Das war sie also, die Jubiläumsausgabe der Diagonale. Die Kinos waren voll wie in vorpandemischen Zeiten und auf den Caféterrassen trafen sich Filmschaffende und Zuschauer. Wie oft gab es etwas mehr lange Dokumentarfilme(20) als lange Spielfilme(18). Es wurden weiterhin mehr Filme von Regisseuren gezeigt (oder gedreht?) als von Regisseurinnen, etwas mehr Regisseurinnen bei den Dokumentarfilmen.
Dafür waren die Jurys überwiegend von Frauen besetzt.
Dennoch, es bleibt die Frage: Wo sind die ganzen Regisseurinnen?
Die Preise
Zumindest eine Regisseurin findet sich bei den Gewinnern.
Sabine Derflinger gewinnt verdient den Grossen Diagonale Preis Dokumentarfilm für Alice Schwarzer.
Der Grosser Preis Spielfilm geht an RiminivonUlrich Seidl, der Film gewinnt auch für das beste Kostümbild, der Preis geht an Tanja Hausner.
Sowohl der Preis für die beste Kamera, Crystel Fournier, als auch für die beste künstlerische Montage,Joana Scrinzi, gibt es für den Spielfilm Grosse Freiheit. Beide, Fourniers Kamera und Scrinzis Schnitt tragen ganz wesentlich diesen tollen Film. Mehr zu Grosse Freiheithier.
Dass Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien den Preis für die beste künstlerische Montage gewinnt, erschliesst sich nicht wirklich. Nicht weil etwas an Dieter Pichlers Leistung auszusetzen ist, aber der Film bleibt eine zweistündige Werbung, egal wie ordentlich geschnitten er ist.
Der Publikumspreis geht an Andrina Mračnikar für ihren Film Verschwinden / Izginjanje. Auch ohne den Film gesehen zu haben, es ist immer wieder eine schöne Überraschung, dass Festivalpublikum oft einem (politischen) Dokumentarfilm seinen Preis zuspricht.
Kalt ist es geworden über Nacht und nass. So werden dann die angenehmen Pausen zwischen zwei Vorstellungen plötzlich unangenehm lang. Kein Sitzen in der Sonne, sondern die Suche nach Innenräumen mit heissen Getränken.
Arbeitswelt
Eine Institution ist 100 Jahre alt. Constantin Wulff zeigt, wie diese funktioniert in: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien. Der Film kommt komplett ohne Kommentar aus, dennoch wird fast die ganze Zeit geredet. Über die zwei Stunden Länge wird es dann irgendwann zu viel.
Die Funktion der Arbeiterkammer als einerseits Beratungs- und Unterstützungsstelle für alle arbeitsrechtlichen Belange, als auch politische Institution nach Aussen, ist nicht nur wichtig, sondern auch löblich. Aber trotz der ruhigen Kamera, trotz der netten, motivierten und vielsprachigen Mitarbeiter, man wird auf die Dauer müde, dem allen zuzuhören. Zuzuhören deshalb, weil die Bilder sich nicht so wahnsinnig verändern. Beratungen und Teambesprechungen, Pressekonferenzen und Auftritte im Parlament sehen sich irgendwann doch alle sehr ähnlich. Besonders lustig wird es, wenn mittlerweile überholte Ansichten zum Thema Pandemiedauer zu hören sind, oder mittlerweile abgesetzte Politiker einen Kurzauftritt haben. Aber gut, diese Freude war wohl nicht wirklich im Konzept des Films geplant. Der Film wirkt insgesamt mehr gut gemeint als gut, macht über seine Länge mehr Werbung für die Institution Arbeiterkammer, als man sich im Kino anschauen möchte.
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Assoziative Innenschauen
Acht Kurzfilme der Sektion Innovativ- oder auch Experimentalkino. Die Filme umfassen von 16 mm Arbeiten bis Animation ein breites handwerkliches Spektrum.
KatharinaViktoria 2(021) von Viktoria Schmid lässt ihr Gesicht und das ihrer Schwester in 16 mm Einzelbildern drehen, alterniert sie rhythmisch, um zu sehen, zu zeigen, wie viel Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Kurzweilig – 1Minute – und schön und mit dem satten Projektorknattern im Rücken.
Für Under the microscope von Michaele Grill muss man den Katalogtext gelesen haben. Ohne den Text versteht man nicht, dass es sich bei den pulsierenden, wabernden Formen um Ausschnitte aus Wissenschaftsfilmen der 1920er Jahre handelt. Unterlegt ist das Ganze mit elektronischen Geräuschen.
Auf der Suche nach dem Ich, oder zumindest der inneren Stimme ist Ganaël Dumreicher in Otoportait. Er filmt zunächst sich, steil von oben, mit einer Handykamera. Man beobachtet, wie er etwas versucht zu schlucken. Einen Schlauch? Eine Kamera? Ein Mikrophon? Dann kehrt sich das Innere nach aussen, und Bilder einer Magenspiegelung, mit einer Tonkollage aus Würgen und Schlucken unterlegt. Innen, aussen, innere Stimme, Ich. Ein bisschen gruselig, irgendwie.
Sehr schön ist In the upper room von Alexander Gratzer. Der Animationsfilm zeigt eine Generationsliebesgeschichte. Der Enkel wird erwachsen, während er sich vom geliebten Grossvater verabschieden muss. Schön, schlicht, berührend.
Und wieder rattert der Projektor von hinten für: Das Rad von Friedl vom Gröller. Kreisbewegung in Form von radschlagenden Mädchen.
Nach 7 Jahren sieht Sie möchte dass er geht, sie möchte dass er bleibt von Viki Kühn erstmals die Leinwand. Davor lag der Film in einer 80 Minuten Fassung in der Schublade, am Ende sind 13 Minuten geblieben, die assoziativ von einer Beziehung handeln.
Auch experimentelle Kurzfilme können sich sehr direkt mit pandemischen Massnahmen befassen. Zwei lustige Minuten lang zeigt Friedl vom Gröller in 2020 Zähne: beim Zahnarzt, hinter runter gezogenen Schutzmasken, in Hundeschnauzen. Zähne, die in letzter Zeit tatsächlich selten zu sehen waren.
Noch eine assoziative Reise, diesmal gerichtet an ein noch nicht geborenes Kind. Die Welt ist an ihren Rändern Blau von Iris Blauensteiner und Christine Moderbacher, mischt Archivvideos, Babyultraschall und Selbstgedrehtes, das eigentlich ein anderer Film hätte werden sollen. Der Text gibt den disparaten Bildern einen Rahmen, macht den Gedankenfluss dadurch allgemein verständlich.
