Das Locarno Filmfestival ist nicht nur seit Jahren bemüht, Müll zu reduzieren und seinen ökologischen Fussabdruck zu minimieren, sondern bietet seit diesem Jahr auch, als Massnahme zur Inklusion, sogenannte Relaxvorstellungen an. Dabei wird das Kino nicht komplett abgedunkelt, der Filmton ist etwas leiser und Zuschauer können während der Vorführung rein- und rausgehen gehen oder auch Lärm machen. Die meisten Zuschauer an diesem Morgen haben eine solche Spezialprojektion nicht willentlich gebucht. Vermutlich ist niemand im Saal, für den diese Form gedacht ist. Vielleicht muss man einfach die gute Absicht anerkennen.
Also, auf geht’s in eine Relaxvorstellung.
Uneindeutig
Before I Change My Mind von Trevor Anderson spielt mit Erwartungen, denen der Zuschauer und denen der Filmfiguren. Insgesamt geht es ums Erwachsenwerden, am Rand auch ein bisschen um die nicht eindeutige geschlechtliche Zuordnung der Hauptfigur Robin.
Kanada1987, Robin kommt in eine neue Schule, und es wird schnell klar, dass das Kind nicht eindeutig als Mädchen oder Junge eingeordnet werden kann. Das Englische unterstützt die Ambiguität, alle sprechen von allen Kindern als „the kid/the kids“, der Name ist uneindeutig, das Verhalten eher jungenhaft, aber auch nicht ganz. Tatsächlich geht es aber wesentlich mehr um die Position in der Klasse, keiner will der Aussenseiter sein, und die, die als solche ausgemacht werden, werden schnell übelst behandelt. Entscheidungen, ob man bei denen ist, die mobben, oder gemobbt wird, sind zu treffen. Gruppendruck mit 12 Jahren, das ist traurig. Die Geschichte ist hübsch erzählt, die jungen Darsteller sind gut und schmerzhaft überzeugend. Die Uneindeutigkeit der Figur Robin wird auch am Schluss nicht geklärt, denn darum ging es die ganze Zeit über nicht. Die Relaxvorstellung hat sich nicht wirklich bemerkbar unterschieden, der Ton war immer noch laut genug, das Mehr an Licht ist nicht wirklich aufgefallen, und rumgelaufen ist auch niemand.
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Hölle und Anderes
Dieses letztes Kurzfilmprogramm fordert heraus, die Filme teilen ihre Geschichte, ihr Inneres nicht so einfach mit den Zuschauern. Soberane von Wara zum Beispiel. Eindeutig geht es um Identität, aber darüber hinaus ist der Verlauf eher undeutlich. Eine Brasilianerin in Kuba, entwurzelt? Oder eine Ausserirdische, auch entwurzelt? Oder, oder? Die Möglichkeiten sind vielfältig, der Film lässt alles zu und erklärt nichts. Männlichkeit und Rituale scheinen das Thema in Brandon Roi von Romain Jaccoud zu sein. Zwei junge Männer ringen irgendwo in einer Berglandschaft miteinander. Training oder Spass, ein Ausflug, sind sie Freunde, oder Liebhaber? Auch hier sind alle Möglichkeiten offen. Lake of Fire des Kollektivs NEOZOON gestaltet aus Foundfootage eine wilde, bunte Collage zum Thema Tod und Hölle. Das ist sehr eindrucksvoll, vor allem in seinem Rhythmus. Eine Schulklasse im verschneiten Kananda gibt es in Au crépuscule von Miryam Charles. Eines der Mädchen geht ständig vor, scheint schneller und stärker zu sein als die anderen. Aber etwas plagt sie, etwas sieht sie in der Umgebung, oder sind das alles nur Visionen eines jungen Mädchens, das die Nahrungsaufnahme verweigert? Deutlich klarer ist die Kapitalismuskritik im Animationsfilm Money and Happiness von Ana Nedeljkovic und Nikola Majdak Jr. In Hamsterland leben lustige Knetmassefiguren. Ihr einziges Ziel im Leben: arbeiten, um das Bruttosozialprodukt zu erhöhen, in schwindelerregende Höhe zu steigern. Koste es, was es wolle. Sehr hübsch gemacht, und ganz schön gruselig.
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Pferde, Farne und Geräusche
Schräg, voller phantastischer Ideen und surreal, das ist die einfachste Zusammenfassung von Ann Orens Piaffe. Das Gerüst der Geschichte: die Schwester eines Geräuschemachers muss den Ton für einen Psychopharmaka- Werbespot machen, weil ihr Bruder nach einem nicht beschriebenen Vorfall in der Psychatrie gelandet ist. Gefragt sind Pferdegeräusche, Ahnung hat sie davon keine. Aber mit diesem Gerüst wird man der Geschichte nicht gerecht. Lauter skurrile Gestalten bevölkern die Szenerie, und dann wächst der jungen Frau auch noch am Steissbein ein veritabler Pferdeschwanz, was wiederum ein Botaniker erotisierend findet. Nein, man kann dieses phantastische Spektakel einfach nicht beschreiben, wozu auch. Pferde, Farne, BDSM-Sex (ein bisschen), Geräusche und Techno, gedreht auf 16 mm Film, bunt und ein bisschen irre.
Leises Tröpfeln
Zwei Minuten vor dem Anfang der Abendveranstaltung auf der Piazza fängt zart an zu tröpfeln, einige verlassen fluchtartig ihre Plätze, die meisten bleiben. Das Tröpfeln hört wieder auf.
Vous n’aurez pas ma haine von Kilian Riedhof ist ein Film nach einer wahren Begebenheit. Antoine Leiris verliert 2015 beim Anschlag auf das Pariser Bataclan seine Frau, in all der Trauer schreibt er kurz nach dem Anschlag einen Post, in dem er den Attentätern verspricht, dass sie seinen Hass nicht bekommen werden, dass er und sein kleiner Sohn, bei aller Trauer, nicht hassen werden. Der Post wird 1000-fach geteilt, es folgen Interviews und TV-Auftritte. Der Film erzählt also genau das: ein Vater, der trauert, der sich trotzdem mit seinem 2-jährigen Sohn beschäftigt, auch wenn der ihn manchmal zum Ausrasten bringt. Aber das reicht alles nicht für einen guten Film, vor allem, wenn man den Fakten treu bleiben will. Und es reicht auch nicht für 102 Minuten. Ab dem Augenblick, wo der Post geschrieben ist, bleibt der Geschichte nur noch zu zeigen, wie eine Familie trauert, mit allen Trauer-Stadien. Das macht der Film so professionell wie kitschig, und für alle, die es bisher nicht wussten: 2-jährige Kinder sind häufig extreme Nervensägen.
Das scheint auch kein Kandidat für den Publikumspreis zu werden.
Alle anderen Jurys dürften heute im Laufe des Tages ihre Preisträger bestimmt haben. Morgen Abend werden die Leoparden verteilt, auch der Publikumspreis.
Nachdem im letzten Jahr alles kontrolliert wurde, also Ticket, Impfpass, Ausweis und dann noch Taschenkontrolle, ist es dieses Jahr erstaunlich entspannt. Ticket in der App (oder auf Papier) zeigen, Tasche öffnen, erklären, dass die Trinkflasche nicht aus Glas ist. Manchmal wird das mit einem leichten Schlag der Taschenlampe gegen die Flasche gegengecheckt, fertig. Ab ins Kino, abkühlen. Was geblieben ist aus den restriktiveren Ausgaben, ist die Reservierung von Tickets, allerdings ohne festen Sitzplatz, und die zeitlich etwas weiter auseinanderliegenden Vorstellungen. Man braucht nicht ganz so sehr zu rennen, in der Theorie ist damit auch mal ein Kaffee drin, oder etwas zu essen, wobei, das ist dann fast schon wieder herausfordernd.
Plastikstühle im Fevi (c) ch.dériaz
Langsam werden auch alle Kinositze unbequem, egal, ob weiche, breite Kinosessel oder Varianten von Plastikstühlen, die persönliche Sitzfläche leidet.
Kinderseelen
Wenn schon Erwachsenwerden schwer ist, um wieviel schwerer muss das sein, wenn man eine labile Persönlichkeit ist. Das lotet Franciska Eliassen in Den siste vårenaus. Zwei Schwestern im nördlichen Norwegen, in einer Gegend, die ausser Natur nicht viel zu bieten hat. Das ältere der beiden Mädchen verliert sich im Lauf der Geschichte immer mehr in Ängsten und Wahn, während die jüngere, bodenständiger, versucht zu begreifen, was passiert. So fängt sie an, das Tagebuch ihrer Schwester zu lesen, in dem Kollagen und wüste Gedanken von einer immer schwärzeren Gefühlswelt zeugen. Wie kann man sich an einer immer kränkeren (Um)Welt reiben, seine Grenzen finden, wenn sich die umgebende Welt in Auflösung und freiem Fall befindet? Der Film arbeitet viel mit der Landschaft und mit immer mehr symbolisch aufgeladenen Bildern, der Seelenzustand der grossen Schwester übernimmt die visuelle Umsetzung auf der Leinwand. Auch hier darf am Ende ein Lämmchen symbolhaft über den Küchentisch staksen, da der Film aber insgesamt mit Metaphern und Symbolen arbeitet, stört auch das Lamm nicht.
