Das war sie, die Sofaedition des Filmfestivals Locarno 2020
Filme für die Zukunft, die Zukunft des Films, all das wurde ausgelotet, aber wie immer kann niemand die Zukunft sicher vorhersagen.
Die Preisträger wurden recht unspektakulär per E-Mail und ohne jegliches Zeitembargo mitgeteilt, heute Abend werden sie dann in Locarno etwas feierlicher und vor kleinem Publikum verkündet.
Goldene und silberne Leoparden
Die beiden Hauptpreise, also die goldenen Leoparden national und international, gehen jeweils an eine Regisseurin. International an die Argentinierin Lucrecia Martel für Chocobar und national an Marí Alessandrini für Zahorí. Spezialpreise gehen an Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor für De Humani Corporis Fabrica (The Fabric of the Human Body). Und an Raphaël Dubach und Mateo Ybarra für LUX.
Eine der Begründungen der Hauptjury für war, dass sie die Filme bevorzugt haben, deren Arbeit durch die Pandemie zu einem schon relativ weit fortgeschrittenen Zeitpunkt unterbrochen wurde. Auf jeden Fall kann man gespannt sein, was aus diesen – und allen anderen eingereichten, Projekten wird. Filme, die Übermorgen auf die Leinwand kommen werden, dann hoffentlich mit Publikum im Saal oder auf der Piazza. Die Jury Begründungen zum Nachhören und Anschauen.
Die Kurzfilme – Pardi di Domani
Die Pardinos, also die Preise für die Pardi di Domani sind eine schlüssige und nachvollziehbare Wahl. Den goldenen Pardino international gewinnt der essayistische und politisch hochaktuelle Film I ran from it and was still in it von Darol Olu Kae (USA).
Den silbernen Pardino gewinnt der sehr schöne Film History of Civilization von Zhannat Alshanova (Kasachstan).
National geht der Pardino d’oro an den wunderbar versponnenen: Menschen am Samstag (People on Saturday) von Jonas Ulrich. Und eine Geschichte vom Erwachsenwerden gewinnt den Pardino d’argento: Trou Noir (Black Hole) von Tristan Aymon.
Jury Begründung zum Nachhören und Anschauen.
Kein Zukunftsmodell
So gut es auch war, das Programm in Teilen online zur Verfügung zu stellen, und so gut das auch funktionierte, ein echtes Zukunftsmodell sollten online Festivals nicht werden. Natürlich gibt es kleine Vorteile: Niemand haut einem einen Rucksack an den Kopf, keiner redet während man konzentriert schaut, man sitzt auf dem heimischen Sofa besser, als auf den meisten Kinositzen, man muss vor dem Klo nicht Schlangestehen. Aber es gibt eben auch nicht das Gefühl gerade gemeinsam mit anderen einem Wunder, einem Experiment oder auch einem Ärgernis beigewohnt zu haben. Man hat keine unmittelbare Reaktion von anderen, die den Saal und das Erleben geteilt haben. Und nicht zuletzt: man hat überhaupt kein Festivalgefühl.
In diesem Sinne also: Locarno 2021 findet vom 4. bis 14. August statt, dann hoffentlich wieder im Tessin.
Im Rahmen des Festivals gab es eine weitere sehr interessante und lebhafte online Diskussion, diesmal zum Thema: Wieviel ist ein Filmstart wert? Es diskutierten Kinobetreiber, Streamingdienstanbieter, Produzenten, aber auch eine Vertreterin des Bundesamts für Kultur über nichts Geringeres als die Zukunft der Ausspielmöglichkeiten für Kinofilme.
Kino, Streaming oder beides?
Nicht erst seit dem sogenannten Lockdown stellt sich die Frage nach Streaming oder Kino.
Dabei ist das eigentlich die falsche Frage, es muss viel mehr gefragt werden wie weit können Streaming und Kinoauswertung voneinander profitieren und dabei die Filmindustrie als solche stützen und Zuschauer halten oder sogar gewinnen?
Dass dieses Problem nicht mal eben gelöst werden kann ist schnell klar. Weil es eben nicht um ein simples Polarisieren geht, es ist auch nicht die Frage, ob Kinos altmodisch sind und streamen modern ist.
Ins Kino gehen oder Film anschauen?
Eine Tatsache ist, ins Kino gehen ist nicht dasselbe wie einenFilm anschauen. Auch wenn im Kino natürlich ein Film angeschaut wird, ist der Gang ins Kino eine komplexe Form der Freizeitgestaltung, deren Erfolg – also auch der persönliche Lustgewinn – hängt auch keineswegs nur vom ausgewählten Film ab.
Die Kinoatmosphäre, die Begleitung, das Drumherum spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Und gute Kinos funktionieren dann am besten, wenn sie eingebunden sind in einen Lebensraum, also Innenstädte zum Beispiel.