Multiplexen
Samstag Nachmittag im Multiplex. Es piept, fiept und klirrt. Das Foyer des Kinos ist voll mit Kindern an elektronischen Maschinen. Dazwischen Diagonalezuschauer und Kinozuschauer auf dem Weg zum aktuellen Blockbuster, es riecht nach Popcorn und Nachos.
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Liebe geht
Para:Dies von Elena Wolff zeigt auf witzige Art, was passiert, wenn Selbstdarstellung wichtiger ist als Treue oder Loyalität. Die Liebe zwischen zwei jungen Frauen zerlegt sich zusehend vor der Kamera für einen fiktiven Dokumentarfilm. Anfangs scheinen sie noch ganz romantisch von ihren Anfängen zu berichten, aber schon da schleichen sich böse Zwischentöne ein. Die Kamerafrau dient zusehends mehr als Reflexionsfläche, als Spiegel für die eigenen Selbstdarstellungen. Im Verlauf des Films wird sie mehr und mehr einbezogen, angesprochen, bleibt aber bis kurz vor Schluss unsichtbar und unhörbar. Als sie dann mit vor ihre Kamera tritt, sich mit ins Bild begibt, schnappen alle Fallen, die vorher von der einen oder der anderen ausgelegt wurden, auf einen Schlag zu. Treue, Loyalität, Liebe, alles egal.
Grenzen
Krai von Aleksey Lapin ist laut Programm ein Dokumentarfilm, dass das nicht so ganz stimmen kann, ahnt man schon nach der Kurzbeschreibung. Hier werden Grenzen ausgelotet, überschritten und umgeformt. Das Ergebnis ist originell.
Das Drehteam kommt ins kleine russische Dorf, aus dem ein Teil der Familie des Regisseurs stammt, vermeintlich, um dort einen Historienfilm zu drehen. Aber recht schnell mischen sich in das Casting mit den Dorfbewohnern auch bizarre Geschichten von verschwunden Pilzsammlern, aus dem Boden austretendem Radon, Maschinen, die nicht mehr laufen, und weitere Skurrilitäten.
Grenzen liefert auch das Bild, in schwarz-weiss und in 4:3 Format gedreht. Innerhalb dieses engeren Rahmens wird durch die Kadrierung das Bild zusätzlich begrenzt, es entstehen guckkastenhafte Räume von eigenwilliger Schönheit.
Die perfekte Szenerie für die absurde Geschichte. Gefragt, warum der Film in der Kategorie Dokumentation läuft, liefert der Regisseur die charmante Antwort: Die Finanzierung war für einen Dokumentarfilm. An sich wären alle diese Einteilungen in Fiktion-, Dokumentar- oder Experimentalfilm gar nicht nötig, aber das hiesse im Fall der Diagonale, das System der Preise neu zu regeln. So wird es dieser Film vermutlich schwer haben in seiner Kategorie einen Preis zu bekommen, aber wer weiss.
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Das war der letzte Kinoabend, morgen werden die Preise dann vergeben, Prognose wage ich lieber nicht.
Knapp nach dem Frühstück heute ein schräger, eigenwilliger Film: Wander von Rosa Friedrich. Eine surreale Apokalypse, in der tote Fische und Vögel in fluoreszierenden Farben vom Himmel plumpsen, während vier junge Menschen zwischen tosendem Meer, Schlamm und Felsen versuchen, ihre Umgebung, ihre Welt zu begreifen.
Anfangs erweckt der Film bildliche Assoziationen an Bergmanns Das siebente Siegel oder Buñuels L’âge d’or. Die suggestive Musik, die sich mit den Naturklängen mischt, und von schrägen, vielsprachigen Dialogen abgelöst wird, ein wilder (Fehl)Farbenrausch, die erste Hälfte des Films ist wirklich sensationell. Ab der Mitte geht der Geschichte immer wieder etwas die Puste aus. Leider gab es ab der Hälfte auch technische Probleme mit der Tonwiedergabe, sodass man statt Klavier, Klarinette und Stimme so etwas wie elektronische Experimentalmusik zu hören bekam. Insgesamt ein wirklich beeindruckender Film, voller lyrischer Schönheit und wilder Phantasie.
Schatten
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Als noch freie Platzwahl galt, gab es dicke, amorphe Menschentrauben vor den Kinosälen, und die Zuschauer wollten so früh wie möglich rein, um ihre Lieblingsplätze zu besetzen. Jetzt werden die Plätze beim Buchen zugewiesen, mit dem Ergebnis, dass die Leute in der letzten Minuten kommen, ihre Plätze suchen, und die Vorstellungen immer leicht verspätet beginnen.
Vielleicht geht da irgendein Mittelding?
Das Kurzspielfilmprogramm ist, wie fast alle Kurzfilmprogramme, nahezu ausverkauft. Familie und Schatten in der familiären Vergangenheit dominieren alle drei Filme. In Absprung von Valentin Badura, angesiedelt im ländlichen steierischen Gebiet, entdeckt der Enkel, beim Ausräumen des grossväterlichen Haus, eine unklare Geschichte aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Hat der Grossvater, als Wehrmachtsoffizier, einen Deserteur verraten? Und was ist dann mit dem passiert? Der Vater weiss es nicht, und wiegelt ab. Und der Enkel? Am Ende zieht er es vor, die unklare Geschichte zu begraben. Jan Prazak lässt in Alles ist hin eine ältere Obdachlose und einen jungen Musiker in einer Zufalls WG aufeinander treffen. Das ungleiche Paar, das scheinbar nichts gemeinsam hat, entdeckt doch eine Verbindung. Ihre düstere Vergangenheit und seine plötzlich gar nicht so bunte Gegenwart schaffen ein Band, von dem beide profitieren. Familiengeschichte, diesmal im dörflichen Tirol, in Zwölferleitn von Fentje Hanke. Traditionen und unausgesprochene Verletzungen aus der Vergangenheit schicken Enkel und Grossmutter in einen zunächst aussichtslosen Kampf. Aber Stück für Stück klären sich Kränkungen aus der Vergangenheit, dafür zeigt sich die traditionelle Gegenwart im Dorf als viel grösseres Problem. Alle drei Filme sind sauber, wenn auch recht konventionell gemacht, alle drei könnten etwas kürzer sein, ohne dabei zu verlieren, unterhaltsam sind sie aber trotzdem.
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Krieg
Bisher waren weder das Virus noch der Krieg in der Ukraine wirklich Thema in Graz. Weder in den Filmen (die ich gesehen habe) noch in den Gesprächen am Rand.