Ist Sex politisch
Ein weiterer anstrengender, aber auch nachdenklich stimmender Film: Regra 34 von Julia Murat. Simone, eine junge, schwarze Brasilianerin, Jurastudentin und künftige Pflichtverteidigerin, verdient sich ihr Studium mit Online Sexchats. Ein lukratives Geschäftsmodell, bei dem sie auch Spass hat. An der Uni führen sie Diskussionen zu Unterdrückung, Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, staatliche Gewalt, und Möglichkeiten, all das zu verbessern, ohne dabei wieder staatliche Gewalt auszuüben. Hochtheoretische Diskussionen, die auch im Privatleben weitergehen. Wie weit sind Simones, immer mehr Richtung S/M-Sex gehenden, sexuellen Aktivitäten eine Selbstermächtigung, und damit auch politisch? Oder sind sie doch ein Zeichen ihrer Unterdrückung in einem patriarchalischen System? Der Film dekliniert die Frage bis zum gefährlichen Ende durch, ohne plakative Antworten oder moralischen Zeigefinger.
Es wird recycelt (c) ch.dériaz
Müll
Wir alle produzieren zu viel Müll, so weit, so wenig überraschend. Nikolaus Geyrhalter macht daraus in Matter Out of Place einen Kinofilm. Und er macht das so, wie er alle Themen behandelt, mit wunderbaren Bildern, in meistens sehr weiten Totalen, die in Ruhe angeschaut werden können. So also auch diesmal. Von Albanien über Nepal, von den Malediven bis Österreich, vom Mittelmeer bis in ein schweizer Skiressort, überall grosse Mengen von Müll, grosse Maschinen, grosse LKW. Überhaupt ist alles gross, ausser den Menschen, die den Müll produziert haben, und ameisengleich letzte Hand in der Entsorgung anlegen. Gesprochen wird so gut wie nie in diesem Film, am Anfang reden Leute einmal miteinander, und am Ende noch einmal, das war es. Den Rest darf man als Zuschauer anschauen, staunend, sich schwörend, nie wieder Müll zu produzieren. Einige Zuschauer haben diese mächtigen, vollen Bilder nicht ausgehalten und verliessen das Kino, das ist schade. Der Film könnte auch ein guter Kandidat für den neuen grünen Leoparden sein.
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Noch mehr Abgründe
Jeden Abend eine Ehrung, das ist der Glamourfaktor, der mal besser, mal schlechter funktioniert. Heute Abend war es Laurie Anderson, die für ihr künstlerisches Schaffen einen Leoparden bekam. Und sie wurde laut und herzlich vom Publikum gefeiert.
Danach dann der erste Langfilm der schweizer Regisseurin Caterina Mona: Semret. In der Säuglingsabteilung eines Züricher Krankenhauses arbeitet die Eritreerin Semret, neben ihrer Arbeit gibt es für sie nur ihre Tochter, die sie versucht,vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Aber die 14-Jährige rebelliert, will wie ihre Schulfreundinnen auch mal weggehen dürfen, will mehr wissen über das Leben in Eritrea, doch Semret verweigert alles. In kleinen Häppchen muss sie sich ihre Vergangenheit doch stellen. Der Film deutet dabei gerade so viel an, dass man versteht, ohne einen langen, dramatischen Seelenstriptease zu bieten, und auch wenn einiges sich zum Guten wendet, lässt er auch zu, dass eben nicht alles am Ende einer Geschichte schön und rosig ist.
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Gelb-Schwarz
Nicht alles, was in gelb-schwarz daher kommt, ist ein Filmfestivalfan. Dieses Jahr sind besonders viele Wespen unterwegs. Kein Tisch in einer Bar ohne umherschwirrende Wespen, und selbst auf der Piazza, wenn die sich Abends die ersten Zuschauer ihre Plätze sichern, fliegen die gelb-schwarzen Plagegeister herum.
Brüder
Wie umgehen mit dem Suizid des eigenen Bruders? Juraj Lerotić macht darüber den Film: Sigurno mjesto (Safe place).
Der Film besticht in erster Linie durch seine sehr geometrischen Bilder. In fast jeder Einstellung gibt es mittig etwas, das als Tür, Fenster, Ausgang, Fluchtpunkt gesehen werden kann. Mal sind es tatsächlich Türen oder Fenster, manchmal aber auch grosse Bilder, oder Linien in der Architektur der Szenerie, die eine Öffnung bilden. Die Figuren sind oft am Rand des Bildes, hier, aber doch nicht ganz da. Spiegelungen sind ein weiteres Element, das den Fokus verschiebt, und das Ende vorwegnimmt, oder vorbereitet. Die Geschichte folgt den Brüdern vom ersten Suizidversuch, der Flucht aus dem Krankenhaus, zeigt die Versuche, die Situation, das Problem zu begreifen. Der Regisseur nutzt verschieden Mittel, um die Schichten der Problematik künstlerisch zu bearbeiten. So wechselt er relativ am Anfang des Films innerhalb einer Szene die Zeit – und Realitätsebenen, zusammen mit der visuellen Umsetzung entsteht daraus während der Filmgegenwart ein Hinweis auf die Filmzukunft. Die streng komponierte Form kreiert eine Ebene, die das Unbegreifliche vielleicht begreiflicher macht.
Liebe
Ein Kurzfilmprogramm der Liebe in all ihren Formen gewidmet. In Euridice, Euridice von Lora Mure-Ravaud ist das am deutlichsten und am schönsten. Die grosse, leidenschaftliche Liebe zweier junger Frauen wird durch den plötzlichen Tod der einen jäh zerrissen. Zurück bleibt eine tiefe Wunde, auch wenn das Leben weiter geht. Immer wieder scheint die Geliebte aufzutauchen, den Neuanfang macht das zeitweilig fast unmöglich. Eine Geschichte in schönen Bildern, gut gespielt und ans Herz gehend.
Tako se je končalo poletje (That’s How the Summer Ended) von Matjaž Ivanišin ist da eher spröde. Ein Mann und eine junge Frau am Wasser sitzend, wortlos. Spannung scheint in der Luft zu liegen, bis ein anderer Mann kommt, und die Frau ihm folgt. Am Himmel schlagen Flugzeuge Kapriolen. Im ersten Moment wirkt der Film gar nicht, aber er wirkt nach, und das ist dann auch schön. In HEARTBEAT von Michèle Flury geht es um 4 Freundinnen. Sie campen zusammen, irgendwo im Wald, aber zwischen zwei von ihnen schient etwas zerbrochen zu sein. Eine echte Aussprache findet nicht statt, so vergeht eine Mädchenfreundschaft.
AirHostess-737 von Thanasis Neofotistos ist eine wilde, etwas absurde Geschichte. Eine ältere Stewardess, ganz frisch mit Zahnspange geschlagen, scheint irgendwie nicht gut drauf zu sein. Plagen sie Schmerzen wegen der Zahnspange? Als das Flugzeug in Turbulenzen kommt, erzählt sie fast schreiend ihre Lebensgeschichte, und dass die sterblichen Überreste ihrer Mutter im Flugzeug mitfliegen. Am Ende ein etwas verhuschtes Zahnspangenlächeln. Naja.
Der rote Teppich wird geputzt (c) ch.dériaz
Neokolonialismus
In der Kategorie extrem seltsamer Filme nimmt Nossa Senhora da Loja do Chinês von Ery Claver einen der vorderen Plätze ein. Nach eigener Aussage, am Ende der Vorführung, wollte der angolanische Regisseur „a fucked up fairytale“ machen. Nun, das sollte soweit gelungen sein. Der Film hat so viele Schichten, die auch nicht immer in der „richtigen“ zeitlichen Abfolge erzählt werden, dass man schwindlig werden kann. Eine chinesische Off-Stimme erzählt, im Stil eines Märchens, doch was erzählt wird ergibt zunächst keinen Sinn. Ein kranker Mann, leidend, seine Frau, die endlos Wasser, das von der Decke stürzt, in Eimern rausträgt, ein junger Mann auf der Suche nach seinem Hund und ein chinesischer Ladenbesitzer, der Madonnen-Figuren verkauft, sind die Hauptfiguren der Geschichte. Die christlichen Figuren, als Symbol des ersten Kolonialismus, das chinesische Viertel mit all seinen modernen Symbolen und seiner bedeutenden wirtschaftlichen Macht, der neue Kolonialismus, dazwischen Aberglaube und eine Politfarce. Schon spannend alles, sehr schön gedreht, sehr komplex und sehr fremd.
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Politischer Abend
Ein grosser Regisseur bekommt am Abend den Ehrenleoparden für sein künstlerisches Schaffen: Costa-Gavras. Gefragt nach seinem Tipp für heutige junge Regisseure und Regisseurinnen, empfiehlt er, mit einem Krimi anzufangen, und zu schauen, dass man dafür gute Darsteller findet.