Aber Kinos, besonders Programmkinos, bieten eben auch durch ihre Filmauswahl, man könnte es auch hochtrabend, durch das Kuratieren eines Programms nennen, etwas an. Und hier kommt eine erste Möglichkeit ins Spiel, wie digitale Ausspielwege und Kinos koexistieren könnten.
Kinos als Programmierer von E-Kinosälen
Die Idee wäre, dass den Kinobetreibern das Werkzeug an die Hand gegeben würde, Filme, die sie auch im realen Saal zeigen, im Anschluss in einem digitalen Saal zu vertreiben, mit einer Aufteilung des erzielten Gewinns zwischen dem jeweiligen Kino und den Plattformbetreibern. Über Zeiten und Preise müsste natürlich auch diskutiert werden.
Video on Demand
Der nächste Schritt wäre die Auswertung als Video on demand, wodurch die Auswahl zeitlich noch etwas unabhängiger würde, die Preise günstiger sein könnten, da es sich dabei nicht mehr um ganz neue Filme handeln würde.
Bei diesen, wie auch bei vielen anderen denkbaren Wegen, bleiben zwei Punkte ganz wesentlich, dass einerseits der Film als kulturelles Medium erhalten bleibt, weil er erhaltenswert ist und zum anderen, dass alle Dienste Bezahlmodelle sein müssen. Kein Wirtschaftszweig arbeitet gratis, auch die Filmwirtschaft nicht.
Koproduktionen
Was im Hinblick auf internationale Koproduktionen natürlich dringend geklärt und aktualisiert gehört, und da ist die Kultur- und Wirtschaftspolitik gefragt, sind die von Land zu Land verschiedenen Rechtemodelle und Garantien auf den sogenannten hold back, also das Verbot Filme vor einer Saal-Auswertung online zu zeigen.
Den richtigen Film finden im Angebot
Um Filme an den Zuschauer zu bringen wird aber immer auch Werbung in der einen oder anderen Form nötig sein. Es reicht nicht „alle“ Filme auf eine Plattform zu stellen, und dann zu glauben, dass sie auch alle angeschaut werden. Wer Fernsehen mit 60 (oder mehr) Programmen kennt, weiss dass davon die Auswahl nicht leichter wird. Auch hier wäre eine Zusammenarbeit von Produktionen, Vertreibern, Kinos und Kulturvermittlern (wie zum Beispiel Journalisten) nötig, um einen Weg durch die Menge überhaupt gangbar zu machen.
Das Thema muss behandelt werden, von Menschen mit Liebe zum Film, zum Kino und mit dem Wissen das alles auch an den Zuschauer weiterzugeben.
Die wirklich spannende Diskussion kann noch online angeschaut werden. Allerdings sollte man, es war eine Schweizer Runde, sowohl Deutsch als auch Französisch verstehen, denn jeder Antwortete in seiner Sprache.
Auch das ist Locarno.
17 Uhr Roundtable Diskussion, zum Thema: Wie umgehen mit dem filmischen Erbe, nur restaurieren und aufbewahren oder auch streamen? Angekündigt sind: Frédéric Maire (Cinémathèque Suisse), Emilie Cauquy (Cinémathèque Française/HENRI), Penelope Bartlett (The Criterion Channel), Geremia Biagiotti (Intramovies) · Moderated by Nick Vivarelli (Variety)
Theoretisch sollten die Diskussionen direkt auf der Webseite des Festivals laufen. Praktisch gibt es um 17 Uhr nur den Hinweis, dass es derzeit kein Streaming gibt. Falsch, denn auf dem Locarno Festival Youtube Kanal läuft die Diskussion, allerdings mit soviel Bild-Ton Versatz, dass das wirklich keinen Spass macht.
Nach etwa 10 Minuten läuft dann auch auf der Festivalwebseite die Diskussion, ohne Versatz!
Alle Cinemathek Verantwortlichen oder Plattformbetreiber sind sich einig, historische/klassische Filme nur im Vertrauen auf cinephile Kinobesucher aufzubewahren, ist weder zeitgemäss, noch angebracht. Und alle haben in letzter Zeit gute Erfahrungen gemacht mit ihren diversen Modellen dieses filmische Erbe online an Zuschauer zu bringen. Einig sind sich aber auch alle, dass das langfristig nur mit dem einen oder anderen Bezahlmodell gehen wird. Es ist schon jetzt nicht in allen Ländern und in allen Cinematheken gewährleistet, dass Filme adäquat aufbewahrt und restauriert werden. Dieses Filmerbe ist aber überall kulturell enorm wichtig und darf nicht einfach irgendwo vergessen werden.
Sommerkino
Zurzeit ist es in Wien auch nicht weniger heiss als in Locarno und so stellt sich die hier wie da die Frage: Eis essen oder Film schauen? Schwimmen oder schreiben?