Bei Signs of war von Juri Rechinsky&Pierre Crom ist es schwierig zu sagen, was man vor sich hat.
Der Pressephotograph Pierre Crom hat zwischen 2014 und 2015 auf der Krim und im Donezk Gebiet photographiert, und manchmal auch gedreht. Diese sehr beeindruckenden Photos sind die Basis des Films. Die zweite Ebene bildet ein Interview mit Crom, in dem er von den Situationen erzählt, in denen die Bilder entstanden sind. Wie er überhaupt dazu kam, dort zu arbeiten, unter welchen Bedingungen er im Verlauf der Zeit und der Konflikte dort gearbeitet hat und was die Arbeit und die Bedingungen mit ihm gemacht haben. Die Erzählung ist gleichzeitig sehr sachlich und doch persönlich und immer eloquent. Seine Bilder brauchen sich auf der grossen Leinwand nicht zu verstecken, ihre technische Qualität erlaubt Schwenks und Bewegungen innerhalb der Photos. Unterlegt ist das Ganze mit einer Tonspur aus Geräuschen, die aus den Situationen zu stammen scheinen, und mit oft bedrohlicher Musik. Das alles entspricht den Hörgewohnheiten, die man zu diesen Bildern hat. Es entspricht in seiner suggestiven Art allerdings auch einem dystopischen Kriegsdrama. Im Nachspann liest man, dass die Töne, zumindest in Teilen, aus Tonarchiven kommen. Das alles ist, besonders Anbetracht der aktuellen politischen, kriegerischen Entwicklungen, emotional sehr aufgeladen.
Und genau da stellt sich dann auch der Frage, was dieses Werk eigentlich ist:
Eine Erinnerung? Eine Reflexion über die Arbeit als Pressephotograph?
Aber ist es auch ein (Dokumentar)Film?
Die Aussagen, Erinnerungen und das Entstehen der Bilder sind so weit über den Zweifel an der Redlichkeit erhaben, und sie sind zweifelsohne extrem interessant. Aber es bleibt die Frage, ob ein Film ein Dokumentarfilm ist, wenn er in wesentlichen Teilen aus Photos, (Archiv-) Geräuschen und Musik besteht.
Viren
Nach Krieg dann also doch noch ein Film, in dem es um die Pandemie geht, aber nicht nur. Der stille Sturm von Cristina Yurena Zerr fängt mit dem ersten Lockdown an. Eigentlich wollte sie mit ihrem Freund nur das Osterwochenende bei dessen Familie in einem 700 Seelen Dorf im Burgenland verbringen, der Lockdown bewegt das Paar dazu, lieber im Familienhaus mit Garten zu bleiben als nach Wien zurückzufahren. Aus dem Wochenendausflug werden zwei Monate, verbracht mit drei Generationen der Familie in einem Haus. Sehr früh im Film spürt man, dass die 94-jährige Grossmutter echte Starqualitäten hat. Und so kommt es immer wieder zu sehr intimen, schönen und lustigen Momenten mit der sehr wachen Oma. Ab der Hälfte etwa öffnet sich die Geschichte etwas mehr, die Pandemie ist immer noch nicht vorbei, es folgt Lockdown auf Lockdown, und immer wieder – kurze – Besuche im Burgenland. So entsteht ein buntes, schönes Panorama einer beeindruckenden Familie, aber auch ein persönliches Stück über Leben und Sterben, soziales Engagement und entspanntes Miteinander. Ein sehr schönes, rundes Erstlingswerk.
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Das beliebte Popcorn sorgt übrigens nicht nur für Maskentragepause, sondern auch für ordentliche Ferkelei im Kino.
Das Multiplexkino Annenhof ist dieses Jahr wieder gleichzeitig als Festivalkino und als „Popcornkino“ in Gebrauch. So treffen verschiedenste Kinofans im Foyer aufeinander, und nicht nur die regulären Besucher tragen riesige Popcorntüten vor sich her. Diese Tüten, respektive ihr Inhalt, scheinen eine der besten Lösungen dazustellen, die Maskenpflicht im Saal zu umgehen, auch wenn es eigentlich heisst: um zu essen/trinken kann die Maske kurz abgenommen werden.
Aber wer definiert kurz?
Geduld
Geduld ist wohl für alle Dokumentarfilmer essenziell, Fridolin Schönwiese hat für seinen Film It works II davon eine Extraportion gebraucht.
24 Jahre nachdem er in einem Kurzfilm 4 behinderte Kinder portraitiert hat, hat er drei von ihnen wieder getroffen, um mit ihnen diesen Langfilm zu machen.
Aus den Kindern sind Erwachsene geworden, mit eigenen Leben, selbstbestimmt, und keineswegs bereit sich „mal eben“ drehen zu lassen.
So hat die Produktion dieses Films 6 Jahre in Anspruch genommen. Das Ergebnis ist jede Geduldsprobe wert.
Hervorzuheben ist die tolle Bildgestaltung, mit Bildern, die häufig extrem nah sind, ohne zu belästigen. Für Vieles, das in den Protagonisten vorgeht, braucht es eine visuelle Übersetzung, die den Protagonisten und ihren Eigenheiten und Reflexionen gerecht wird und nicht einfach 1:1 eine beliebige Situation abfilmt. Und immer wurden Bilder gefunden, all das greift fabelhaft ineinander und unterstützt die Geschichte. Auch als Zuschauer braucht man allerdings den Mut, sich einen langen und auch langsamen Film anzuschauen, genau zu schauen, genau hinzuhören. Die Belohnung bleibt nicht aus. Man sieht einen Film, der ohne Pathos nahe geht.
Fleiss
Kunst ist harte Arbeit, egal ob hinter der Kamera oder auf der Bühne. Just be there von Caspar Pfaundler zeigt das deutlich. Zwei Tanzkompanien, eine in Wien, eine in Taiwan, werden bei ihren Proben gedreht. Lange Einstellungen dominieren, die Kamera oft ganz sanft beweglich, geduldig schauend, aber fast immer auf Abstand von den Probenden. Während in Wien zwei Tänzer ein klassisches Stück proben, ist die Gruppe in Taiwan dem Contemporary Ballet zuzurechnen. Unterschiede, die sich in den Proben nach kurzer Zeit deutlich zeigen. In Wien begreift man den Aspekt der Probe als harte Vorarbeit für den Auftritt in der Staatsoper, während in Taiwan die Proben mehr wie hartes, sportliches Training aussehen. Was gleich bleibt, die Härte, der die Körper ausgesetzt sind, die Suche nach Perfektion, die Wiederholungen. Tanz und Ballett abseits des Glamours und der Show, ein schönes Stück Filmarbeit. Und zumindest bewegungsfreudige Menschen fangen nach kurzer Zeit an, sich mitbewegen zu wollen.