Alles andere als ein Krimi ist der Film des Abends, spannend ist er trotzdem. Annie Colère von Blandine Lenoir, spielt in Frankreich 1974, dem Jahr, bevor das Abtreibung legalisiert wurde. Als die Fabrikarbeiterin Annie, Mutter zweier Kinder, wieder schwanger wird, findet sie Hilfe und Unterstützung in einer der vielen Hilfsgruppen, die sich damals formierten. Die Gruppen verstehen sich als sowohl politisch wie auch praktisch. Freiwillige Helferinnen, Ärzte und Ärztinnen, zum Teil noch studierend, bieten Rat, Hilfe und führen Abtreibungen durch, illegal, aber nicht heimlich. Annie engagiert sich immer mehr in der Gruppe, und verändert damit auch ihr eigenes Leben. Ein schöner Film, mit einem tollen Darstellerinnenensemble, der ein wieder wichtiges Thema mit Gefühl aber ohne Pathos behandelt.
Das Festival geht in die Schlussgerade, und immer noch würde ich bei keinem Film auf einen Preis wetten.
Es sieht so aus, als habe sich das Festival zum 75. Geburtstag einen Satz neuer Stühle für die Piazza geschenkt. Bisher ist zumindest keiner während der Vorführung zerbrochen. Die ikonischen gelben und schwarzen Plastikstühle sehen auch irgendwie frischer aus, bequemer sind sie allerdings nicht gewordenen.
Sternenstaub
Bei einigen Filmen fragt man sich schon, was die Auswahlkommission sich beim Programmieren gedacht hat. Bei Fragments from heaven von Adnane Baraka zum Beispiel. Ausgehend von einem Meteoriten, der irgendwo in der marokkanischen Wüste aufgeschlagen ist, ist der Film eine lange, elegische Meditation über die Zeit, das Dasein und dessen Sinnlosigkeit. Eine Zeitlang sind die zerklüfteten, verwitterten Gesichter der lokalen Hirten, vor ebenso verwitterter und zerklüfteter Landschaft, reizvoll anzusehen. Ihre Suche nach Fragmenten des Meteoriten, ihre Gedanken, die fast gehaucht, als Off-Texte, über den Bildern liegen, das alles trägt einen Moment, nutzt sich aber rasch ab. Anfangs gibt es noch einen Parallelstrang, in dem an der Uni über die Beschaffenheit von Meteoriten geforscht, aber auch philosophiert, wird. Aber dieser Strang endet recht abrupt, dient nur als eine Art metaphysischem Stichwortgeber: Wir sind alle Sternenstaub und Leben ist ein Kreislauf.
So weit ist der Film nur etwas langweilig. Kurz vor Ende wird er dann tatsächlich ärgerlich, als eine minutenlange Sequenz mit eruptierender Sonnenoberfläche, kollidierenden Steinen im All und nerviger Musik eingeschoben wird, nur um dann doch wieder bei den Hirten in der Wüste zu landen. Der Kreis der sinnfreien Bewegungen geschlossen.
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Das Ich
Zur Belohnung dann ein ganz starkes, tolles Kurzfilmprogramm. Rien ne sera plus comme avant von Elina Löwensohn sind drei Kurzfilme in einem, ein filmisches Triptychon, gedreht in 8- und 16 mm. Sie treibt dabei eine Art Schabernack auf visueller und akustischer Ebene. Texte, die wie surrealistische Gedichte klingen, begleiten suggestive Bilder, die das Ich infrage stellen, und die über den Schnitt einen dramatischen Bogen bekommen. Das ist schön und lustig und ein wenig befremdlich. Dancing colors von M.Reza Fahriyansyah erzählt auf einfühlsame und heitere Art von der mangelnden Akzeptanz von Homosexualität in Indonesien. Ein islamischer Geistlicher verspricht den Eltern eines schwulen Teenagers, mittels Hokuspokus den bösen Djin zu exorzieren und den Jungen so zu heilen. Wäre die Geschichte nicht so federleicht und auch mit Witz inszeniert, wäre das gruselig. Kinderzeichnungen, die auf halluzinogenen Drogen eine Party feiern. Anders kann man die Farb- und Fantasieexplosion in Mini-mini-pokke no okina niwa de von YUKI Yoko nicht beschreiben. Unfassbar gut! Asterión von Francesco Montagner ist wieder ein 8 mm Film.
Ein Stier in der Arena: er schnauft, rennt gegen die Banden an, ein Abbild von Männlichkeit. Gedreht und geschnitten, dass der, nicht gezeigte, Kampf zu jeder Sekunde präsent ist. Der zweite Teil des Films zeigt das Abtasten und Zerlegen des toten Tierkörpers, um letztlich in eine Art Metamorphose mit dem ihn zerlegenden Menschen zu treten. Sehr spannungsgeladen und komplett ohne Ton, wodurch die Bilder noch näher gehen. Douwe Dijkstras Spezialität sind filmische Satiren mit viel Greenscreen-Einsatz.
In Buurman Abdi erzählt er die Geschichte seines Nachbarn, der als Kind aus Somalia nach Holland geflohen ist, dort dann im Gefängnis landet, um schliesslich als Kunstschmied wieder auf die Füsse zu kommen. Man sieht, wie Regisseur, Nachbar und Helfer Mogadischu nachbauen, in diesem Setting spielen, erzählen, erfinden. Ein Film, der Filmtricks verrät, eine ernste Geschichte erzählt und dabei extrem lustig ist.
Vater und Tochter
Tengo sueños eléctricos von Valentina Maurel ist ein Film voller unterdrückter Gefühle, mit einer Familie in Auflösung. Die komplett fehlende Impulskontrolle des Vaters hat vermutlich die Ehe zerstört, in der Folge sind alle Beteiligten, Katze inklusive, in emotionalem Chaos. Während die kleine Tochter bei jedem Gewaltausbruch des Vaters vor Angst in die Hose pinkelt, versucht ihre 16-jährige Schwester den Kontakt beizubehalten, sogar zu intensivieren. Ihre Gefühlswelt, altersbedingt, in komplettem Aufruhr kollidiert mit dem Freiheitswunsch des Vaters, der Sorge der Mutter und den Wünschen der kleinen Schwester. Hin- und hergerissen zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, alleingelassen und der Sicherheit durch die Eltern beraubt, lebt sie Schmerz, Auflösung und Ablösung und auch, ein bisschen, den Umgang mit Gewalt.
Komödien
Fürs Erste ist der Regen vorbei, einem entspannten Abend auf der Piazza steht also nichts im Weg.
Seit letztem Jahr wird der Locarno Kids Award vergeben. Dieses Jahr geht der Preis an die indische Regisseurin Gitanjali Rao. Eine Ehrung für ihr gesamtes Filmschaffen, vergeben von Kindern und Jugendlichen, die in speziellen Workshops und Schulung lernen, filmische Ausdrucksformen einzuordnen, zu begreifen und zu bewerten. Gezeigt wird zu diesem Anlass ihr erster animierter Kurzfilm Printed Rainbow. Rao hat für diesen Film jedes Einzelbild selber gemalt, weshalb die Herstellung dann drei Jahre gedauert hat – für 15 Minuten Film. Das Ergebnis ist optisch und inhaltlich ein schwebender Traum von grosser Schönheit und Tiefe.
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Danach die Komödie Last Dance von Delphine Lehericey. Ein freundlicher Film um einen Mann, der plötzlich seine Frau verliert. Während seine Kinder, Enkel und die Nachbarin einen Plan machen, damit sich immer jemand um ihn kümmert, löst er ein Versprechen ein, das er und seine Frau sich gegeben haben: Der, der zurückbleibt, macht das zu Ende, was der andere zum Zeitpunkt seines Todes angefangen hat.
In seinem Fall heisst das, sich einer Tanzgruppe aus Laien und Profis anzuschliessen, und an dem Stück weiter zu arbeiten, an dem seine Frau arbeitete. Das ist hübsch, und auch berührend. Allerdings sagt er nichts davon seiner Familie. Missverständnisse und die daraus entstehende Komik sind also vorprogrammiert. Wie bei vielen Komödien, ist die Diskrepanz zwischen Wissen und Nichtwissen der einzige Drehpunkt, um den herum sich die Komödie entwickelt, was doch irgendwie nicht genug ist, um wirklich komisch zu sein. Dem Publikum hat es gefallen, es war der bisher lauteste und enthusiastischste Applaus.
Dekorative Wolken über dem See
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Die Hälfte des Festivals ist bereits vorbei. Ob schon Leoparden dabei waren? Schwer zu sagen. Weiterhin ein Ärgernis:
Fehlende WLAN-Abdeckung auch in der, von einem Kapselhersteller betriebenen, Presse Lounge. Das ist wirklich ärgerlich, der Platz ist, besonders morgens, angenehm schattig, mit bequemen Sesseln, in denen man gut sitzen und schreiben kann. Nachdem Swisscom einer der Sponsoren ist, ist es wirklich mehr als unverständlich, warum es nicht machbar sein soll, ein flächendeckendes Netz anzubieten.