Während also draussen die Strasse vor sich hin köchelt und die Wiener Tauben gurren – statt pfeifender Locarneser Mauersegler – drinnen die letzten Kurzfilme anschauen; Eis geht schliesslich immer.
Seit heute sind alle Kurzfilme der Pardi di Domanionline abrufbar.
Nochmal einige FilmTipps
Mit 40 Minuten der längste und thematisch, wenn man so zum Mont Blanc schaut, der aktuellste Film ist Icemeltland Park von Liliana Colombo (GB/I). Eine fiktive Vergnügungsparkattraktion: schmelzenden, bröckelnde Gletscher schauen und mit dem Handy filmen gehen. Auf der Tonspur, fröhliche Kommentare bei jedem Abbruch. Im Bild Gletscher, die Teile ihres Eis ins Meer werfen. Im Verlauf des Films kommen die Auswirkungen, wie Überflutungen, riesige Flutwellen etc dazu, in Bildteilung in direkten Bezug zum Gletscher gebracht. Eine Science-Fiction-Experimental Dokumentation, die Spass macht und trotzdem mehr als nachdenklich stimmt. Der Film nutzt die volle Kraft der Montage und Kollage!
Off Texte: für und wider
Auffallend viele Filme dieses Jahr arbeiten mit Off Texten, das geht manchmal gut, meistens aber entlarvt der Film damit seine Mangel an visueller und narrativer Kraft.
Sehr gut funktioniert das Konzept bei Burnt. Land of Fire (Grigio. Terra bruciata) von Ben Donateo (CH). Unter der sehr schönen und poetische Dokumentation über den Verfall eines Orts, liegt ein geflüsterter, fast gehauchter Text, der die schönen und quadratischen Bilder sanft unterstützt. Die Erklärung, das Verständnis geht aber immer von den Bildern aus, wäre auch ohne den Text klar verständlich. Wunderbar ins Bild gesetzt der malerische Verfall der Häuser, die flirrende Luft und der Dorfhund, der auch alt und verfallen zu sein scheint. Ein visueller Höhepunkt: die Gesichter der alten Dorfbewohner, die still in die Kamera schauen und dabei immer aussehen, als würden sie gleich zu reden anfangen, aber, dann, nein, doch nicht.
Der serbische Film How I Beat Glue and Bronze (Kako sam pobedio lepak i bronzu) von Vladimir Vulević, wählt auch Off Texte, während in der Handlung des Films eigentlich nicht gesprochen wird. Ein seltsamer Mann, lange Passagen, in denen er, in stets düsteren Bildern, seinem Alltag nachgeht, aufstehen, dem Nachbarn die Zeitung bringen, zum Friedhof und zur Arbeit gehen. Die Texte dazu sind etwas zeitverschobene Zeugnisse seines Daseins, seines Lebens, dessen was man von ihm weiss oder zu wissen glaubt. Das funktioniert einigermassen.
In The End of Suffering (A Proposal) von Jacqueline Lentzou (Griechenland) funktioniert das ganz und gar nicht.
Eine verzweifelte junge Frau, in der U-Bahn, weinend, rennend, durch das analoge Filmmaterial entstehen sehr schöne und organische Bilder, man weiss zwar nicht was passiert, aber man erkennt die Verzweiflung und schaut gespannt zu. Aber dann mischt sich das Universum ein, in Form eines Off (Telefon) Dialogs, allerdings zieht es das Universum vor nur in Untertiteln zu reden. Ab da reihen sich zwar weiterhin interessante Filmbilder unter den Off Dialog, aber die illustrieren eher symbolhaft den Text, dadurch geht die Einheit des Films komplett verloren.
Jung und verzweifelt
Spotted Yellow (Zarde khaldar) von Baran Sarmad (Iran).
Auch hier eine verzweifelte junge Frau, diesmal ohne off Texte, eigentlich überhaupt ohne jeglichen Dialog. Die Frau mit Hang zu gelben Accessoires und einem gelblichen Mal im Gesicht, driftet langsam in eine schräge, eigene Welt ab. Wunderbar versponnen, ganz reduziert aber toll gespielt, eine schöne Kamera und die Sprache, wenn überhaupt, nur als Atmo vorhanden.
Black Hole (Trou Noir) von Tristan Aymon (CH) Ein Sommertag, eine Sommernacht, eine Bande von Jungs ausgelassen skatend, rauchend, feiernd. Eine hermetische Gruppe, doch für einen soll es schon am folgenden Tag in ein Internat gehen. Ein dunkles Loch, aus dem er ein Tier gehört haben will, lenkt ihn von seiner Grübelei ab und zeigt einen metaphorischen Neuanfang, der in den meisten Enden steckt. Die Bildersprache übersetzt sehr gut den jeweiligen Gemütszustand der Gruppe und des Einzelnen.