Bilder von Caspar Pfaundler (c) ch.dériaz
Melodram
Die erste Vorstellung, bei der Zuschauer Wartemarken brauchen, und der grosse Saal total ausverkauft ist: die Uraufführung von Märzgrund von Adrian Goiginger.
Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, dass, selbst wenn viele Einzelteile super sind, das Gesamtresultat dem nicht unbedingt folgt. Die Geschichte vom jugendlichen Tiroler Bauernsohn, der nicht will, was sein Vater, seine Umgebung von ihm erwarten. Zu sensibel, zu anders, zu fremd fühlt er sich. Das alles ist sehr gut gespielt, von allen Darstellern. Die Berglandschaft, in die er erst verbannt wird, und in die er sich dann 40 Jahre lang freiwillig verzieht, allein mit sich und der Natur, ist toll anzuschauen. Aber der immer wieder bemühte Reflex, Emotionen vor Bergpanorama mit geigenschwerer Musik zuzuschütten, ist schauderhaft. Auf Basis eines Theaterstücks von Felix Mitterer bleibt der Film aber ein kitschiges Alpenmelodram.
Johannes Krisch vor dem Kino (c) ch.dériaz
Frauengeschichte
Auch zur Uraufführung von Sabine Derflingers Film Alice Schwarzer drängeln sich mehr Menschen, als im Saal Platz finden, das ist für einen Dokumentarfilm, der um 21 Uhr an einem lauen Abend läuft, wirklich eindrucksvoll. Ihr Portrait der streitbaren, sprachgewandten und manchmal umstrittenen Alice Schwarzer ist extrem genau recherchiert. Als Journalistin und Vorkämpferin der Frauenbewegung gibt es massenhaft spannendes Archivmaterial, das immer in Beziehung gestellt wird zu Gesprächen mit Schwarzer heute und mit einer ganzen Reihe früherer Weggefährtinnen und Weggefährten. Es entsteht ein sehr dichtes – privates und öffentliches – Bild einer Frau, die wie wenige sonst so viele Jahre prägend in der Frauenbewegung war und immer noch ist. Wer mit ihr aufgewachsen ist, sieht ein Stück der eigenen Geschichte auf der Leinwand, und wer sie nicht kennt, hat hier die Chance sich ein Bild zu machen. Eine sehr starke Arbeit, die 136 Minuten lang interessant bleibt.
Wie bei vielen Festivals ist mittlerweile nicht nur die Reservierung online zu machen, sondern auch die Tickets bleiben virtuell. Im Prinzip funktioniert das ganz gut, bloss die online Platzauswahl ohne Saalplan gestaltet sich etwas schwierig.
Welche Reihe ist wo?
Welcher Sitzplatz ist am Rand zum Gang, welcher am Rand zur Wand? Etwas lästig auch, dass die Tickets jeweils ab eine Stunde vor der Vorstellung nochmal bestätigt werden müssen. Aber das wird sich in den kommenden Tagen schon noch einspielen. Dafür ist zwischen den Vorstellungen wirklich viel Luft, Zeit also durch das frühjahrblau strahlende Graz zu spazieren.
Konzeptuell Asynchron
Das erste Programm. Kurzdokumentarfilme. Eine sehr gute Wahl, wie sich zeigt. Die 4 Kurzfilme arbeiten alle mit einer gewissen Form von dramaturgischer Asynchronität, das ergibt vier völlig unterschiedliche, fordernde und spannende Filme.
In Sekundenarbeit von Christiana Perschon entsteht die Spannung nicht nur durch den Wechsel von schwarzer Leinwand mit Interviewton zu stummen Bildern, sondern auch aus der Auseinandersetzung zweier Künstlerinnen. Perschon portraitiert die 95-jährige Malerin Lieselott Beschorner, die ihrerseits das Handwerk der Regisseurin betrachtet. Gedreht wurde mit einer Bolex mit Handaufzug, es entstanden wunderbare schwarz-weiss Bilder, manche fast abstrakt, dann einfach nur ruhig, beobachtend.
Ebenfalls schwarz-weiss und ebenfalls auf 16 mm Film gedreht ist Einblick von Emma Braun. Auch hier sind Bild- und Tonebene eigenständig. Eine Studie über Stille, die Stadt am frühen Morgen und eine junge Frau in einem eher ungewöhnlichen Beruf. Die Handgriffe und Bewegungen der Schornsteinfegerin Sophie, präzise, unaufgeregt und dazu ihre Erfahrungen und Gedanken, die auch von unangenehmen Situationen im Job erzählen. Wunderschöne, stimmungsvolle Bilder und ein interessanter Einblick.
There was no on here before von Antonio Mérida erscheint plötzlich sehr bunt gegen die beiden ersten Filme. Die Asynchronität hier ist im unterschiedlichen Herangehen an den Film(dreh) selbst. Auf der einen Seite die junge Schauspielstudentin, die eigentlich einen Spielfilm möchte, auf der anderen Seite der Regisseur, der einen Dokumentarfilm machen will. Was am Ende entsteht, ist ein eigenwilliger Kompromiss aus dokumentarisch-inszenierten Gesprächen und Gedanken. Eine Art Liebesgeschichte der Kamera mit dem schönen Frauengesicht und das Tauziehen zweier künstlerischer Ansätze.
Radikal reduziert ist Zumindest bin ich draußen gewesen von Jan Soldat.
Bilder von Büschen, Bäumen, Gräsern, menschenleer, darübergelegt Chatnachrichten aus einem Schwulen Datingnetzwerk. Auch hier laufen die Wünsche von Regie und potenziellen Protagonisten auseinander, niemand will sich an diesem Tag vor die Kamera stellen, und so bleiben nur die kurzen Chats, und die leeren Büsche.
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Auswandern
Mit den langen Pausen zwischen den Filmen ist tatsächlich auch Essen möglich. Eine neue Erfahrung bei einem Festival. Ausgeruht also in den nächsten Dokumentarfilm, Good life deal von Samira Ghahremani. Ein Wiener, Ende 40, Frührentner, wandert nach Thailand aus. Der Plan ist, dort seine Freundin, ebenfalls Ende 40, resolut, robust, geschäftstüchtig, zu heiraten. An sich klingt das schon, als könnte das nicht gut ausgehen. Geht es dann auch nicht. Hauptprotagonist des Films ist der Wiener Gerhard, ihm folgt die Kamera, die Geschichte, sachlich und auch etwas distanziert. Der Film hat immer wieder fast komische Momente, und sehr viele Passagen, wo beide, Gerhard und Amy, so unsympathisch sind, dass man keine Partei ergreifen mag und der Ausgang dieses Abenteuers irgendwie egal ist. Aufgrund der Sachlichkeit des Films, ist dieses vermeintliche Manko aber durchaus angenehm.
