Mit unglaublicher Intensität spielt Barbara Giordano, in der Enge des Hauses, das zusehends mehr vermüllt, eine Art Tanz mit den inneren Dämonen. Nur ganz langsam und über den ganzen Film in Häppchen verteilt, erschliesst sich die Geschichte hinter ihrem Wahn. Das dominierende Blau in Details, aber auch in ihrem Jumpsuit, in dem sie sich zu verstecken scheint, runden diesen tollen Film ab.
Nach so einem guten Start geht es entspannt zu den Pardi di Domani. Anfangs noch recht lustig und originell, flacht Dossier of the Dossier von Sorayos Prapapan im Verlauf doch etwas ab. Erzählt wird in schwarz-weiss Bildern von der mühsamen und erfolglosen Suche nach finanzieller Unterstützung und einem Produzenten für einen Kurzfilm. Die gezeigten Mühen und Rückschläge entsprechen auf jeden Fall der Realität und werden mit Witz dargebracht. Ahlou al kahf von Fakhir El Ghezal ist Teil eines Projekts zum Sichtbarmachen von Migrationsproblematik. Das 8mm schwarz-weiss Material ist interessant, die darüberliegenden Kaligraphien, ein Gedicht, ein Raptext verwirren etwas, und ab der Hälfte verliert der Film seine Form, wird inkohärent und verläuft sich.Der Animationsfilm Umbilical von Danski Tang ist unterlegt mit einer Aussprache zwischen Mutter und Tochter, da diese auf Chinesisch stattfindet, verlieren die sehr schönen Animationen ein bisschen, weil man gleichzeitig relativ viel Text zu lesen hat. Interessant ist der Film trotzdem. Otpus (Leave of Absence) von Anton Sazonov zeigt einen Mann, dessen Lebenswelt auseinanderbricht, Vater gestorben, geschieden, mittellos, alles in sehr schönen, ruhigen und düsteren Bildern. Eine trostlose Welt, aus der sich der Protagonist im Bus Richtung Horizont verabschiedet. Nachts sind alle Katzen grau von Lasse Linder: ein Mann und seine zwei Katzen, ein Exzentriker, der mit und für seine Tiere zu leben scheint. Mit den Katzen auf den Schultern im Skiressort oder mit den Katzen im Auto auf dem Weg zum Deckkater und selbstverständlich ist der stolze „Katzenvater“ bei der Geburt der Kätzchen nervös dabei und unterstützt mit leisen „pressen, pressen“ – Anweisungen seine werfende Kätzin. Skurril und lustig, hübsche Katzen inklusive.

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Nach kurzer Pause, zurück zu den Langfilmen und auf Katzen folgen Hunde in Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter. Der essayistische Dokumentarfilm erzählt von Moskauer Strassenhunden, deren bekannteste Vertreterin die Hündin Laika war, die als erstes Lebewesen ins All geschickt wurde. Die exzellente Kamera folgt einigen Strassenhunden im Hier und Jetzt auf Moskaus Strassen, kombiniert aber die Bilder immer wieder mit Archivbildern aus der russischen Raumforschung, wo nach Laika noch weitere, von der Strasse geholte, Hunde für Einsätze im All missbraucht wurden. Bis auf kurze Passagen in denen mit sonorer russischer Stimme die Geschichte und Geschichten aus dieser Zeit erzählt wird, bleibt der Film kommentarlos. Einige Szenen sind aus verschiedenen Gründen nichts für empfindliche Gemüter, aber insgesamt ist Space Dogs ein grossartiger Film.

Hilary Swank
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Am Abend strahlen drei Frauen von der Bühne und der Leinwand auf der Piazza Grande um die Wette: Lili Hinstin, Moderatorin Giada Marsadri und Ehrenleopardpreisträgerin Hilary Swank.