Einfach nur schön
A Boring Film (Ekti ekgheye film) von Mahde Hasan (Bangladesch) Ein Kameraspiel in schwarz-weiss, eine Übung in Bildkomposition, Tiefe, Schärfe, Unschärfe, Vorder- und Hintergrund. Ein Mann, Räume innen und aussen, Geräusche, Lärm, jedes Bild einfach nur schön, das Auge folgt, braucht weder Geschichte noch Erklärung; alles andere als langweilig, und auf einer grossen Leinwand sicher noch spannender anzuschauen. Die Beschreibung des Films, nach der es um Selbstquarantäne und Schlaflosigkeit geht, erschliesst sich nicht zwingend, ist aber auch nicht notwendig.
The Unseen River (Giòng sông không nhìn thấy) von Pham Ngoc Lan (Vietnam/Laos)
Von Anfang an betört der Film mit Verwirrung: bewegt sich das Boot, oder der Motorroller, was ist Innen, was Aussen, Natur, oder menschgebaut? Im Verlauf scheint sich auch die Zeit der Einordnung zu entziehen. Aber alles bleibt in einem harmonischen Fluss, dem man gerne folgt, ohne ihn wirklich zu verstehen.
Surreale Animation
O Black Hole! vonRenee Zhan (GB)
Grossartiges animiertes Musical, über Liebe, Vergänglichkeit, Loslassen und die Freiheit der Einzigartigkeit. Sensationelle Mischung diverser Animationsarten, Zeichnung und Stopmotion mit Plastilinfiguren. Super.
Push This Button If You Begin to Panic von Gabriel Böhmer (GB/CH)
Wegen eines Lochs im Kopf geht ein Mann zum Arzt, um ein MRT machen zu lassen. Dort geschieht allerlei Obskures und Verträumtes, und so ein MRT ist auch komplexer als gedacht. Verschiedene Animationstechniken und randvoll mit skurrilen Idee.
Zu kurzfristig, die Lage zu unsicher und dann noch andere Arbeit, die sich dazwischen geschoben hat, dieses Jahr also Berichte vom Locarno Festival, bequem vom heimischen Sofa aus.
Mittwoch, 5. August, 20 Uhr. Der Computer ist aufgeladen, Getränke kalt gestellt, aber draussen ist es zu kalt, zu hell und zu laut. Die Eröffnung also innen.
Wobei, in Locarno findet zur gleichen Zeit ja auch alles in Innnenräumen, genannt Kinos, statt. Passt also. Nochmal alles gerade rücken, die Live Online Übertragung der Eröffnung kann beginnen.
Und schon geht der Ärger auch los. Live und Online ist nicht so richtig zuverlässig, das Bild stoppt, Fehlermeldungen erscheinen, das Bild läuft wieder. Eine Weile geht alles gut, die Politik kommt zu Wort und es gibt viel Lob für das Festivalteam, viel Unterstützung auch, nicht nur für das Festival, sondern für den Film und die Filmschaffenden allgemein. Festivalpräsident Marco Solari beginnt seine Rede auf Deutsch, und wirft gleich ein trotziges „wir lassen uns nicht unterkriegen“ in den Saal. Recht hat er. Der Leopard mag dieses Jahr nicht über die Leinwand der Piazza Grande schleichen, sein Knurren ist aber deutlich vernehmbar.
Die 73. Ausgabe des Locarno Filmfestivals ist also offiziell eröffnet, mit einem anderen Programm als üblich, mit andern Ausspielwegen, mit Hygieneregeln und Abstand, aber trotzdem mit Enthusiasmus und Liebe zur Filmkunst.
Ein bisschen wie Komaglotzen
Dem Online Pressezugang sei Dank können die Kurzfilme der Leoparden von Morgen bereits seit dem 29. Juli angeschaut werden. Das funktioniert tadellos und auf Anhieb, statt täglich um 14 Uhr in Locarno ins Kino zu gehen, gibt es täglich soviel Kurzfilme, wie das Hirn verarbeiten kann oder mag. Ab 5. August 21 Uhr können dann auch alle anderen Zuschauer und Neugierigen die ersten Kurzfilme online anschauen.
Hier einige Filmtipps
Land Lot S7 (Parcelles S7)von Abtin Sarabi (Senegal/F/Iran)
Die archaische Arbeit, der Zuckerrohrernte im Senegal. Felder, Feuer, Zuckerrohr, Macheten, die Bewegungen folgen einem eigenen Rhythmus, wie ein Tanz. Dazwischen, oft nur ganz kurz, Menschen mit alten kultischen(?) Holzmasken. Unterlegt mit einem Gedicht übers Zuckerrohrschneiden. Eigenwillig, schön, interessant.