Auf See
Schiffe auf dem Mittelmeer, sie sind Arbeitsplatz, Urlaubsort oder Sozialprojekt, sie sind völlig unterschiedlich, und zunächst eint sie nur der gemeinsame Ort, das Mittelmeer. Jola Wieczorek verwebt diese ungleichen Schauplätze in Stories from the sea zu einer wunderbaren Einheit. Anfangs bekommen die Schiffe und ihre Protagonistinnen jeweils viel Raum zum Kennenlernen. Zuerst das Frachtschiff und die Auszubildene Jessica. Das Brummen der Maschine, die einzelnen Handgriffe, egal ob kräftezehrend an Tauen oder eher mathematisch beim Berechnen der Route, die Kamera liefert faszinierende Einblicke. Der Wechsel auf das Kreuzfahrtschiff zu Amparo, einer Witwe, erfolgt ganz organisch, man gleitet von einem Schiff zum nächsten. Von harter Arbeit zu Prunk und Luxus und ständiger Bespassung. Und doch bleibt man spürbar auf dem Meer. Dann wieder ein Wechsel, diesmal auf zwei Segelschiffe, auf denen zusammengewürfelte Menschen 10 Tage gemeinsam segelnd versuchen auch einen neuen Blick auf ihre Umgebung zu bekommen. Im Verlauf des Films werden die Wechsel von einem Schiff aufs andere schneller, bleiben aber immer im Fluss und verbinden oft Ähnliches. Man ist fast sicher, dass die Schiffe sich bald schon treffen werden. Die schwarz-weiss Bilder sind eine zusätzliche einende Ebene, die von der Schnittdramaturgie exzellent herausgearbeitet wird. Ein ganz ruhiger, sehr schöner Film.
Aussteigen
Maria Petschnig erzählt in Uncomfartably Comfortable von Marc, einem New Yorker Obdachlosen. Am Anfang des Films lebt er noch in seinem Jeep, später dann ganz auf der Strasse. Seine Obdachlosigkeit, wie er beteuert, selbstgewählt.
Auch in diesem Film ist die Interview/Dialog-Ebene von der Bildebene unabhängig, das ist prinzipiell eine gute Sache, funktioniert hier aber nur teilweise. Das Problem sind recht wahllos eingefügte kurze Stücke Schwarz. Mal in einer Einstellung, mal zwischen zwei Einstellungsgrössen ein und derselben Handlung, manchmal als eine Art Trenner zwischen Bildern, die inhaltlich nah genug sind, zusammenzubleiben, und unterschiedlich genug, um sie direkt aneinander zu schneiden. Es findet sich weder ein Rhythmus, der das Schwarz rechtfertigt, noch eine inhaltliche Logik. Da aber sehr oft der Interviewton weitergeht, weiterhin einem Gedanken folgt, unterbrechen diese Momente auf unangenehme Weise das Zuhören, das Begreifen des Erzählten, und das ist wirklich sehr schade.
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Maskerade
Anders als bei manchen Festivals, wo pingeligst darauf geachtet wurde, dass alle im Saal Masken nicht nur tragen, sondern auch korrekt tragen, scheint das in Graz eher unter optional zu laufen. Trotzdem, die meisten Zuschauer tragen Maske.
Was bislang gar nicht kontrolliert wurde, sind irgendwelche G-Nachweise.
Mag aber daran liegen, dass in jedem Bundesland die Regeln anders sind.
Zum 25. Mal findet ab heute die Diagonale in Graz statt. Das sind 25 Jahre österreichisches Filmschaffen, das in dieser Zeit, auch international, gewachsen ist. Nach einem Jahr Ausfall und einem Jahr, in dem sie verschoben wurde, findet die Diagonale also dieses Jahr wieder wie gehabt kurz vor Ostern statt. Eine knappe Woche lang treffen sich Filmschaffende im freundlichen Graz, es wird gezeigt und geschaut, vorgestellt, verglichen oder einfach nur der Film gefeiert.
Eröffnung
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Wie in den Vorjahren findet die Eröffnung in der grossen Helmut-List-Halle statt, natürlich mit allen aktuellen Pandemiemassnahmen, also 3G und Maske während der Veranstaltung.
Der Saal ist dafür voll, also wirklich richtig voll.
Mit etwas Verspätung beginnt dann ein langer Abend. Peter Schernhuber, nach überstandener Corona Erkrankung wieder an der Seite seines Mit-Intendanten Sebastian Höglinger, und wieder in geübter und bewährter Doppelconference. Sie sind politisch, ohne dabei zu dozieren, ein gar nicht so einfaches Unterfangen angesichts der vielen Krisen, Kriege und Katastrophen, die derzeit herrschen.
Sie fordern (Film)Kunst, die politisch, aber ohne Propaganda sein soll, Filme (und Kunst), die Türen, oder auch Augen, öffnen, und Neues zeigen, eventuell auch neue Wege.
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Neues österreichisches Kino
Mit Sonne, dem Spielfilmdebüt von Kurdwin Ayub, eröffnet eine Regisseurin, die für das ganz neue österreichische Filmschaffen steht. Neu und dann auch wieder nicht, denn die Geschichte handelt vom Erwachsenwerden, von Zugehörigkeit und Identität, von Eifersüchteleien zwischen Freundinnen, zwischen Geschwistern und Reibereien mit den Eltern. Neu ist dabei die unbekümmerte Frechheit, mit der Ayub sowohl Bildstile als auch Erzählstränge behandelt.
Visuell wechselt der Film zwischen den Handyvideos der Jugendlichen – hochkant, querformatig, verwackelt oder gefiltert – und einer ebenfalls oft unruhigen, aber präzise beobachtenden Kamera. Man braucht einen Moment, um sich in die Bilderwelt einzufinden, dann aber ist das schon reizvoll.
Das Nervöse, das dabei entsteht, spiegelt die wechselnden Emotionen und Krisen der Protagonisten wider. Wenn der Film Stereotype nutzt, dann nur, um sie gleich darauf in etwas Unerwartetes, eben nicht stereotypisches, umzulenken.