 

Mit der Weltpremiere der Deutsch-Österreichischen Koproduktion 7500 von Patrick Vollrath kommt grosses Actionspektakel auf die Leinwand. Der Nachtflug von Berlin nach Paris wird kurz nach dem Start von Islamisten in seine Gewalt gebracht. Besonders ist der Film, weil konsequent alles ausschliesslich im Cockpit des Flugzeugs stattfindet. Das erlaubt eine sehr dichte Erzählweise einer Geschichte, die im Kino schon oft erzählt wurde. Der Film fokussiert auf die Beziehung zwischen den Figuren, alles, was ausserhalb des Cockpits stattfindet, ist entweder über einen kleinen Videomonitor oder gar nicht zu sehen. Die Aussenwelt wird unerheblich, es zählt nur der direkte Konflikt, das psychologische Duell. Abgesehen davon, dass wie bei fast allen solchen Storys gleich zu Anfang die Figuren auszumachen sind, die den Film auf keinen Fall „überleben“ werden, ist der Film extrem packend, und erfreulich wenig flach in der Zeichnung seiner Hauptfiguren.
Ein regenfreier Festivaltag endet wie er begann: erfreulich.

Locarno #72 Liebe und Krieg

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Warum nicht das Festival mit einem Film aus der Reihe Open Doors anfangen? In diesem Jahr den Ländern Süd-Ost Asiens gewidmet.

 

Halb elf Uhr morgens vor dem Kino, eine riesige Menschenschlange, die minütlich länger wird, und auf die Fahrbahn schwappt. Aber auch das ist Locarno, obwohl städtische Busse dort fahren, gibt es kein wildes Hupen, sondern vorsichtiges Vorbeischieben.
Die Vorstellung des Laotischen Film Huk ni thee Viengchan (Vientian in Love) ist ausverkauft. Eine Gemeinschaftsproduktion der Regisseure Anysay Keola, Phanumad Disattha, Vannaphone Sitthirath, Xaisongkham Induangchanthy, die in fünf Episoden Varianten zum Thema Liebe in Viengchan erzählen. Der gesamte Film, immerhin 95 Minuten lang, entstand für nur 5000 US $, und die meisten Beteiligten waren Anfänger. Nichts davon sieht man auf der Leinwand. Die einzelnen Episoden sind gut gemacht, witzig, schräg manchmal und zeugen von grosser Experimentierfreude. Ein fröhlicher Einstieg in den Tag.

Eher Ernst wird es bei der ersten Vorstellung der Pardi di domani, die Kurzfilme werden in diesem Jahr nicht getrennt nach national und international gezeigt, trotzdem wird es weiterhin für jeweils beide Gruppen eigene goldene und silberne Leoparden geben. Pyar pyar nyo yaung maing ta-lei-lei (Cobalt Blue) von Aung Phyoe erzählt von der Kindheit des Regisseurs in den späten 90er Jahren in Myanmar, damals noch Burma. Sehr sensibel arbeitet er die Sicht des kleinen Jungen heraus, der von den Änderungen in der Welt der Erwachsenen betroffen ist, ohne sie wirklich verstehen zu können, und so alleine gelassen wird mit Verwirrung und Schmerz. Auch Dejan Barac erzählt von seiner Familie in Mama Rosa. Sehr rau, sehr direkt, unverblümt und persönlich zeigt sein Dokumentarfilm eine fast hermetische Welt kroatischer Einwanderer in der Schweiz. Douma taht al ard (Douma underground) von Tim Alsiofi zeigt den fast beiläufigen Horror während eines Bombardements in Syrien. Zunächst streift die Kamera durch eine Strasse, als es aber Fliegerwarnung gibt, rennen alle vor der Gefahr in ihre Keller. Die subjektive Kamera macht den Zuschauer zum Beteiligten, lässt den Schrecken und die unmittelbare Gefahr mitfühlen, zeigt aber auch Menschen, die sich auf fast lakonische Art in diese lebensgefährliche Situation einfinden. Eine alte Dame, ein Busbahnhof, Warten und Abfahren, daraus macht Kim Allamand in Terminal eine bewegende Geschichte über Einsamkeit und Verlorensein, aber auch von latenter Hoffnung. Wunderbar ruhig und in fabelhaft-spannenden Bildern erzählt, eine Freude.