People on Saturday (Menschen am Samstag) von Jonas Ulrich (CH)
Urbane Räume, Glas, Beton strenge Linien oder Bögen, die Menschen, die sich darin bewegen, scheinen unwichtig, beliebig. Was trocken und etwas langweilig klingt, ist mit viel subtilem Humor und Witz behaftet, macht sehr viel Spass und ist alles andere als ein Produkt von Zufälligkeit.
Politische Kurzfilme
Bethlehem 2001 von Ibrahim Handal (Palästina) Bethlehem unter Ausgangssperre, während draussen israelische Panzer und Soldaten gegen steinewerfende Palästinenser kämpfen; Erinnerungen an eine Kindheit, im Wechsel fast abstrakte Momentaufnahmen beim Spielen, im Alltag und dazwischen Originalaufnahmen der Aktionen in den Strassen der Stadt. Im Erinnern wird der Off-Sprecher wieder zum Kind. Ziemlich cool ist das.
I ran from it and was still in it von Darol Olu Kae (USA) Foundfootage, privat Filme, verschiedene Bildformate, im Off Texte von Dichtern oder politischen Persönlichkeiten, ein Experimentalfilm über persönlichen Verlust und Trauer, und deren Universalität; alles vor dem Hintergrund Schwarzen Lebens in den USA.
History of Civilization von Zhannat Alshanova (Kasachstan) Eine beliebte Dozentin am Vorabend ihres Umzugs von Kasachstan nach England. Auf 15 Minuten komprimiert: Lebensperspektiven, Liebe, Heimat, Politik und soziales Miteinander, und das in wunderbaren Bildern und einer ganz einfachen Geschichte erzählt.
Ein Altersheim: die Bewohner, dünne, durchscheinende Skizzen, der Strich flüchtig, wie das was von ihrem Leben noch bleibt, manchmal blitzen kurz Farbe auf, wie Erinnerungen. Sehr schön gemacht und auch berührend.
Salmon Men (Lachsmänner)
von Veronica L. Montaño, Manuela Leuenberger, Joel Hofmann (CH)
Bunte Bleistift Animation, von paarungswilligen Lachsmännchen und tanzenden, gurrenden (!) Lachsweibchen, stromaufwärts, stromabwärts. Es geht um Fische, um Natur, aber eben nicht nur. Sehr schön.
In 14 Tagen um die Welt – zumindest im Film
Es muss einfach immer wieder gesagt oder geschrieben werden: Es müssen mehr Kurzfilme ausserhalb von Festivals gezeigt werden. Diese wunderbare Filmkunstform vermag es, in oft ganz wenigen Minuten, das Befinden und die Befindlichkeiten unserer Welt zu zeigen, ganz leichtfüssig, oft mit viel Humor, aber auch immer mit viel Ernsthaftigkeit.
Locarno 2020 bietet die Möglichkeit 31 internationale und 12 nationale (online wohl nur aus der Schweiz) Kurzfilme zu sehen. Wer jetzt neugierig ist, sollte nicht zu lange zögern, pro Film sind 1,590Zugriffe vorgesehen, das entspricht der Anzahl Zuschauer, die in einem „normalen“ Jahr im Kinosaal die Filme sehen könnten. Die Auswahl ist in zwei Tranchen geteilt, die ersten also ab sofort, die ist zweite ab 9. August zu sehen. Und seit heute können hier auch die Kurzvorstellungen der Projekte, durch die Filmemacher, für die Filme von übermorgen angeschaut werden.
Hätte, würde, sollte, könnte…. 2020 ist ein Jahr für Grammatikfans!
Am 5. August um 21:30 hätte auf der Piazza Grande in Locarno der Eröffnungsfilm beginnen sollen, es hätte vorher eine kleine, vermutlich launig-feurige Rede von Festivalpräsident Marco Solari gegeben und die künstlerische Leiterin Lili Hinstin wäre, mit neuer Frisur, in ihr zweites Jahr in Locarno gestartet. Mit Glück wäre es eine dieser schönen lauen Tessiner Nächte gewesen und mit Pech wären einige der Plastikstühle unter lautem Krachen unter jemandes Hintern zusammengebrochen.
Dieses Jahr also nicht, weil dieses Jahr alles, was Festivals, was Kultur angeht, anders funktioniert.
Absage, Online, Online-Live Kombination
Das Festival von Locarno war zunächst komplett abgesagt worden, dann hiess es, die gesamten Kurzfilme würden online gezeigt und auch die Pardinos würden von der Jury vergeben. Ein bisschen später kamen Filme derOpen Doors Sektion – dieses Jahr weiter mit Filmen aus Süd-Ost Asien – dazu. Es folgte die Entscheidung, die Hauptpreise an Filme für Übermorgen, Filme also, die wegen des dämlichen Virus nicht fertiggestellt werden konnten, aber schon so weit fortgeschritten sind, dass sie sich einer Jury präsentieren können.