Der Film bietet weder einfache noch belehrende Lösungen, er lässt offen, wie die Geschichte, die Identitätssuche, das Erwachsenwerden sich entwickeln werden.
Wirft der Film die Zuschauer am Anfang gleich mitten rein ins pralle Teenager-Filmleben, schmeisst er das Publikum am Ende auch einfach wieder raus, aus dieser Welt.
Das ist schön so.
Feste feiern
Nach einem langen Eröffnungsabend dann die Eröffnungsparty, mit Getränken und steierischen Spezialitäten und: vielen Menschen auf einen Haufen. Das bleibt weiterhin extrem gewöhnungsbedürftig.
In 10 Tagen wird in Graz die 25. Ausgabe der Diagonale mit Kurdwin Ayubs Spielfilm Sonne eröffnet. Der Film hatte in Berlin seine Uraufführung und gewann dort prompt den Preis für das beste Debüt.
Blöde Viren
Intendant Sebastian Höglinger (c) ch.dériaz
Vor der Eröffnung aber die Programmpräsentation, die, anders als sonst, nicht in Doppelconference der beiden Intendanten stattfand, sondern als Soloauftritt Sebastian Höglingers. Peter Schernhuber befindet sich unterdessen in Quarantäne, danke Pandemie! Und er ist nicht der einzige im Team, der virusbedingt zu Hause war.
Pandemiemassnahmen
Wie letztes Jahr schon, wird auch in diesem Jahr das Programm entzerrt, es ist mehr Zeit zwischen den einzelnen Vorstellungen, so werden Menschenaufläufe – hoffentlich – vermieden. In den Kinos wird selbstverständlich Maskenpflicht gelten und reserviert wird ein festgelegter Sitzplatz, was das Gerangel um vermeintlich beste Plätze verhindert.
Flucht ins Kino
Im Kino sollte man also sicher sein, oder zumindest: so sicher wie möglich.
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Auch in diesem Jahr wird es mehr (lange) Dokumentarfilme als (lange) Spielfilme zu sehen geben. 16 Spiel- zu 20 Dokumentarfilme, darunter der neueste Spielfilm von Ulrich Seidl Rimini, oder die Dokumentarfilme von Constantin Wulff: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien oderCaspar Pfaundlers Just be there und Fridolin Schönwieses It works II.
Der Programmpunkt Rausch bietet ein breites Filmspektrum an Rauschhaftem im Film. Und das historische Special Come and Shoot in Thaliwood beleuchtet das Filmschaffen in der Steiermark.
Ein letzter Film noch, bevor es wieder zurückgeht, die Wahl fällt auf Der schönste Tag von Fabian Eder.
Der Saal füllt sich, die Plätze nicht ausgeschöpft, aber doch nicht so schlecht, für einen Dokumentarfilm, um 10 Uhr am Sonntagmorgen. Ein Film, in dem, in weiten Teilen, Menschen reden, also Talkingheads, sie reden zum Thema Holocaust. Trotzdem ist das einer der besten Filme, die dieses Jahr zu sehen waren. Zum einen, weil der Film sich und dem Zuschauer Zeit lässt, zum anderen, weil eine der zentralen Ideen darin besteht, jeden Zeitzeugen mit einem jungen Menschen – meistens deren Enkel – in ein Zugabteil zu setzen, und das dort entstehende Gespräch mit sechs Kameras zu drehen. In Ruhe, mit viel Sensibilität. Ein privater Dialog, zwischen Menschen, die einander kennen und vertrauen.
Parallel zu diesen intergenerationalen Gesprächen geht es um die, seit 2013 im Umbau befindliche, Ausstellung in der KZ Gedenkstelle in Auschwitz, zur Rolle Österreichs während des Dritten Reichs. Auch hier: sprechende Menschen. Sie tun das eloquent, ruhig, und ohne filmischen Schnickschnack.
Dazwischen immer wieder vor allem: Zeit und sehr, sehr gute Bilder.
Selten ist ein so komplexes Thema, so ruhig, sensibel und, über 112 Minuten, spannend dargebracht worden. Dieser Film ist einfach toll.
Hinter den Kulissen ist es auch spannend
Es hat sich auch gelohnt, zur Diskussion nach dem Film zu bleiben, denn da lüftet sich das Geheimnis, um die Bilder im Zug: Das Abteil ist zum Drehen nachgebaut worden, während der Gespräche lief „live“ dazu der bewegte Hintergrund, wodurch eine absolut glaubwürdige Zugfahrtillusion entstand.
In den Film kamen, von den 23 gedrehten Dialogpaaren letztlich nur 4, die anderen werden als jeweils einzelne Gespräche gezeigt werden, im Fernsehen oder auch in Schulen. Eine besondere Freude: der Film gewann den Publikumspreis der Diagonale.
Was wieder zeigt, man kann, man darf und muss dem Kinopublikum etwas zumuten.
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Die Preise 2021
Den Grossen Diagonale Preis/Spielfilm gewann Evi Romen für Hochwald. Der Grosse Diagonale Preis/ Dokumentarfilm geht an Tizza Covi und Rainer Frimmel für Aufzeichnungen aus der Unterwelt
Die beiden Preise für die beste künstlerische Montage gehen an: Karina Ressler und Joana Scrinzifür Fuchs im Bau und an Yves Deschamps und Hubert Sauper fürden Schnitt des Dokumentrafilms Epicentro.
Die Preise für die beste Bildgestaltung gehen an zwei Filme, die ich nicht gesehen habe.
Für die beste künstlerische Bildgestaltung/Dokumentarfilm geht der Preis an: Jordane Chouzenoux fürWenn es Liebe wäre.
Für die beste künstlerische Bildgestaltung/Spielfilm an Ludwig Wüst, für seinen Film 3.30PM. Auch ohne den Film gesehen zu haben, mutet diese Entscheidung etwas seltsam an, da im Katalogtext folgendes zur Kamera/Bildgestaltung zu lesen ist:
Durch eine niedrigauflösende Bodycam, die einem der Darsteller an die Brust geheftet ist, „schafft sich der Regisseur während der Dreharbeiten ab“, wie Wüst es selbst bezeichnet.
Das mag als künstlerisches Mittel toll, oder spektakulär oder einfach nur originell sein, und der Preis heisst ja auch „für beste Bildgestaltung“ statt „Beste Kamera(arbeit)“, aber schöner wäre es schon, wenn den Preis auch Kameraleute bekämen. Aber, wie so vieles, vielleicht ist auch das wieder nur geschmäcklerisch.