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Ein kurzer Weg durch die Sonne und schon wieder Schlangestehen vor dem nächsten Kino. Fi al-thawar (During Revolution) von Maya Khoury, entstand zwischen 2011 und 2017 in Syrien, von den Anfängen der versuchten Revolution gegen das Assad Regime bis zu einem Konflikt, dessen Komplexität sich dem Verständnis entzieht, der aber das Land mittlerweile fast völlig zerstört hat. Während am Anfang des Films kleine Pfadfinder auf ein sozialistisches Syrien eingeschworen werden, endet der Film mit Beinen, die in der Nacht eine staubige Strasse entlang hasten, auf der Flucht vor Zerstörung, aber ohne sichtbares, denkbares Ziel. Dazwischen eine Gruppe junger, säkularer Intellektueller, ihre anfänglichen Versuche Strukturen in den Widerstand zu bringen, weichen mit der Zeit den immer komplexer werdende Differenzen. Aus der Revolution wird ein Bürgerkrieg, mit unscharfen Grenzen, mit unklaren Positionen, ein Jeder gegen Jeden. Mit der physischen Zerstörung des Landes, zerbröckelt auch der Mut, alles ist verloren: das Land, das Zuhause, die Familie, die Freundschaften, das Leben. Der Film ist anstrengend, sehr anstrengend sogar, aber neben dem, was inhaltlich vermittelt wird, ist er auch einfach ein durch Schnitt und Dramaturgie beeindruckender Dokumentarfilm.

Die Stühle der Piazza
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Bereits am Eröffnungsabend sind auf der Piazza Grande Stühle zu Bruch gegangen, manchen sieht man schon an, dass sie nicht mehr lange durchhalten werden, aber alle brechen unweigerlich mit dem gleichen lauten Knack, oft gefolgt von einem leichten Aufschrei des „abgeworfenen“ Zuschauers.


Am Abend dann erste Ehrungen auf der Piazza Grande, das Produzenten Kollektiv Komplizen Film bekommt einen Ehrenleoparden für seine Produktionsleistungen.

Und gleich eine Neuerung im abendlichen Ablauf: ein Kurzfilm vor dem Abendfilm, New Acid von Basim Magdy. Eine irre lustige Collage in der Zootiere per SMS miteinander kommunizieren, mal philosophisch, mal absurd, wie Chats nun mal sind. Eine Reflexion über Kommunikation und Selbsterkenntnis – nicht nur tierische.
La fille au bracelet von Stéphane Demoustier ist dagegen ein eher konventionelles Gerichtsdrama, gut gespielt, die Grundidee der Geschichte durchaus spannend, aber eben sehr, sehr dialoglastig. Interessant vielleicht, dass der verhandelte Mord an einer jungen Frau, ausschliesslich über die Gerichtsverhandlung erzählt wird, keine Rückblenden, der Zuschauer weiss von Anfang bis Ende nicht mehr als die Figuren im Film, und mag sich am Ende fragen, ob die Angeklagte Schülerin nun schuldig ist oder nicht.

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Ebenfalls neu in diesem Jahr, im Zuge der Abfallvermeidung, der sich das Festival schon lange verschrieben hat, können Zuschauer jetzt nur noch via Festival App für den Publikumspreis abstimmen. Heisst, man braucht nicht nur ein Smartphone, sondern auch die entsprechende, freie App, man muss Geolocation freigeben, und man muss sich zurechtfinden, wie das Abstimmen vonstattengeht, und das alles immer etwa um Mitternacht herum. Hoffentlich funktioniert dieses neue System.

Locarno #72 Wünschen erlaubt

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Der Regen war dem Festival auf jeden Fall gewogen, statt die Eröffnung zu stören, hat er sich am Spätnachmittag verzogen.

Lili Hinstin, Marco Solari
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Festivalpräsident Marco Solari eröffnete wortgewaltig, politisch und kämpferisch und wünscht sich für das Festival von Locarno, in Zeiten der schamlosen Lügen durch und mit Bildern und Inhalten, einen Ort der Wahrhaftigkeit, der Sicherheit in unsicheren Zeiten. Bundesrat Alain Berset wünscht sich gar das Subversive des Kinos auf die Leinwand. Die kommenden zehn Tage werden zeigen, ob und wieviel die Filme einen, aufrütteln, verwirren und beeindrucken können.

 

Einen starken, fröhlich stimmenden Eindruck scheint die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin auf ihr Team schon mal gemacht zu haben, wer von ihr spricht, tut das mit einer fast leuchtenden Begeisterung. Gewünscht ist, dass sie das Festival erneuert, verjüngt, für eine junge Generation attraktiv macht, ohne die alte zu vergrämen. Vermutlich ist das viel weniger schwierig, als es klingt.
Hinstin war am Eröffnungsabend kompetent, freundlich, witzig und entspannt, wechselte vom muttersprachlichen Französisch ins Italienische, und liess sich auch durch die Suche nach dem richtigen Wort nicht aus dem Konzept bringen. Ihr Programmkonzept soll auch ihrem Wunsch nach Vielfalt gerecht werden. Auffällig ist schon mal, dass die Filme dieses Jahr auch aus weniger bekannten Filmregionen stammen.