Und dann, vor gar nicht so langer Zeit, fiel die Entscheidung, das abgespeckte, alternative Programm in drei Kinos in Locarno vor Publikum zu zeigen, zusätzlich zum Onlineangebot.
Das Einzige das es dieses Jahr gar nicht geben wird, sind Vorstellungen auf der Piazza Grande.
Locarno für alle
Wer sich also die Mühe macht, auf die Festivalseitezu gehen, findet dort alle Angaben wie und wo, kostenfrei, die Kurzfilme der Pardi di Domani zu sehen sind, oder kann sich Lang- und Kurzfilme aus Süd-Ostasien anschauen oder in der Sonderausgabe A Journey in the Festival’s Historyausgewählte Filme der letzten Jahreentdecken oder wiedersehen. Einzig die von Lili Hinstin persönlich ausgesuchten Secret Screenings werden tatsächlich nur in Locarno zu sehen sein, dort heisst es dann, Karte besorgen, ins Kino setzen und sich überraschen lassen. Aber auch Interviewrunden und Gespräche zu filmrelevanten Themen werden in der Zeit vom 5. bis 15. August online zur Verfügung stehen.
So kann dieses Jahr tatsächlich jeder sich ein bisschen Locarno nach Hause holen, und Filme sehen, die es sonst nicht so leicht zu sehen gibt.
Filme für die Zukunft
Von den zwanzig Filmen –10 nationale und 10 internationale –, die für die Hauptpreise zur Verfügung stehen, wird man als Zuschauer nichts zu sehen bekommen, schliesslich sind die meisten gerade mal angefangen, angedacht, ein bisschen gedreht oder wurden kurz vor dem geplanten Drehbeginn ausgebremst. Spannend ist diese Variante auf jeden Fall.
Und auf einige der Filme kann man ganz gespannt sein, wie zum Beispiel Cidade;Campo von Juliana Rojas, die mit dem fabelhaften Werwolf Film As Boas Maniera (Good Manners) begeistert hat. Oder auch der neue Film der Anthropologen Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor De Humani Corporis Fabrica,die mit Leviathan den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik gewonnen hatten. In der nationalen Auswahl ist von Unrueh, dem nächste Projekt von Cyril Schäublin, nach seinem schräg-spannenden Erstling Dene wos guet geit einiges zu erwarten.
Die Juryentscheidungen werden dann am 15. August, am letzten Festivalabend bekannt gegeben.
Die Eröffnungszeremonie ist übrigens auch Live online zu sehen: Am besten also den Computer ins Freie tragen, bequem hinsetzen und Getränke zur Hand haben. Für das ultimative Locarnogefühl: bei jedem Wetter raussetzen, und dann viel Spass bei Locarno 2020.
Mika Kaurismäkis romantische Komödie ist echtes Sommerabendkino, fröhlich, witzig, luftig, dabei intelligent und warmherzig mit einer grossen Portion Skurrilität. Damit wäre eigentlich schon fast alles an Tipp gesagt, aber selbst wenn man kein ausgesprochener Fan romantischer Geschichten ist, ist Master Chengin Pohjanjoki einen Besuch im Kino wert.
Von Shanghai nach Lappland
Mit seinem kleinen Sohn landet Cheng, ein Spitzenkoch, in einem finnischen Nest. Eine Tankstelle, ein Imbissrestaurant, grummelige Typen und sonst eigentlich nur Landschaft. Der letzte Ort also, den man einem chinesischen Städter empfehlen würde. Höflich und beständig befragt er alle Dorfbewohner nach einem mysteriösen Herrn Fongtron. Alles von Drogen- und Menschenhandel bis zu düsteren Geheimnissen scheint möglich; wer ist Cheng, wer ist Fongtron und wo ist eigentlich die Mutter des kleinen Jungen? Als eine chinesische Reisegruppe den Imbiss stürmt, retten Changs Kochkünste die Situation, fortan kocht und bekocht er Touristen sowie skeptische Einheimische. Kulturclash und traditionelle chinesische Küche, finnische Kauzigkeit und chinesische Höflichkeit, Verstehen, Missverstehen, Sauna und Tango, alles geht zusammen.
Und alles löst sich nicht ohne Charme und Witz auf, ohne dabei die Intelligenz des Zuschauers zu unterfordern. Am Ende ist man freundlich beschwingt und möchte weniger eine Romanze als eine gute chinesische Mahlzeit und so schnell wie möglich eine Reise nach Lappland buchen.