Haufenweise Lügen
Der Film Astrakan von David Depesseville schafft etwas unglaubliches: er zerstört sich mit den letzten Szenen selbst. Erzählt wird vom jungen Samuel, der bei einer Pflegefamilie, mit zwei eigenen Söhnen, im ländlichen Frankreich lebt. Auch wenn die Pflegeeltern mehrfach betonen, dass ihnen der Junge ans Herz gewachsen ist, machen sie ebenso deutlich, dass sie das staatliche Pflegegeld brauchen. Es herrscht ein verzweifelt-archaisches Klima, wo schnell zum Gürtel gegriffen wird, um zu strafen, wo der Onkel den Neffen, mutmasslich, missbraucht, die Mitschülerin ihre Promiskuität an Samuel auslebt, Kätzchen erschlagen werden, aber immer wieder eifrig zur Jungfrau Maria gebetet wird. Diese explosive Stimmung muss irgendwann zum Knall führen. Der Film erzählt all das in schönen, analog gedrehten, Bildern, manchmal meint man in einem alten holländischen Bild zu sein. Aber am Ende, nach dem Knall, wird noch einmal ein religiöser „Heiler“ gerufen, und in einer langen Folge von Bildern werden die unterdrückten, verheimlichten Geschehnisse – ein wenig – aufgedeckt, untermalt von Bachs Agnus Dei. Der Gipfel und die Zerstörung des Films ist erreicht, als in dieser (sinnlosen) Sequenz die Pflegemutter, namens Marie(!), ein schwarzes Lamm an ihre entblössten Brüste hält. Mehr Zerstörung eines bis dahin guten Films, der eben genau von all dem nicht Gesagten, nicht Gezeigten lebt, geht kaum noch.
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Krieg und Liebe
Das Kollektiv Total Refusal zeigt in Hardly Working 24 Stunden im „Dasein“ von nichtspielenden Figuren, oder Statisten, in einem Computerspiel. Diese Figuren, die eine Funktion, eine Aufgabe haben, sind trotzdem nur rudimentär programmiert, was zu teils absurden Momenten führt, aber vor allem als Metapher für die Ausbeutung der Arbeitskraft im Kapitalismus dient. Das ist gewitzt, intelligent und lustig.
Daron, Daron Colbert von Kevin Steen zeigt Darstellung und Selbstdarstellung des titelgebenden Daron. Der Film über den sehr übergewichtige Mann aus einem Industrieort nahe Detroit ist eine merkwürdige Mischung, nicht nur von Filmformaten, sondern auch von Sicht- und Erzählweisen. Nicht ganz überzeugend, aber einen Blick wert.
Heart Fruit von Kim Allemand erzählt von Liebe in all ihren Ausführungen. Oder eigentlich erzählt der Film eher von Versuchen, diese Liebe in einem heutigen, urbanen Kontext zu finden und zu halten. Schön sind die Bilder der sehr graphisch-architektonischen Umgebungen, in denen die Figuren agieren, auf der Suche nach etwas rundem, weichen, wenn man so will.
Paradiso,XXXI,108 von Kamal Aljafari ist ein schwieriger Film. Foundfootage von Soldaten, Kriegsgerät, Kriegseinsätzen, zum Teil montiert wie ein Industriefilm und unterlegt mit klassischer Musik. Das ist in weiten Teilen visuell und rhythmisch spannend, aber auch schwierig zu decodieren.
Apokalyptisch schön
Balıqlara xütbə (Sermon to the fish) von Hilal Baydarov wird es sicher nicht leicht haben in Kinos zu kommen, könnte sich aber zu einem gern gesehen Gast bei Festivals entwickeln. Eine Geschichte so künstlich wie künstlerisch, mit phantastischen Bildern einer desolaten Landschaft und einer wunderbaren, stimmigen Tongestaltung. Und dabei ist alles „unecht“, der Bildausschnitt macht aus aserbaidschanischen Ölfeldern eine tödliche Traumlandschaft, das gleiche gilt für die Bilder des Flusses mit Ölpfützen, die kargen Hügel und Steppen, aber eben auch für jeglichen Ton. Kein Geräusch, kein Dialogfetzen wurde während des Drehs aufgenommen. Und so wirken die beiden Figuren, ein aus irgendeinem Krieg heimkehrender Mann und seine, an einer seltsamen Krankheit leidende Schwester, wie die letzten Überlebenden nach der Apokalypse. Überstilisiert, verloren und trotzdem sehr schön. Hilal Baydarov bezeichnet sich als besessenen, schwierigen Menschen, wenn es um seine Filme geht, was wohl auch der Grund ist, dass er alles, Kamera, Regie und Sounddesign selber macht. Publikumsrenner werden solche Filme sicher trotzdem nicht.
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Eine Frau sieht Rot
Une femme de notre temps von Jean Paul Civeyrac ist ein klassisches Drama. Wenn man der ganz grossen Liebe nicht mehr vertrauen kann, dann nützt es auch nichts, dass man Polizeikommissarin ist und in einem tollen Haus lebt. Nachdem die Kommissarin (Sophie Marceau) befürchtet, dass ihr Mann eine Affäre hat, macht sie das, was man als Polizistin so tut: beschatten, hinterher schnüffeln, Beweise sammeln. Leider begegnet ihr dabei ein noch grösserer Verrat ihres Mannes, und ein Drama steuert unaufhaltsam seinem Höhepunkt und Ende entgegen. Der Film ist gut gespielt, gut gedreht, wartet mit einigen, nicht weiter geklärten, Schockeffekt(ch)en auf, ist aber sonst nichts besonderes. So gewinnt man eher keinen Publikumspreis.
Die Abkühlung hat nicht lange gehalten.
Zum Wochenende, mit noch mehr Leuten in Locarno, brütet wieder eine feuchte Hitze über der Stadt.
Väter und Söhne
Ein, trotz seiner Schwarzweissbilder, gleissender Film: A Perfect Day for Caribou von Jeff Rutherford. Ein Film, in dem die Landschaft in all ihrer Weite, trotz engen 4:3 Formats, den Menschen dominiert, ameisenhaft wirken lässt. Zunächst ein Vater, der sich umbringen will, und eine Art Lebensbeichte für seinen, ihm entfremdeten, Sohn auf Band aufnimmt. Doch dann taucht der Sohn auf, begleitet wiederum von dessen kleinem Sohn. Bei aller Schönheit der Bilder braucht man die monologartigen Dialoge zwischen den Männern, um zu verstehen. Dennoch erzählt, wenn man erstmal weiss, worum es geht, die Bildkomposition alles, was man über ihre Gefühle, ihre Gefühlswelt und ihre Beziehung wissen muss. Sie erzählen von Entfremdung, von Leben, die nicht ideal laufen, von grossen und kleinen Enttäuschungen. Ein Film wie eine Hemingway Geschichte.
Despoten
Skaska (Märchen) von Alexander Sokurov fängt ziemlich cool an und enttäuscht dann recht schnell.
Ein schwarz-weiss gezeichneter Wartesaal zum Himmel (oder doch zur Hölle?), in dem multiple Versionen von Hitler, Stalin, Mussolini und Churchill Einlass zu Gott begehren. Sie schwafeln und schwadronieren, ganz in ihren jeweiligen Rollen. Mal reden sie miteinander, mal mit ihren Varianten.
Technisch und bildlich ist das spannend. Die Mischung aus statischer Hintergrundzeichnung und bearbeiteten Realbildern der Diktatoren, all das sieht nach viel Fleissarbeit am Computer aus. Aber es hilft nicht gegen die Langeweile, die sich bald einstellt, weil es einfach keine Entwicklung in der Geschichte gibt. Mehrmals vermeint man, das Ende des Films zu sehen, aber nein. Weder das Crescendo aus wabernder, gesichtsloser Masse, die wie eine Welle die Diktatoren fortzuschwemmen droht, noch der Einlass zu Gott, einer der Churchill-Figuren, unbeirrt geht es weiter. Als das Ende dann – endlich – da ist, weiss man dafür nicht wieso.
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Wenn alle korrupt sind
Einer der stärksten Filme bisher ist: Yak Tam Katia? von Christina Tynkevych. Geschichte, Kamera, Spiel, alles greift ineinander und ist als Gesamtheit toll. Und das, obwohl es weder eine einfache noch eine nette Geschichte ist, die da erzählt wird. Eine junge Unfallärztin, alleinerziehend, lebt auf engstem Raum mit ihrer Tochter, einer dementen Mutter und einer schlechtgelaunten Schwester zusammen. Ein schwieriges Leben, aber als ihre Tochter auf dem Schulweg angefahren wird, gerät das fragile Gleichgewicht komplett aus den Fugen. Ärzte müssen extra bezahlt werden, um das Kind zu behandeln, die Unfallfahrerin ist die Tochter der Bürgermeisterkandidatin, und ein finanzielles Angebot, den Fall nicht vor Gericht zu bringen, wird ihr nahegelegt. Die Handkamera, ohne zusätzliches Licht, unterstreicht die Nervosität, die über allem liegt. Sie folgt, oder verfolgt die Figuren, bleibt oft hinter ihnen, um dann grazil um sie herumzutanzen. Extreme Unschärfen in der Tiefe unterstreichen zusätzlich die Konflikte, die sich zunehmend um die junge Ärztin bilden. Die Kamera bildet das hektische Tempo bei Einsätzen genauso ab, wie die zunehmende Verzweiflung. Einfach toll gemacht.