Das war’s aus Graz, die Diagonale 2021 ist vorbei, vieles war anders als gewohnt, aber die Stimmung war gut und entspannt. Und es war eine so grosse Freude, endlich wieder ins Kino gehen zu können.
Die Diagonale 2022 wird vom 5. bis 10. April stattfinden.
Die Diagonale nähert sich dem Ende, gleichzeitig wird das Wochenende wohl nochmal ein Zuschauerplus bringen.
Bereist am Morgen ist es beim DokumetarfilmI am the Tirgress von Philipp Fussenegger, Dino Osmanovic ziemlich voll. Die titelgebende Tigerin ist kein Raubtier, sondern eine amerikanische Bodybuilderin Ende 40. Kein glamouröses Leben, sondern täglicher Kampf: Muskelaufbau, der schmerzt, blöde Kommentare zu ihrem Körper auf der Strasse, Rassismus, Shows, bei denen von Anfang an klar ist, wer gewinnen wird, dennoch, aufstehen und weitermachen scheint ihr Lebensmotto zu sein. Und dabei reisst sie die Zuschauer mit, schon von der Leinwand herunter verbreitet sie gute Laune, als sie und das Team am Ende vor der Leinwand stehen, gibt es tatsächlich Johlen und Jubeln. Eine starke Frau, die sich nicht scheut auch Verwundbarkeit zu zeigen, deren Muskeln kein Panzer sind, sondern ihr Mittel zu Selbstakzeptanz.
Beifall für: I am the Tigress (c) ch.dériaz
Wann ist wo Heimat?
Weiyena – Ein Heimatfilm von Weina Zhao, Judith Benedikt. Weina Zhao, gebürtige Chinesin, aufgewachsen in Wien, sucht nach den Wurzeln ihrer Familie, und erzählt dabei die Geschichte Chinas seit dem frühen 20. Jahrhundert. Eine harte Geschichte, die auch in ihrer Familie Spuren hinterlassen hat, und die die Beziehung zu Heimat noch weiter hinterfragt. Ein Film, der über mehrere Jahre hinweg entstanden ist, sehr persönlich und trotzdem sehenswert für Aussenstehende.
Geschichte – Oscarnominiert
Neuere Geschichte, direkt vor unserer Haustür, als Spielfilm verdichtet, personalisiert, so kann man Quo vadis Aida?von Jasmila Žbanić kurz zusammenfassen. Die Bilder sind seit 25 Jahren immer wieder Teil der Fernsehnachrichten: Menschen, die vor der UN-Schutzzone warten, in der Sonne, hilflose UN-Blauhelmsoldaten, das Aufteilen in Männer und Frauen, Busse, die die Gruppen abtransportieren.
Kann man aus dem Massaker von Srebrenica einen Spielfilm machen? Die UN-Dolmetscherin Aida, die in dem Chaos in der UN-Schutzzone neben ihrer Arbeit auch noch versucht, ihren Mann und ihr beiden Söhne zu retten, macht aus Geschichte eine Geschichte. Das ist gut und das ist wichtig. Was neben dem tollen, ausdrucksstarken Spiel von Jasna Đuričić besonders überzeugt, ist die Bildgestaltung. Kamerafrau Christine A. Maier orientiert sich an der Farb- und Lichtstimmung der 90er Jahre Bilder, erschafft dabei Neues und baut das Bekannte nach. Das Ergebnis ist gleichermassen beeindruckend wie auch erschütternd. Die Kriege, besonders die in unserer Nachbarschaft, dürfen nicht vergessen werden, wenn Spielfilme dazu beitragen können, dann ist das gut. In Österreich kommt der Film Ende Juni in die Kinos.
Keine Lobby
Eine ganze Kategorie Filme hat es besonders schwer ausserhalb von Festivals gesehen zu werden, die sogenannten Innovativen- oder Experimentalfilme.
Fragebogen von Antoinette Zwirchmayr, legt im OFF gestellte Fragen aus einem Buch von Max Frisch über statische, stumme, schwarz-weiss Bilder ihres Grossvaters. Antworten gibt es keine. Eine eigenartige Komposition.
film von Marlies Stöger, André Tschinder ist Teil einer Idee, die schon einige Ausführungen hatte: das Erstellen der neuen Kunstform Zu-Realismus. Mit sparsamen, aber intelligenten Mitteln wird das zu-realistische Manifest erklärt.
We’ll always have Paris von Ella Raidel ist ein Spiel mit Erwartungen. Was sehen wir, wenn wir etwas sehen? Und können wir uns immer auf unsere Sinne verlassen? Besonders im Kino sollte man das infrage stellen.
Traces von Stephanie Rizaj, Marvin Kanas verwirrt mit wechselnden Motiven. Einerseits karge Landschaften, dann wieder städtische Oberflächen, Häuser, Risse, Wege, dazu Kinderstimmen, die von Träumen erzählen. Der Reiz dabei: Welchen Reim man sich darauf macht, muss man selber finden.
Ruins in reverse von Olena Newkryta ist ein langes Philosophieren über die politische, ideologische Implikation von Bauruinen. Auch das ist zunächst sehr fremd, aber auch wieder spannend. Filme zum Nachdenken, zum Weiterdenken, die man vielleicht doch auch bei Gelegenheit einem breiteren Publikum zutrauen kann.
Ein ganzer Tag fast ohne Kino, der der persönlichen Virenbekämpfung gewidmet war. Am Abend ist dann doch noch ein Kinobesuch möglich. Durch die automatische Platzvergabe bei der Onlinebuchung entstehen völlig neue Perspektiven in Kinosälen, so sieht der kleine Schubert 2 Kinosaal aus der letzten Reihe fast gross aus, allerdings erscheint die Leinwand dann doch eher winzig. Und, wer hätte das gewusst, in der letzten Reihe gibt es Doppelsitzbänke: Knutschkinositze! Auch der Film des Abends war nicht wirklich geplant, sondern den Reservierungsmöglichkeiten geschuldet.