Trotzdem Kino
Die erste Vorstellung des Films war so ausverkauft wie derzeit möglich, heisst, bei Beachtung der Abstandsregeln und mit Maskenpflicht bis zum Sitzplatz, war es voll. Das ist schön. Auch wenn einige Zuschauer in der Zeit des heimischen Sofakinos wohl vergessen haben, dass man in einem Saal voller andere Zuschauer nicht alles und jeden laut kommentieren muss. Ins Kino gehen scheint diesen Sommer auf jeden Fall wieder Zulauf zu haben, gut so.
Master Cheng in Pohjanjoki läuft im Filmcasino in Origanlversion (Chinesisch, Finnisch, Englisch)
Weil es so lange kein Kino gab, diesmal gleich ein Doppeltipp, schliesslich muss man ja irgendwie das Verpasste aufholen. Zwei französische Filme, zwei eigenwillige Geschichten, ernsthafter der eine, schräger der andere.
Voodoo und Rap
Wer bei Zombi Child von Bertrand Bonello an schwankende, grunzende und vor allem blutrünstige Gestalten denkt, wird enttäuscht sein. Allen anderen sei der Film wärmstens empfohlen.
Erzählt werden gleich mehrere Geschichten oder Stränge miteinander verwobener Geschichten, in verschiedenen Zeitebenen. Teils 1962 in Haiti, teils heute in einem Eliteinternat in Frankreich. Orte und Zeiten wechseln, lassen kleine Spannungsbögen kurz hängen, wechseln hin und her, aber auch innerhalb der Zeiten und Orte wird nicht immer linear erzählt. Ereignisse bedingen sich, gehören zusammen, aber was Ursache und was Wirkung ist, bleibt auch immer wieder offen. Einerseits die Geschichte des Grossvaters in Haiti, der zum Zombie gemacht wird, aus Rache, aus Berechnung, um wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen, seiner Erinnerung und seiner Freiheit beraubt, andererseits in Frankreich die Geschichte seiner Enkelin, die das Internat besucht. Zusammen ergibt das eine märchenhafte Mischung aus Brauchtum, Überlieferung, Erwachsenwerden und der Frage nach Zugehörigkeit.
Mélissa, die Enkelin des Zombies, lebt zwei Traditionen, die ihrer Heimatinsel, Kolonialismus inklusive, und die Frankreichs, wo sie als Tochter einer Ordensträgerin der Ehrenrennlegion Anspruch auf einen Platz im altehrwürdigen Internat hat, Voodoo und Rap geben sich hier die Hand. Und auch hier sind die Antworten nicht eindeutig, bewegen sich in Raum und Zeit, verschieben sich, je nach Perspektive. Das mag verwirren, aber hauptsächlich ist das spannend-schön und ganz am Ende fast ein wenig kitschig.
Der Film läuft zurzeit im Stadtkino.
Durchgedrehte Wildlederjacke
Wer sich an dem (schwachsinnigen) deutschen Verleihtitel: Monsieur Killerstyle orientiert und nicht weiter nachliest, worum es in Quentin Dupieux Film Le Daim (Wildleder, aber auch Hirsch) geht, mag hier eine böse Überraschung erleben. Auch das Plakat wird dem Film nicht gerecht und scheint eher zu einer albernen, kleinen Komödie zu gehören.
Zum Glück ist das nicht der Fall.
Was man bekommt, wenn man den Film trotzdem anschaut, ist eine schräge Geschichte voller Wahn und Witz, mit surrealen Dialogen zwischen der Wildlederjacke und ihrem Träger, mit wüstem Gemetzel und einem Einblick in die Obsession des Filmemachens. Das alles kurzweilig erzählt und brillant beendet. Einzig die etwas matschigen Filmbilder stören etwas, vor allem am Anfang, bevor man atemlos und lachend der Geschichte folgt.
Le Daim läuft zurzeit im Votiv Kino.
Abgelenkt und abgekühlt
In allen Kinos wird weiterhin auf Hygiene und Abstand geachtet. Es gibt Warnhinweise und Desinfektionsmittel und die Kinokarten werden nicht abgerissen, sondern nur angeschaut, wirklich voll sind die Säle, vielleicht wegen des sommerlichen Wetters, zurzeit noch nicht. Wer also auf andere Gedanken kommen will und dabei bequem im Kühlen sitzen will, sollte dringend den einen oder anderen Besuch im Kino seines Vertrauens in Erwägung ziehen.
Eigentlich hätten die Preise der Diagonale Ende März vergeben werden sollen, am Ende einer Woche voller Filme, Gespräche und Begegnungen, auf einer Bühne, Rahmenprogramm inklusive. Dass dieses Jahr anders ist, hat sich langsam reichlich genug gezeigt.