Gewitter
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Am Ausgang dann, Regen, Gewitter, schwarzer Himmel. Die Sommerkleidung, die bis eben noch fast zu viel war, ist jetzt deutlich zu wenig. Gegen 21 Uhr ist der Himmel zwar immer noch schwarz, aber es tröpfelt nur noch. Die Piazza füllt sich, Mitarbeiter wischen die Stühle trocken. Der offizielle Teil findet allerdings im Fevi statt, mit Verspätung, was gar nicht gut ankommt. Ebensowenig, dass sich dort alle extra viel Zeit lassen, immerhin tröpfelt es draussen hin und wieder, Blitze zucken über den Himmel und einzelne Windböen drohen.
Truckerin
Endlich ist es doch so weit, Paradise Highway von Anna Gutto fängt an. Der Film meint es gut, bleibt aber letztlich zu amerikanisch in seiner Dramaturgie und Figurenzeichnung, um wirklich zu begeistern. Juliette Binoche, ungeschminkt als Truckerin, mit Herz auf dem rechten Fleck und einer belastenden Vergangenheit, ein fieser Mädchenhändlerring, Morgan Freeman als eigentlich pensionierter FBI Mann, der dem Neuling zeigt, wie man Recht beugt, aber dabei moralisch siegt, und das kleine, starke Mädchen, das aus den Klauen der Menschenhändler gerettet wird. Dazu weite amerikanische Highways, coole Trucks, und neben Binoche weitere Truckerinnen, die natürlich zur Stelle sind, wenn es darauf ankommt. Nicht schlecht, aber auch nicht so super. Egal, mit der Kulisse, den Regentropfen und den Blitzen macht es dann doch einen ganz schönen Samstagabend.
Leinwand von hinten (c) ch.dériaz
Kinohunger
Die Vorstellungen sind allesamt gut besucht, voll bis ausverkauft. Selbst gestern Abend, bei bedenklichem Wetter, waren 2.300 Menschen auf der Piazza und 3.000 zusätzlich im Fevi. Es mag ein bisschen an der Festivalsituation liegen, dass wirklich alle Arten von Filmen zu allen Uhrzeiten so gut besucht sind. Aber Verantwortliche, also Kinobetreiber, Verleiher, sollten diesen Schwung mitnehmen. Zuschauer, die bei Festivals interessante Filme sehen, gehen nach Hause, erzählen davon, machen sozusagen gratis Werbung, nur um dann festzustellen, dass viele dieser tollen Filme nirgendwo zu sehen sind.
Das ist sehr schade. Es besteht ein Markt dafür, man muss ihn nutzen.
Schülerproteste
Der thailändische Film Arnoln pen nakrian tuayang (Arnon, der Musterschüler) von Sorayos Prapapan ist ein höchst politischer Film. Korruption, Proteste, die hart niedergeschlagen werden, und traditionelle Regeln treffen im Mikrokosmos einer Schule aufeinander. Während der Schulleiter extra stolz ist, dass Arnold bei einer akademischen Olympiade eine Medaille gewonnen hat, führt die Lehrerin für Bürgerrechte ein restriktives Regime, in dem sie auch gerne zum Rohrstock greift. Persönliche Freiheit, Entscheidungen, die zu treffen sind, und immer wieder Korruption und übersteigerte Tradition führen auf der Strasse und in der Schule zu harschen Protesten. Inhaltlich eine spannende, politische Geschichte, filmisch etwas langatmig und hölzern.
Die Macht der Geschichten
Anlässlich der 20-jährigen Mitgliedschaft der Schweiz in den Vereinten Nationen, war UN Botschafter Maher Nasser bereits gestern auf der Piazza Grande. Dort betonte er schon, wie wichtig es ist, Themen wie Menschenhandel ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Bei einem Publikumsgespräch heute unterstreicht Nasser das Gewicht, das Filme, als heutige Geschichtenerzähler, haben, wenn es darum geht, komplexe Themen an die Öffentlichkeit zu bringen. Geschichten können da ins Bewusstsein gelangen, Aufmerksamkeit schaffen und Veränderungen anstossen, wo Daten, Zahlen und Fakten nur eine Art Hintergrundrauschen erzeugen.
UN Botschafter Nasser und Giona A. Nazzaro
Ausdrucksformenvielfalt
Das Kurzfilmprogramm der vielen Formen und Formate an diesem Sonntag.
Aus einer Übung mit 16 mm-Kamera entsteht Serafina von Noa Epars und Anna Simonetti. Dazu eine Westernbildästiethik und eine zügige Montage, ergibt einen interessanter Versuch, der aber nicht komplett gelungen ist.
Quadratisches 1:1 Format gibt es in At little wheelie three days ago von Andrew Stephen Lee. Interessanter als das Bildformat sind die menschlichen Interaktionen. Ein Vater, der einen Internetclip für bare Münze nimmt, und loszieht, seine, sich vermeintlich in Gefahr befindliche, Tochter zu retten. Am Ende drischt ein wütender Mob auf das Auto des vermuteten Aggressors ein. Das Format bringt der Geschichte allerdings keinen wirklichen Mehrwert, ist aber als Fingerübung ganz nett. Richtig toll ist: Fairplay von Zoel Aeschbacher. Auch hier geht es um menschliches (Fehl)Verhalten. Drei verschiedene Szenarien mit völlig schwachsinnigen Wettbewerben werden parallel montiert. Die Situationen beschleunigen, und laufen immer mehr aus dem Ruder, bis jede der drei in einem grausigen Höhepunkt enden. Idee, Kamera und Schnitt in perfekter Einheit.
Luna que se quiebra sobre la tiniebla de mi soledad von Lucia Mariani ist ein No-Budget Projekt, was an sich erstmal nichts Schlechtes ist. Leider fällt es schwer, der Geschichte zu folgen, die auch mit diversen visuellen Spielereien aufwartet, deren Zweck innerhalb des Films sich nicht erschliessen.
Big bang von Carlos Segundo ist eine böse Geschichte. Der Kleinwüchsige Chico, der in Öfen steigt, um sie zu reparieren (oder um sie zu zerstören?), entkommt, im Kofferraum eines Autos reisend, als einziger lebend einer Massenkarambolage. Im Krankenhaus trifft er auf eine schwarze Hausangestellte, die ihren Job verlieren wird, weil sie bei ihrem Kind in der Klinik bleiben will. Zwei Ausgegrenzte der Gesellschaft und ein Big Bang. Kurz und böse.
Vorführkabine (c) ch.dériaz
Geschmackssachen
Zur Einführung von Bianca Lucas‘ Love Dog erzählt der künstlerische Leiter Nazzaro, wie einhellig sie diesen Film in der Auswahl toll und bewegend fanden.
Das klingt vielversprechend. Der Film allerdings erweist sich als sehr sperrig.
Ein junger Mann fährt scheinbar ziellos durch die Gegend, irgendetwas bedrückt ihn. Aber was? In sehr dunklen Bilder, bei denen auch nicht immer klar ist, wo die Schärfe liegen soll, erfährt man ganz langsam, dass sich seine Freundin umgebracht hat. Er trauert, er leidet, manchmal trifft er Freunde, oder redet mit Fremden in Internetforen. Kurze Einstellungen zeigen die Freundin. Aber so wirklich schafft man nicht einzusteigen in die Geschichte. Gar nicht so wenige Zuschauer verlassen vorzeitig den Saal. Beim Publikumsgespräch im Anschluss klärt sich wenigstens, warum der Film oft so rau und unfertig wirkt. Gedreht wurde während des Lockdowns, mit einem Minimalteam bestehend aus Regie, Kamera und dem (Laien)Darsteller. Auch ein Drehbuch im eigentlichen Sinn gab es nie, nur die Idee, dass die Figur mit ihrer Trauer umzugehen hat. Nun gut, dafür ist es nicht schlecht geworden, aber, dass das die Auswählenden des Festivals so umgehauen haben soll, ist schwer zu verstehen.
Mehr Gewitterwolken (c) ch.dériaz
Und schon wieder ist der Himmel tief dunkel schwarz beim Rauskommen aus diesem dunklen Film. Das sieht sehr schlecht aus für die Piazza heute Abend; bei allem Optimismus.
Wer bei diesem Wetter lieber am See liegen mag, kann trotzdem ein Festivalzeichen setzen, mit leopardengemusterte Flipflops oder Badehandtüchern, die es, neben weiterem Marketing-Schnickschnack, zu kaufen gibt.
Für alle anderen gilt, von Kino zu Schatten und von Schatten zu Kino zu gelangen, ohne sich dabei komplett aufzulösen. Die nicht kommerziellen Schattenplätze sind allerdings dünn gesät, auch wenn dieses Jahr wieder der Spazio Cinema zwischen Fevi Kino und La Sala in Betrieb ist.
Publikumspreis
(c) ch.dériaz
Kleiner Nachtrag zum Eröffnungsabend, die Piazza war mit 8000 Besuchern ausverkauft, nochmal etwa 2000 hatten gleichzeitig im Fevi Platz, wo die Filme der Piazza jeden Abend parallel gezeigt werden.