Rhythmusgefühl
Man muss Thomas Antonic dankbar sein, dass er mit One More Step West Is the Sea: ruth weiss, die Künstlerin und Beatpoetin Ruth Weiss auf die Leinwand bringt, was er dann allerdings aus dem Material dieser grossartigen Frau macht, ist deprimierend. Zwischen 2017 und 2019 dreht er in Kalifornien Interviews, Lesungen, begleitet die 1928 geborene Dichterin. Man sieht eine aktive, frech blitzende alte Dame, die eloquent über Dichtung, Film und Rhythmus spricht. Man hört alte und neue, von Jazz begleitete, Lesungen, alles höchst strukturiert, die Bilder dazu sind es aber nicht. Sie beziehen sich in keiner Form auf den Sprachrhythmus, weder in dem sie ihm folgen, noch indem sie ihm widersprechen – was auch eine Möglichkeit wäre. An vielen Stellen kleben Interviews viel zu nah an Sequenzen mit Lesungen, man stolpert als Zuschauer, kann weder das eine geniessen, noch dem anderen wirklich zuhören. Immer wieder gibt es Verlegenheitsüberblendungen, an Stellen, an denen man ganz entspannt hätte hart schneiden können. Oder es werden Photos von Zeitgenossen der Protagonistin als Bildüberlagerung eingeblendet, aber so kurz, dass man fast keine Zeit hat, zu sehen, wer da im Bild aufflackert. Das alles ist jammerschade! Die Bilder und die Poetin hätten einen besseren Schnitt verdient.
Kurzfilme … ein Versprechen
Am Morgen gleich ein Kurzspielfilmprogramm, vier Filme, die alle Menschen am Rand der Gesellschaft zum Thema haben.
Ein Jugendlicher, der gerne Teil der lokalen Gang wäre, von der er aber nie so wirklich ernst genommen wird, egal was er für sie tut. Dominik Galleya und Clemens Niel zeigen diese Geschichte in tauchen, mit viel Empathie aber auch mit einer Portion absurdem Humor.
Gegen Ende surreal ist Liebe, Pflicht & Hoffnung von Maximilian Conway. Eine Supermarktangestellte, die erst ihren Job verliert, der man den Strom abschaltet, der die Räumung droht, und immer bleibt in ihr ein Schimmer Hoffnung, egal wie fest und schnell die Schläge gegen sie geführt werden. In FABIU von Stefan Langthaler stellt sich ein alter Mann seinen – unterdrückten – Gefühlen, als er statt einer weiblichen Pflegerin für seine Frau einen jungen Mann aus Ungarn als 24-Stunde Pflege bekommt. Sehr schön gedreht, mit vielen extrem nahen Bildern. In Fidibus von Klara von Veegh irrt eine Mutter mit ihrem kleinenSohndurch die Kälte. Ist sie obdachlos, oder läuft sie weg? Der Film spielt mit traumartigen Sequenzen, die lange offen lassen, was wirklich passiert ist. Von allen Regisseuren und Regisseurinnen möchte man gerne mehr sehen.
(c) ch.dériaz
Reihe eins ist ganz hinten
Luxussitze ganz Hinten (c) ch.dériaz
Das Onlineticket weist aus: Reihe eins, das klingt nicht so toll, aber in der vordersten Reihe angekommen stellt sich heraus, in diesem Kino wird von hinten nach vorne gezählt. Also, auf nach ganz oben, wo vornehme (Kunst)Ledersessel mit extra breiten Armlehen zum fläzen einladen. Auch das ist ein neuer Blickwinkel. Aber recht voll werden die Säle weiterhin nicht, und das liegt nicht an der verminderten Platzzahl, denn die erlaubten Plätze sind nicht alle besetzt.
Dazugehören
Hochwaldvon Evi Romen ist relativ gut besucht, aber dieser tolle Film braucht viel mehr Publikum. Mario gehört irgendwie nirgends richtig dazu, in seinem Bergdorf nicht, in der Stadt nicht, zu anders scheint er zu sein, aber wer er genau ist, das zeigt er auch keinem. Sein bester Freund scheint es besser getroffen zu haben, er kommt aus der reicheren Familie, hat ein Begabtenstipendium bekommen und lebt auch seine Homosexualität unbekümmert aus. Eine Tragödie wirft Mario dann völlig aus der Bahn. Aber es ist nicht die starke Geschichte, die so beeindruckt, sondern die Machart, wie sie visuell umgesetzt ist. Die Figuren haben Raum zu spielen, weil sie nicht in einem Korsett aus Schnitt/Gegenschnitt gefangen sind. Der Schnitt ist rasant, lässt Sprünge zu und bleibt trotzdem absolut im Fluss und der Geschichte treu. Wirklich sehenswert.
Das kann man über Risiken und Nebenwirkungen von Michael Kreihsl nicht sagen. Szenen zweier Ehen, in denen es darum zu gehen scheint, ob man(n) seiner Partnerin eine Niere spendet. Als sich der eigene Mann ziert, willigt der Mann der anderen ein, zu spenden, was wiederum Streit zwischen allen auslöst. Am Ende geht es eigentlich bloss um simple eheliche Untreue. Der Film basiert auf einem (Boulevard)Theaterstück, aber jede Pointe, jedes Tempo fehlt, zudem spielen drei der vier Hauptdarsteller in jeder Szenen so, als würden sie am Ende des Dialogs in schallendes Gelächter ausbrechen. Dabei ist es egal, ob da gerade Ernstes verhandelt wird oder gestritten wird, Gestik und Mimik sind hoffnungslos überzogen. Auch die Wendungen am Schluss funktionieren in dieser lahmen Konstellation nicht wie Pointen, sondern höchstens wie ein müder Witz.
Diagonale Festivalzentrum (c) ch.dériaz
Albträume und Masken
Einmal quer durch Graz zum letzten Film des Tages. Die Hinweisschilder, wo es in den jeweiligen Saal geht, sind nicht immer ganz eindeutig, was dazu führt, dass man auch einfach verträumt vor einer Tür wartet, die sich nicht öffnen wird. Zum Glück klärt sich der Fehler rechtzeitig.
Es wäre sehr schade gewesen, 2551.01 von Norbert Pfaffenbichler zu versäumen. Ein furioser Stummfilm, der eine apokalyptische Unterwelt zeigt, in der sich jede Menge gruseliger Kreaturen mit schauderhaften Masken prügeln, verfolgen, terrorisieren, dazwischen eine affenartig maskierte Figur, die ein vermummtes Kind rettet. Versatzstücke ikonischer Bilder aus Filmen, aus Nachrichten oder von Pressephotos blitzen kurz auf, werden aufgenommen, bilden den Anfang einer Variante. Albträume werden wahr, bewegen sich, lösen sich auf, um gleich im nächsten Raum einen weiteren Albtraum lebendig werden zu lassen. Ein völlig irrer, wunderbarer Film, mit kluger Dramaturgie, sparsamen, aber tollen Toneffekten und einer treibenden Musik.
Die Abende sind lau, die Sperrstunde ist nach hinten verlängert, und so sieht man in und vor Lokalen oder auf Plätzen deutlich mehr Menschen als in den Kinos der Stadt, wirtschaftlich wird diese Diagonale vermutlich nicht so gut abschneiden.