Eine gute Wahl war es auf der Piazza Grande mit Magari (Schön wär’s) von Ginevra Elkann zu eröffnen, einer Familiengeschichte, die ohne Kitsch und fade Klischees auskommt. Stattdessen bietet der Film drei junge Darsteller, die die grosse Leinwand dominieren und einfach umwerfend sind. Facettenreich und glaubwürdig spielen sie drei Geschwister zwischen ihren geschiedenen Eltern, zwischen der neuen Familie und der alten, zwischen Kindheit und zarten Erwachsenwerden, in einer Zeit also, als das Wünschen noch geholfen hat.
Ein schöner Start für die “Leopardenjagd”  war das auf alle Fälle.

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Locarno#72 Start vor dem Start

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Seit Montagabend läuft bereits das Prefestival auf der Piazza Grande in Locarno, feierlich-fröhlich und bei freiem Eintritt wurden Festival und Leinwand von Festival Präsident Marco Solari, Künstlerischer Leiterin Lili Hinstin und Moderatorin Giada Marsadri eingeläutet.

Die Piazza Grande am Montagabend

Ab Mittwochabend wird es dann ernst, bleibt zu hoffen, dass die angekündigten Gewitter vielleicht doch ausbleiben.

Locarno_2019 Eine kleine Vorschau

Locarno #72
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In knapp drei Wochen ist es soweit, am 7. August wird im Tessin die
72. Ausgabe des Filmfestivals Locarno mit dem Film Magari der italienischen Regisseurin und Produzentin Ginevra Elkann, eröffnet.

Nach drei Männern übernimmt mit Lili Hinstin wieder eine Frau die künstlerische Leitung des, nach Venedig und Moskau, ältesten Filmfestivals.

Auch in diesem Jahr werden – fast – allabendlich auf der Piazza Grande Ehren-Leoparden vergeben. In mehr oder weniger grosser Zeremonie vor den Abendfilmen bekommen, unter anderen, der Schweizer Regisseur und Drehbuchautor Freddy Murer, der Südkoreanische Schauspieler SONG Kang-ho, die Schauspielerin Hilary Swank und, begleitet von einigen seiner Filme in der Mitternachtsschiene der Piazza, John Waters, eine Leoparden Statuette.

Die für 2019 geplante Retrospektive Blake Edwards wurde auf Bitten des Blake Edwards Estate auf 2020 verschoben und die Retrospektive Black Light stattdessen vorgezogen. Das Programm soll nach der Idee des Kurators Greg de Cuir jr. einen historischen Querschnitt des internationalen Black Cinemas zeigen und die Werke von Filmschaffenden unterschiedlicher Herkunft in Dialog stellen. Das Programm spannt auf jeden Fall einen zeitlich interessanten Bogen von 1919 bis 2000 mit Within Our Gates (1919) von Oscar Micheaux, über Jarmusch’s Ghost Dog, zu Christopher Harris’ still/here (2000).

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Hinstins erstes Programm wurde heute in Bern präsentiert, was als Erstes auffällt: es sind mehr Frauen in den Jurys vertreten.

Auf der Piazza Grande wird es eine bunte Auswahl zwischen schräg, komödiantisch (Greener Grass von Jocelyn DeBoer/Dawn Luebbe) und dramatisch (Camille von Boris Lojkine) spannend (Adoration von Fabrice Du Welz und 7500 von Patrick Vollrath) und horrolastig (The Nest/Il nido von Roberto De Feo). Immerhin 11 der Piazza Grande Filme sind Weltpremieren.

Auch in den beiden Hauptwettbewerben, Concorso internazionale und Cineasti del presente überwiegen die Weltpremieren und wie schon seit längerer Zeit zu beobachten, sind auch in dieser Ausgabe sehr viele Filme in internationaler Koproduktion entstanden. Die eher experimentelle Schiene wurde von Signs of Life in Moving ahead umbenannt, scheint aber der Entdeckung neuer Blicke und Ideen weiterhin treu zu bleiben. Und selbstverständlich gibt es auch in diesem Jahr eine grosse Auswahl nationaler (also Schweizer) und internationaler Kurzfilme.