An sich sollte die Abstimmung für den Prix du Public via Festival App funktionieren. Klingt leicht genug. Code des Tickets einscannen, Namen eintippen, wenn man möchte, und schon kann man Sterne vergeben. Bloss, mit einem Festivalpass (egal welchem) funktioniert das nicht. Da man als Passbesitzer für die Piazza kein Ticket zu reservieren braucht, fehlt der Beweis, dass man wirklich am Abend den Film geschaut hat.
Also: keine Chance abzustimmen.
QR-Code in Blumensamen
Zwei Festivalmitarbeiter und drei Anrufe später ist klar wie man doch mitmachen kann. Nahezu altmodisch mutet der notwendige Trick an: nach dem Einlass auf die Piazza verteilen Mitarbeiter Kärtchen mit einem individuellen Code, der dann wiederum in der App eingescannt werden kann, der Abstimmung steht dann nichts mehr im Wege. Vermutlich wird es ein bisschen dauern, bis sich das herumgesprochen hat, es sei denn, es wird irgendwie in der App noch als Weg eingetragen. Die Karten sind übrigens abbaubar und mit Blumensamen „getränkt“.
Lateinamerikanisches Kino
Die Sektion Open Doors widmet sich immer dem Filmschaffen ganzer Regionen, ab diesem Jahr und noch bis 2024 ist das Lateinamerika und die Karibik. Der erste Tag startet mit einem Film aus der Dominikanischen Republik. Una película sobre parejas von Natalia Cabral und Oriol Estrada. Ein Film über das Filmen eines Dokumentarfilms. Das Regiepaar Cabral/Estrada spielt ein Regiepaar auf der Suche nach einem Thema für seinen nächsten Dokumentarfilm. Geldgeber wurden überzeugt, auch wenn man nicht genau weiss auf Basis welcher Idee. Und so entspinnt sich ein gleichermassen witziges und wahres Portrait über die Mühen, als Paar einen Film zu machen und gleichzeitig als Paar zu bestehen. Witzig, sensibel und sehr gut gemacht.
Metaphern und Mehr
Das erste Kurzfilmprogramm zeigt sich vielschichtig und mit reichlich Freude am Experimentieren. In Tiger stabs Tiger von SHEN Jie geht es subtil um Gewalt. Der Animationsfilm nutzt dafür nur Schwarz-, Weiss- und Grautöne und hin und wieder ein schockierendes Rot, ganz zart, subtil und grausam. Die Figuren in einer Art, mit einem Strich, der an Schiele erinnert, bloss statt ausgemergelt eher rundlich. Verstörend und schön.
Unsere Erde brennt, nicht nur metaphorisch, sondern ganz real. In Il faut regarder le feu ou brûler dedans von Caroline Poggi und Jonathan Vinel, mischen sich reale Nachrichtenbilder von Feuern in Korsika mit der fiktiven Geschichte einer Brandstifterin. Feuerlegen als vermeintliche Rettung einer zubetonierten Welt, in der es nicht mehr lebenswert zu sein scheint.
Auch Der Molchkongress von Matthias Sahli und Immanuel Esser spielt mit Metaphern. Molche, eingesetzt, um zu dienen, zu buddeln und zu gestalten, nehmen überhand und scheinen damit die Welt immer mehr zu beherrschen. Der Mensch steht machtlos vor den Kreaturen, die er schuf und rief. Sehr schön sind die grossen Molchpuppen, und die Puppenspielarbeit mit ihnen inmitten realer Darsteller.
Asyl, Scheinehe oder doch eine echte (lesbische) Liebe? Madar tamame rooz doa mikhanad von Hoda Taheri mischt die Möglichkeiten und lässt den Zuschauer über die „wahren Absichten“ im Dunkeln. Ein bisschen zu lang, und mit teilweise zu lautem, klirrenden Ton, was in Dialogpassagen wirklich unschön ist.
(c) ch.dériaz
Im Kreis drehen
Der indonesisch-malayische Film Stone Turtlevon Ming Jin Woo begeistert und nimmt mit. Am Anfang die Ermordung einer Frau, begründet mit verlorener Ehre, die nur durch Blut wiederhergestellt werden kann. In der Folge reiht der Film Gewalt und lang gepflegte Rache in sich wiederholenden Kreisen aneinander. In jeder Wiederholung erfährt man mehr vom Hintergrund der Geschichte, in jeder Wiederholung spielt sich die Gewalt etwas anders ab, um am Ende doch wieder dasselbe Ergebnis zu haben. Jeder neue Versuch macht es klarer, nichts wird besser durch Rache und Gewalt, aber niemand kann aus seiner Haut. Die Geister sind, einmal losgelassen, unbarmherzig. Eine Parabel auf die Sinnlosigkeit dieses Teufelskreises, und innerhalb der Parabel noch eine Parabel, die gezeichnete Geschichte der Steinschildkröte, und ihrer sinnlos gewordenen Aufgabe.
Bühne frei für Udo Kier
Zum 75. Geburtstag gehört die Bühne der Piazza am Abend zunächst einer grossen Anzahl ehemaliger künstlerischer und operativer Leiter, jeder und jede mit einer kurzen Erinnerung an die Zeit in Locarno. Matt Dillon bekommt einen Leoparden für sein Lebenswerk, auch wenn er betont dafür doch deutlich zu jung zu sein, und potentielle Regisseure unter den Zuschauern anbietet ihn zu besetzten.
My neighbor Adolf von Leon Prudovsky bringt dann nicht nur den Regisseur auf die Bühne, sondern auch die drei Hauptdarsteller. Udo Kier wäre nicht, wer er ist, würde er diese Chance nicht nutzen.
Die Folge: ein Spektakel, das nur noch schwer zu stoppen ist, eine, im besten Sinne, Rampensau bei der Arbeit – herrlich.
My neighbor Adolf spielt mit der Idee, dass ein Holocaustüberlebender in seinem südamerikanischen Exil plötzlich einen deutschen Nachbarn bekommt, den er für Hitler hält. Verschreckt, aber auch entschlossen, sucht er nach Belegen. Er setzt sich mit der israelischen Botschaft in Verbindung, wo man versucht, ihn als Spinner abzuwimmeln. Der Film wird getragen vom Spiel der beiden Hauptdarsteller, Udo Kier und David Hayman, die zwei skurrile alte Männer mit extrem viel Charme, Stolz und Würde spielen. Die Wendung, die der Film dann nimmt, sieht man tatsächlich nicht kommen; eine rührende Satire, oder eine traurige Komödie, die viel Applaus bekam.
Erst heiß, dann nass
(c) ch.dériaz
Während sämtliche Wettervorhersagen behaupten, es gäbe heute Regen, scheint unbeirrt weiter die Sonne.
Aus Gesprächen ist herauszuhören, dass die Blumenkärtchen zum Abstimmen für Festivalpass-Besitzer nur schleppend funktionieren; zu wenig Kärtchen, zu wenig klar, wie man abstimmen kann. Nicht abstimmen können, das kommt in der Schweiz nicht gut an. Verbesserungsbedarf besteht auch eindeutig bei der Abdeckung mit WLAN, es gibt zwar seit letztem Jahr ein Festivalnetz, aber das besteht nicht überall in der Stadt (und die ist klein). Und so steht man oft ohne Internet da, während fast alles über Handy Apps laufen soll. Prinzipiell ist die Festival App auch off-line arbeitsfähig, ausser sie hat einen mal wieder abgemeldet, denn ohne Netz ist keine neue Anmeldung möglich.
Inneres nach Aussen
Petrol von Alena Lodkina ist ein seltsamer Film. Angefangen beim Titel, dessen bedeutung sich innerhalb des Films nicht erschliesst. Der Erklärung der Regisseurin nach, ist es eine Art Metaebene, eine Anspielung auf urbanes Leben, auf das was unter dem Asphalt liegt in unseren Städten. Es bleibt auch mit dieser Erklärung wirr. Ähnlich geht es einem mit der Geschichte. Zwei junge Frauen, die eine Regiestudentin, die andere Künstlerin, treffen aufeinander, beide scheinen angetrieben von irgendwelchen Geheimnissen, Sehnsüchten oder Geistern. Wind bläst, wirft Dinge um, erschrickt. Inneres wird scheinbar nach aussen gekehrt, aber was dieses Innere ist, warum es raus will, bleibt das Geheimnis der Regisseurin. Was schade ist, denn eigentlich möchte man den Figuren folgen, sich ihrer Sinnsuche/Selbstfindung hingeben, mitleiden, mitfiebern, mitlernen. Aber man bleibt draussen und man bleibt verwirrt. Und das ist in diesem Fall kein positiver Zustand am Ende eines Films.
(c) ch.dériaz
Publikumsgespräch
Im Vorbeigehen ein kurzer Blick zum Publikumsgespräch mit Udo Kier, schon von Weitem ist klar: der Mann geniesst auch heute das Rampenlicht. Die vielen Zuschauer hängen gebannt an seinen Lippen. Da ich nur vorbeischaue, um gleich weiterzugehen, stehe ich hinten, und werde kurz zum Fokus von Kier, ein fröhliches „hallo dahinten“ gilt eindeutig mir. Wir haben uns für ein paar Sekunden das Rampenlicht geteilt.
Off-Stimmen
Laut Moderatorin, ist das Gemeinsame der heutigen Kurzfilme, dass sie alle von Wahrheit erzählen.Tatsächlich ist ihnen hauptsächlich der Einsatz einer Off-Stimme gemeinsam.
Songy Seans von Darezhan Omirbaev treibt das System dabei auf die Spitze. Ein Schüler, mal Zuhause, mal in der Schule, viel in Bussen und U-Bahnen unterwegs, und immer Stimmen aus dem Off. Anfangs wirkt das noch interessant, erinnert an die Engel in der U-Bahn in „Himmel über Berlin“. Aber mit der Zeit scheinen die Texte wichtiger zu werden, als das Bild, und der Film wird zäh anzuschauen und führt nirgendwo hin. In I’m the only one I wanna see von Lucia Martinez Garcia ist nicht ganz klar, was die Stimmen, die über einer erotisch tanzenden Frau liegen, darstellen sollen. Im Verlauf des Films scheinen sie, im Wesentlichen, böse, hasserfüllte und sexistische Internet Kommentare zu sein. Castells von Blanca Camell Galí fängt an mit einer Frau, die durch Barcelona geht, im Ohr die Stimme ihres französischen Liebhabers, den sie verlassen zu haben scheint. Eine Frau, die weggeht, um am Ende zurückkommen zu können, dazwischen viel katalanisches Lokalkolorit und einige flüchtige Liebschaften. Misaligned von Marta Magnuska ist der einzige Animationsfilm in diesem Program. Wunderschöne Kohlezeichnungen, leicht verschwommen, schwebend, erzählen sie vom Nebeneinander eines Paars. Eine Lebensführung, die immer rasanter wird und in der die Figuren nicht zusammenkommen. Sehr schön. Mulika von Masha Maene kombiniert wieder eine Off-Erzählstimme mit extrem spannenden, verrückten Bildern. Ein auf der Erde gestrandeter Astronaut, glitzernd und leuchtend geht er durch ein afrikanisches Dorf, Tradition und Science-Fiktion treffen aufeinander, zeigen Verbindendes. Die Zukunft der Vergangenheit, oder die Vergangenheit der Zukunft, Rettung ist eine Möglichkeit.
Dunkle Wolken (c) ch.dériaz
Raus aus dem Kino, der Himmel ist schwarz, Wind ist aufgekommen und bringt die Leute zum kollektiven Aufatmen. Zu dick war die Luft bis jetzt. Ab in den nächsten Kinosaal, das mögliche Gewitter bleibt draussen.
Schwärzer als schwarz
Die Regisseurin Patricia Mazuy beschreibt vor der Vorführung ihren Film Bowling Saturne als die Auslotung des Schwarzen. Dem kann man am Ende uneingeschränkt zustimmen. Wenige Psychothriller sind so konsequent düster und offensichtlich brutal. Zwei Halbbrüder, die über lange Phasen der Geschichte echte Antagonisten sind, der eine Polizist, der andere Psychopath mit mörderischen Neigungen. Ein Film, in dem fast immer Nacht zu sein scheint, die wenigen Szenen bei Tag haben dafür innere Düsternis, und am Ende gibt es viele hässlich zugerichtete Leichen und viel Raum für alle Schattierungen von Schwarz.
Der Regen hat diese Vorführung genutzt, um etwas Abkühlung zu bringen, und sich dann wieder verzogen, einem trockenen Abend auf der Piazza steht nichts im Weg.
Grosse Gefühle
Die Literaturverfilmung Where the Crawdads Sing von Olivia Newman beeindruckt in erster Linie durch die tollen Bilder einer traumhaft schönen Landschaft, und durch das Spiel der jungen Hauptdarstellerin, Daisy Edgar-Jones. Die Geschichte bietet ein Panorama an menschlichen Dramen. Prügelnder Familienvater, verlassenes kleines Mädchen, Vorurteile, Liebe, Verrat und ein möglicher Mord. Parallel montiert in Rückblenden und während der Gerichtsverhandlung hält der Film seine Spannung, liefert ganz grosse Gefühle und am Ende eine kleine gemeine Wendung, als Fussnote sozusagen. In den letzten Minuten fing es dann passenderweise an, leise zu regnen, aber nichts, was die Zuschauer hätte vertreiben können.
Von Anfang an hat sich das Locarno Film Festival das Neue, das Andersartige, das Anspruchsvolle auf die Fahnen geschrieben. Von Anfang an war die Idee, grosses Kino zu zeigen, ohne die künstlerischen und intellektuellen Werte dabei zu verlieren.
Seit 75 Jahren gelingt das jeden Sommer aufs neue; ein A-Festival, das immer ein wenig anders ist als die anderen, und sich trotzdem nicht nur an Fachpublikum richtet. So treffen zukünftige Geheimtipps auf mögliche Blockbuster, Filme aller Genres, aus allen Ländern, messen sich in den diversen Kategorien und hoffen auf die begehrten Leoparden. Auf der Piazza Grande müssen Filme vor einer der kritischsten Jurys überhaupt bestehen: dem Publikum; da sind schon grosse Namen preislos abgezogen, während scheinbar Unscheinbares Triumphe feierte.
Neustart mit 75
Giona A. Nazzaro (c) ch.dériaz
Für den künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro ist diese Jubiläumsausgabe so etwas wie die erste Ausgabe, ein Neustart, ein Wiederaufstehen nach den beiden letzten Jahren, die wegen der Pandemie irgendwie mit halber Kraft liefen.
Ein Neustart, der aber nicht versucht, andere Wege zu gehen, sondern der weiterhin das Kino in seiner Vielfalt zelebrieren will, und dabei darauf achtet, Neues zu integrieren. Neue Techniken, neue Sichtweisen, aber auch neues, und auch jüngeres Publikum, für Film und Film im Kino zu gewinnen.
Festivalpräsident Marco Solari unterstreicht diesen Geist des Aufbruchs, der immer auch ein Dialog mit dem Vergangen sein muss.
Wo kann das besser gelingen als im sommerlich-sonnigen Locarno, mit mehr Sponsoren im Rücken, mehr staatlicher (Film)Förderung und dem Zusammentreffen von Künstlern, Zuschauern und Urlaubern auf kleinstem Raum.
Warten (c) ch.dériaz
Action auf der Piazza
Vor dem Eröffnungsfilm ein erster Kurzfilm, aus einer Reihe mit dem hübschen Namen: „Postkarten aus der Zukunft“.
Der Kurzfilm von Natalka Vorozhbyt zeigt, wie das Trauma des Krieges, auch im Exil, weiter Macht über die Menschen hat. Wenn einfache, alltägliche Geräusche zu Angst und Panik führen, und der Abbruch eines Hauses Sirenengeheul und Bombenlärm zurückbringt. Der Film bewegt und macht nachdenklich.
Angesichts der aktuellen politischen Lage mag ein Film wie Bullet Train von David Leitch, der Gewalt geradezu zelebriert, zynisch wirken.
Davon abgesehen ist das blutrünstige Rachespektakel absolut unterhaltsam.
Sofern man sich an den Blutfontänen, der lauten Musik und der wilden Erzählstruktur nicht stört. Triaden, Auftragskiller, offene Rechnungen, Familienkonflikte und ein Auftragskiller mit Selbstzweifeln, dazu ein japanischer Hochgeschwindigkeitszug, eine Konstellation, die immer wieder schrägen Wendungen bringt. Laut, blutig, ein bisschen albern und sehr unterhaltsam.
Ob es wegen des Filmkrachs nur nicht zu hören war, aber es scheint, dass keine Stühle während dieser ersten Vorstellung zerbrochen sind.
Maskenfreiheit
(c) ch.dériaz
Die Pandemie ist für das Festival beendet, oder zumindest wirkt es so. Keine Masken, keine festen Sitzplätze, Kinos voll. Immerhin ist die Reservierung von Plätzen geblieben, so könnte sich das Gedrängel an den Eingängen eventuell in Grenzen halten. Die nächsten 10 Tage werden es zeigen.
Das Programm ist schon seit einer Weile online, aber erst seit Anfang dieser Woche stehen auch die Termine genau fest. Die Locarno App ist jetzt auch freigeschaltet, der Vorarbeit und der Vorfreude steht also nichts mehr im Weg. Ein schneller Blick ins Programm verspricht Spannendes, Schräges und Politisches, und auch Filme, die sensible Zuschauer schockieren werden können.
Unter Letzterem waren in den vergangenen Jahren eher Filme von schockierend mickeriger Machart zu verstehen, aber man darf ja hoffen und träumen im Kino.
Menschliches Interagieren
Familien, die auseinander fallen; Welten, die man für sicher hielt, zerbrechen; Lieben gehen verloren und Seltsames ereignet sich.