Ein dichtes und erstmal vielversprechendes Programm also und das Rennen von Kinosaal zu Kinosaal wird auch in diesem August eine sportliche Herausforderung werden.

Am 17. August wird mit der Verleihung der Goldenen und Silbernen Leoparden und dem neuen Film von Kiyoshi Kurosawa Tabi no Owari Sekai no Hajimari (To the Ends of the Earth) das 72. Filmfestival Locarno zu Ende gehen.

Das gesamte Programm gibt es hier

Aktuelle Berichte zum Festival und den Filmen folgen dann hier während des Festivals.

Filmtipp: Draussen und bei freiem Eintritt

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Der Wiener Karlsplatz liegt zentral und bleibt trotzdem, spätestens wenn die Karlskirche ihre Tore für Besucher schliesst, weitgehend touristenfrei. Urbaner Raum fast völlig frei von Kommerz und Kaufzwang, man kann sitzen und in den Himmel schauen, die Füsse im Teich vor der Karlskirche kühlen, oder eben, an Sommerabenden bei freiem Eintritt Filme schauen.

Bis zum letzten Sommer bespielte „Kino unter Sternen“ den Platz, aber nach Problemen mit der Finanzierung war dann Schluss.
Zum Glück hat sich nahtlos das CineCollectiv der Sache angenommen und so gibt es unter dem schönen Namen Ka lei dos kop bis zum 19. Juli wieder Filme zu sehen.
Die vier Macherinnen, Djamila Grandits, Marie-Christine Hartig, Lisa Mai und Doris Posch, haben ein buntes und spannendes Programm zusammengestellt, da sollte für jeden der passende Film zu finden sein.

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Hier also vier völlig subjektive Tipps für Filmabende unter freiem und hoffentlich sternenklarem Himmel:

 

3. Juli, 21 Uhr

In Sie ist der andere Blick portraitiert Christina Perschon in eigenwilliger filmischer Handschrift Künstlerinnen, die in den 60er und 70er Jahren gegen Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen zur feministischen und künstlerischen Avantgarde wurden. Malerinnen, Filmemacherinnen, Photographinnen, grosse Namen, die auch heute noch gross sind: Linda Christanell, Margot Pilz, Karin Mack Lore Heuermann. Manches in dieser Dokumentation funktioniert hervorragend, wie gleich zu Anfang, die in 16 mm gedrehten Passagen, in denen Leinwände grundiert werden, immer wieder, immer weiter, und immer abstrakter werdend, darunter von allen Künstlerinnen erste Interviews, die Geschichte ihrer Anfänge. Als Rahmen dient allen Künstlerinnen dasselbe, leere Atelier, das sie mit sich und ihrer Kunst „bespielen“. Manchmal wünscht man sich nur, etwas genauer zu sehen was sie zeigen, worüber sie reden, wie bei den Photos, von denen Karin Mack spricht, sie bleiben in der Totale, und werden nur kurz Richtung Kamera gehalten. Auch Renate Bertelmanns Kautschukobjekte wären aus der Nähe sicher schön anzusehen. Und ob einem gefällt, wenn Interviews einfach hart zusammengeschnitten werden bleibt wohl Geschmackssache. Spannend und interessant ist der Film dennoch.

6. Juli, 21 Uhr

54 Minuten reinste Freude. Under the Underground von Angela Christlieb führt filmisch durch ein Chaos an Elektroschrott, Maschinen, technischem Gerät, mal funktionierend , mal eher dekorativ. Die Kellerräume sind Proberaum, Tonstudio, Bastlerwerkstatt und Wohnraum von Janka Industries. Underground im doppelten Wortsinn, das messihafte Durcheinander findet ganz natürlich seine Entsprechung im Bildfluss, bleibt dabei aber doch sehr genau strukturiert, wie vermutlich das Chaos im Keller, für seine Bewohner strukturiert ist. Ein Gesamtkunstwerk, aus Inhalt und Form.

12. Juli, 21 Uhr

Die Armut und Verwahrlosung in Ray and Liz von Richard Billingham springt einem von der Leinwand fast spür- und riechbar entgegen. Am Stadtrand von Birmingham spielt die autobiographische Familiengeschichte, eine Art visueller Sozial-Autopsie in spannenden Bildern. Extreme Detailaufnahmen, mal von krabbelndem Getier, von zitternden Fingern am Glas, oder Teilen von Gesichtern, um dann wieder einen Schritt zurück, und in ruhigen, sehr exakt in 4 : 3 kadrierten Bildern die Szenen zu betrachten. Es entsteht so ein Gefühl für die Situation der Figuren, Anteilnahme ist möglich, (ab)werten bleibt aus.