Nur ein paar Themen – mal bunt, mal schwarz-weiss — aus dem Wettbewrb Cineasti del presente:
Im internationaler Wettbewerb läuft Nikolaus Geyrhalters neuer Dokumentarfilm Matter out of Place. Ein Film vomMüllentsorgen in entlegenen Gegenden. Wer Geyerhalter kennt, weiss dass das spannend wird.
Wieder Gewalt (mit Warnhinweis) und Familie, die nicht halten wird, was man sich von ihr verspricht in: Bowling Saturne von Patricia Mazuy
Und satanisch soll es in Skazka (Fairytale) von Alexander Sokurov zugehen.
Gross und laut
Der Eröffnungsfilm auf der Piazza Grande, dem Ort für eher konventionelleres Kino, verspricht mit Bullettrain von David Leitch schnell, laut und spannend zu werden.
Mehr und vor allem mehr im Detail gibt es ab 3. August.
Wer sich so gar nicht für Fussball interessiert, kann jetzt sofort aufhören zu lesen. Auch Menschen, für die Frauen im Sport nur dann zählen, wenn sie wahlweise halb nackt, tänzelnd oder beides gleichzeitig sind, können genau hier aufhören zu lesen. Für alle anderen: Am 6. Juli startet in England die Fußballeuropameisterschaft der Frauen. Das ist jetzt vielleicht prinzipiell kein so echtes Filmthema. Andererseits, Fussball ist vor allem aufgrund seiner medialen Präsenz so gross geworden. Die grossen Summen, die im Männerfussball fliessen, ergeben sich aus Übertragungsrechten gepaart mit Werbeminuten – grob gesagt. Fussball ist also doch auch ein Filmthema, oder ein Zuschauerthema.
Wer schaut, bestimmt
Filme, Sendungen, Übertragungen, die keiner sieht, sind kommerziell nichts wert, entsprechend wenig werden sie gezeigt, entsprechend wenig können sie gesehen werden. Es gilt also, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Und tatsächlich, der ORF, zum Beispiel, überträgt alle Spiele der Frauenfussball EM live, das ist eine Premiere.
Auch öffentliches und gemeinsames Schauen im Freien ist möglich und im Angebot. Das sommerliche Wetter drängt förmlich dazu, mit anderen Fans, einem kühlen Getränk in der Hand die (Fussball)Welt – ein bisschen – zu verbessern.
Es kann also nicht verkehrt sein, ein wenig Werbung zu machen, damit die mediale Präsenz nicht ein einmaliger „Ausrutscher“ bleibt, damit fussballspielende Frauen sichtbarer werden.
Zuschauer sind Konsumenten und sind damit wertvoll und mächtig.
Diese Chance sollte man nicht ungenutzt lassen.
Profis
Wer immer noch glaubt, dass Frauen keinen professionellen Fussball spielen können, kann bei der Gelegenheit schauen, staunen und lernen. Oder sich einfach dazustellen, weil es gerade im Trend liegt, auch das ist recht. Am Ende gewinnen alle.
Hinter jeder getroffenen Entscheidung verbirgt sich – mindestens – eine Entscheidung, die man verworfen hat.
Was also, wenn alle diese ungenutzten Möglichkeiten eine eigene, parallele Welt generierten, in denen die verworfenen, nicht getroffenen Entscheidungen, getroffen wurden? Everything Everywhere All at Once von Daniel Scheinert und Daniel Kwan spielt die multiplen Möglichkeiten durch.
Frechheit siegt
Ausgangspunkt ist eine chinesischstämmige Familie in den USA. Das Ehepaar betreibt einen Waschsalon, der mehr schlecht als recht läuft, der alte Vater muss mitbetreut werden und die Teenager-Tochter ist lesbisch. So weit bieten sich vielfältige Variablen, aus denen Stoff für Stress und Komik geholt werden können. Auf dem Weg zum Finanzamt mischt sich dann aber die erste neue Spur in die Geschichte: ein Paralleluniversum, das dringend Hilfe braucht. Ab da wird der Film mit jeder Wendung wilder, mischt asiatische Kampfkunst mit Science Fiction, Komik mit Spannung, persönliche Befindlichkeiten mit philosophischen Fragen. Das funktioniert mittels rasanter Schnittfolgen, in denen in der Bewegung von Welt zu Welt gesprungen wird. Visuelle Spielereien, kurze Animationssequenzen inklusive, treiben das Spektakel auf die Spitze.
Ehefrau und Tochter werden zu zentralen Figuren des Verwirrspiels, die die Geschichte vorwärtspeitschen, aber gleichzeitig agieren und reagieren müssen.
Die Frage, „wer bin ich wo?“, hat viele Antworten. Oder auch nur eine.
Loslassen
(c) ch.dériaz
Genau wie die Figuren muss man als Zuschauer loslassen. Versuche, sich dauernd zu orientieren, aufgeben, geschehen lassen, treiben lassen und das Spektakel geniessen. Eine gewisse Freude an choreographierten Kampfszenen kann dabei natürlich nicht schaden, und das bisschen moralisches Pathos geht dann auch in Ordnung. Die Mischung all dieser verschiedenen Genres hätte eine unverdauliche Suppe ergeben können, statt dessen ist ein extrem cooler, witziger Film daraus geworden.
Originalversion
Mehr als sonst gilt die Empfehlung, diesen Film in seiner Originalversion zu sehen, denn auch der Wechsel von einer Sprache zur anderen spielt eine dramaturgische Rolle und wird als Ausgangspunkt für Spässe mit den handelnden Figuren genutzt.
Mit den Juryentscheidungen und den Preisvergaben ist die 51. Ausgabe von Visions du Réel zu Ende gegangen.
Zum Glück lassen sich die Filme online noch nachholen. Hier also drei Preisträgerfilme in der Einzelkritik.
Auf der Suche nach dem verlorenen Hund
Der Preis in der Kategorie Kurz- und Mittellange Filme geht an: Without (Bez) vonLuka Papić. Ausgehend vom Verschwinden eines kleinen Hundes, wird hier von Gott und der Welt fabuliert. Ein Maler sucht seinen anscheinend verlorenen Hund. Statische Bilder, die gleichzeitig ikonisch und schmutzig aussehen, bilden den Hintergrund für die oft im Off vorgebrachten Ideen zu Hunden, Religion, Vorurteilen und der Welt an sich. Eine schräge Geschichte, an deren Ende zwei Strassenhunde Cervantes „Gespräch zweier Hunde“ (auf)führen und damit den intelligentesten Dialog des Films führen.
Ach ja, der verschwundene Hund des Malers meldet sich telephonisch: alles in Ordnung, es gehe ihm gut.
Without(Bez) (c)Luka Papić
Auf der Suche nach Eisbären
Der Preis der Jugendjury geht an: Churchill, Polar Bear Town von Annabelle Amoros. Im Norden Kanadas sind Eisbären, die in Städte kommen, ein Problem, aber auch eine Touristenattraktion. Der Film zeigt, wie Patrouillen in Autos und Hubschraubern nach Eisbären suchen, um sie anschliessend mit Lärm zu vertreiben und zu vergrämen. Weite Landschaften im Breitbildformat menschen- und bärenleer, aber mit viel Schnee und Eis, und dann tauchen tatsächlich auch vereinzelt Eisbären auf. Eine spielerisch-verspielte Reportage über das Zusammenleben von Mensch und Tier, die sich auch nicht ganz ernst nimmt.
Churchill, Polar Bear Town (c)Annabelle Amoros
Mysterien am Fluss
Der Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs geht an ein Hybrid zwischen Spiel- und Dokumentarfilm: L’îlot von Tizian Büchi. Ein ruhiges Wohnviertel ausserhalb von Lausanne, kleine Mehrfamilienhäuser, Kinder spielen auf der Strasse, ein Flüsschen mit verwildertem Uferbereich, alles scheint ganz entspannt. Trotzdem gehen zwei Wachmänner Tag und Nacht durchs Viertel, sperren den Uferbereich mit Flatterband ab, schauen, dass alles ruhig bleibt. Aber zu keinem Zeitpunkt wird enthüllt, warum sie da sind. Immer wieder scheint eine Begründung gleicht kommen zu können, aber nein, der nächste Satz handelt von ganz etwas anderem, und das Mysterium bleibt erhalten. Langsam und in sehr schönen Bildern wird das Viertel erzählt, die Menschen, die dort leben, die Wachleute, man erfährt vieles, während die Spannung in der Luft hängt. Alles bleibt in einem ruhigen Fluss und führt letztlich nur im Kreis, wie die Runden der Wachen. Und am Ende ist man wieder an derselben Stelle wie zu Beginn: am Flussufer, wo vielleicht irgendwann etwas passiert ist, oder eben auch nicht.
L’îlot (c) Tizian Büchi
Das war’s
Es ist interessant, dass doch einige der Preisträgerfilme sich nicht streng in die Kategorie Dokumentarfilm einordnen lassen. Mal ist die „Inszenierung“ klar, mal ist sie subtil, manchmal sieht man sie – vermutlich aus Unkenntnis – gar nicht.
Es gab auf jeden Fall viele künstlerisch spannende, inhaltlich sehr unterschiedliche Filme zu sehen. Der Dokumentarfilm gehört definitiv in die Kinos. Alle Preise gibt es hier.