16. Juli, 21 Uhr

Auf den ersten Blick geht es in As boas maneiras / Good manners von Juliana Rojas und Marco Dutra um eine Krankenschwester, die bei einer Schwangeren eingestellt wird, und um eine Nacht, die alles verändert. Was dann aber drin steckt, ist ein ziemlich grelles Horror-Märchen. Der Kontrast: arme Krankenschwester, reiche – und wie es scheint – verwöhnte Schwangere ist aber nur der Einstieg in eine Geschichte, in der sich Stück für Stück herausstellt, was da für ein Monster im Bauch heranwächst, und mit Schockeffekt zur Welt kommt. Im zweiten Teil, des mehr als zwei Stunden langen Films, dreht sich alles um die Kindheit der Kreatur. Der Film ist spannend und modifiziert fast liebevoll gängige Horrorstrukturen, man sollte nicht zu zimperlich sein, was blutige Szenen angeht, aber auch damit umgehen können, dass, in Art des Chors in griechischer Dramen, aus den Szenen heraus ein kommentierender, warnender Gesang anhebt, dann aber ist der Film eine grosse Freude. Dass dieser schöne Film in einer Vollmondnacht programmiert ist, versteht sich von selbst.

Das gesamte Programm gibt es hier.

Filmtipp für Wien

 

Wem es am Wochenende zu heiss wird, der könnte sich in ein schönes, kühles Kino retten, um, zum Beispiel, Peter Brunners neuen Langfilm
„To the night“ anzuschauen.

Brunner ist einer der spannendsten österreichischen Regisseure und seine Filme sind immer gewaltig und gehen immer nahe, egal, ob man sie zutiefst ablehnt oder begeister aus dem Kino taumelt. „To the night“ ist sein mittlerweile dritter Film, gedreht in New York und komplett auf Englisch.
Er beeindruckt durch seine Bildsprache, in der Details und Nahaufnahmen für ungewöhnliche (Ein)blicke sorgen, der Erzählfluss hat etwas Mäanderndes, und stellt so auch schon mal die Kontinuität der Zeit infrage, um gleich darauf die Frage nach Zeitlichkeit als irrelevant zu entlarven. Faszinierende Geschichten entstehen so, originell, eigenwillig, fordernd, auch wenn die Komponenten, aus denen die Handlung besteht, bekannt sind. Eine Liebesgeschichte, vor einem Hintergrund aus roher Gewalt, Trauma, Obsession und Drogen, ein Hauptdarsteller der blitzschnell von unendliche zart zu rasend wechselt, ein Leben ganz am Rand eines unausweichlichen Abgrunds, zerrissen, und wahrscheinlich Scheitern verurteilt.

Bei der Diagonale in Graz gab es Stimmen, die dem Film Frauenfeindlichkeit, rückwärtsgewandte Geschlechterklischees und Ähnliches vorwarfen, das heisst eigentlich warfen sie das nicht dem Film, also der Geschichte, sondern dem Regisseur vor.
Ein Film und damit seine Filmfiguren, sind fiktionale Gestalten, sie brauchen nicht einem politisch opportunem Kanon zu gehorchen, zumal wenn an keiner Stelle dieser „Mangel an politischer Korrektheit“ propagiert wird. Filmfiguren dürfen ekelhaft sein, sich unmöglich verhalten, Mörder und Diktatoren sein, ohne dass das automatisch auf die (gesellschafts-) politische Haltung des Regisseurs schliessen lässt.

„To the night“ macht atemlos, seine Darsteller, allen voran Caleb Landry Jones und Eleonore Hendricks, sprengen mit ihren (Film) Emotionen die Leinwand, und das ist grossartig.

Der Film läuft zurzeit in Wien im Schikaneder und im Stadtkino.

Wozu Kinos?

Kinos schliessen. Das ist so, seit Jahren.
Kinos machen weiter. Das ist so, seit Jahren.
Kinos eröffnen, immer wieder, zumindest in Städten.

Braucht man denn Kinos?

In Zeiten, in denen die Bildschirme immer grösser werden, und bald die Dimensionen der kleineren Leinwände der „Schuhschachtelkinos“ erreicht haben.
In Zeiten von Streamingdiensten, von Mediatheken, von Mobiltelefonen, auf denen, oft stumm, Bewegtbilder angeschaut werden.
Man könnte die Frage auch unter technischen Aspekte betrachten.

Wozu einen Film in 70mm oder Cinemascope drehen, wenn er dann zu Hause flach geschrumpft wird?
Wozu die Vielfalt der Formate als erzählerisches Element nutzen, wenn dann viele Abspielgeräte formatfalsch eingestellt sind? Wozu sich mit Details abgeben, wenn der Film dann auf Briefmarkengrösse angesehen wird? Aber das mögen geschmäcklerische Ansichten für filmbesessene Sonderlinge sein.

Die Kinos wurden immer wieder totgesagt, nach dem flächendeckenden Einzug der Fernsehgeräte in allen Wohnungen, dann wieder nach dem Erscheinen der VHS Kassetten, der DVDs, und jetzt sind es eben Streamingdienste und angeblich geänderte Sehgewohnheiten. Aber Kinos sind nicht nur nicht von der Bildfläche verschwunden, es haben immer auch neue Kinos aufgemacht. Sie haben sich Nischen gesucht, und nannten sich fortan Programmkinos, sie wurden grösser, lauter und popcornschwanger und nannten sich Multiplexkinos.

Also doch nicht tot?

Vielleicht hilft ein weiterer Blickwinkel.
Kinos, das sind nicht einfach nur Orte, an denen Filme auf einer Leinwand laufen. Vielmehr als um den Ort geht es womöglich um das Ereignis. Ins Kino gehen, sich verabreden, um ins Kino zu gehen, ein bewusster Akt Kultur zu konsumieren. Die ersten Multiplexkinos haben es an sich schon vorgemacht, sie haben sich als Zielgruppe die 16 bis 25 Jährigen ausgesucht, die grossen Kinohallen nach deren, oder deren vermeintlichen, Bedürfnissen ausgestattet, und scheinen damit bis heute gut zu fahren. Auch die meisten Programmkinos haben das wohl verstanden, sie haben sich auf Spartenkino verlegt, haben ein Ambiente geschaffen, dass auch vor oder nach dem Kinobesuch zum Bleiben anregt.

Was läuft also dennoch falsch, wenn es weiterhin heisst: Kinosterben?

Wenn man sich auf Filmfestivals umschaut, bemerkt man das weiterhin grosse Interesse am Kinobesuch. Aber man kann auch sehen, was für Programme besonders gut zu laufen scheinen. Das sind oft Kurzfilmprogramme, oder auch Dokumentarfilme, die nicht unbedingt „abendfüllende“ Länge haben, es sind Filme, die schräge Geschichten erzählen, sowohl fiktional als auch nicht-fiktional. Aber genau diese Programme sucht man in den Kinos, ausserhalb von Festivals, oft vergeblich. Das ist schade. Etwas mehr Mut auf Seiten von Verleihern und Betreibern könnte da Abhilfe schaffen. Mittellange Filme mit Kurzfilmen kombiniert ergeben auch eine 90 bis100 Minuten Vorstellung, ein Kurzfilmprogramm kann auch auf entsprechende Länge gebracht werden. Vielfalt auch da, wo schon Nischen entstanden sind. Auch der Blick auf das Europäische Kino könnte noch weiter gefasst werden. Kommen Westeuropäische Kunst- und Autorenfilme immer wieder ins Kino, werden Osteuropäische Filme hingegen viel zu selten gezeigt, obwohl sie auf internationalen Filmfestivals oft zu den Preisträgern zählen.
Bisher hat niemand die Formel gefunden, nach der sich der zukünftige Erfolg eines (Kino-)Films vorhersagen lässt, Erfolg oder Misserfolg zeigt sich immer erst an der Kinokasse. Aber was nicht gezeigt wird, kann auch sein Erfolgspotenzial nicht zeigen.

Ins Kino gehen ist Kultur, so wie ins Theater gehen, ins Museum gehen,
Essen gehen… Nicht statt Streaming, oder statt Fernsehen, es ist eine weitere Form der Unterhaltung, die wir uns dringend bewahren sollten.

Hier gibt es den Ich geh ins Kino Tipp #1 für Wien.