Anders als einige andere ausgefallene Festivals, hatte sich die Diagonale entschieden, weder online zu gehen noch ein „abgespecktes“ Programm zu zeigen oder den Termin zu verschieben. Und so gab es einiges an Organisation, Terminkoordinierung und Klärungen, bevor die Jurymitglieder die Diagonale-Filme online anschauen, besprechen und bewerten konnten, aber jetzt ist es vollbracht, die Preisträger stehen fest. Das ist wichtig. Wichtig für die Filme/Filmemacher, wichtig aber auch für diejenigen, die die Preise stiften. Filmpreise sind auf mehreren Ebenen ein Wirtschaftsfaktor, der Wegfall also wirtschaftlich schwer verdaulich.
Die Preise
Der Abräumer des „Abends“ ist Sandra Wollners The Trouble With Being Born, der sowohl den Grossen Diagonale Preis Spielfilm bekam, als auch für den besten Schnitt (Hannes Bruun), das beste Sounddesign (Peter Kutin), und den besten Schauspieler (Dominik Warta ) ausgezeichnet wurde.
Nicht unerwartet und zu Recht geht der Grosse Preis Diagonale Dokumentarfilm an Sabine Derflinger für DIE DOHNAL Frauenministerin / Feministin / Visionärin. Der Film läuft weiterhin in den Kinos, wer ihn noch nicht gesehen hat, kann und sollte das jetzt nachholen.
Eine besondere Freude ist der Preis für die beste Kamera Dokumentarfilm. SPACE DOGS lebt vom ruhigen, geduldigen (Kamera) Blick Yunus Roy Imers. Der Film kommt im Herbst in die Kinos.
Auch hochverdient und erfreulich der Preis Szenenbild an Katharina Wöppermann für LittleJoe, auch hier hat ihre künstlerische Leistung einen riesigen Anteil am Erfolg des Films.
Seit dem 19.Juni spielen, zumindest in Wien, die Programmkinos wieder. Zeit also, endlich wieder ins Kino zu gehen. Allerdings gilt es einiges zu beachten, zum Beispiel rechtzeitig Karten reservieren, frühzeitig kommen, um diese Karten in Empfang zu nehmen.
Und da zwischen jedem Zuschauer, der mit seinem Sitznachbarn nicht in einem Haushalt lebt, ein Sitz frei bleiben muss, gilt es, lieber etwas früher in den Kinosaal zu gehen, um ein brauchbares „Schachbrettmuster“ zusammenzubringen. Trotzdem: endlich wieder Kino im Kino.
Der Film
Die Perfekte Kandidatin vonHaifaa Al-Mansour ist nach Das Mädchen Wadjda eine weitere Saudi Arabisch-Deutsche Koproduktion der Regisseurin. Die Erwartungen sind hoch, denn mit Das Mädchen Wadjda hat sie bezaubert und begeistert. Und obwohl auch in Die Perfekte Kandidatin ein durchaus interessantes und wichtiges Thema verhandelt wird, bleibt die Geschichte zu dünn.
Eine junge Ärztin in einem Unfallkrankenhaus, die eigentlich nur zweierlei will, die Strasse vor der Ambulanz endlich asphaltiert sehen und einen gut bezahlte Stelle in einem Krankenhaus in Dubai bekommen. Doch plötzlich findet sie sich als Gemeinderatskandidatin wieder. Dass das natürlich nicht einfach so ein kleiner lokaler Wahlkampf wird, ist klar. Aber es ist nicht genug, da hilft es auch nicht, dass parallel die Geschichte der Musikgruppe ihres Vaters erzählt wird, zumal diese Geschichte völlig blutleer bleibt. An sich gäben beide Handlungsstränge einiges an Potenzial her, aber sie sind zu vage gehalten, die Konflikte bleiben sehr an der Oberfläche, lösen sich irgendwie in Luft auf, und verpuffen dadurch. Dass am Ende auch noch der mies gelaunte alte Patient, der sich anfangs nicht mal von der Ärztin anschauen, geschweige denn anfassen lassen will, sich nicht nur bei ihr für die Behandlung bedankt, sondern eine Art Wahlkampfrede zu ihren Gunsten vorträgt, geht gar nicht.
Nettigkeit und Koproduktion
Es stellt sich die Frage, ob eventuell Teile dieser gefälligen Geschichte so und nicht anders ausgefallen sind, um alle geldgebenden Seiten zufriedenzustellen. Teile der deutschen Finanzierung kommen vom NDR, so wird der Film ohne grosse Aufregung im Fernsehen zur Hauptsendezeit laufen können. Schade ist, dass ein so wichtiges Thema wie Frauenrechte in streng islamischen Staaten in Seichtigkeit und Zuckerguss ertrinkt.
Trotzdem
Es ist schön wieder ins Kino zu gehen, im dunklen Saal auf eine grosse Leinwand zu schauen, sich darüber zu ärgern, dass von hinten jemand beständig gegen die Sitzlehne tritt, dass laut knisternd im Saal gefuttert wird und dass es immer, wirklich immer, Leute gibt, die ihrem Sitznachbarn halb geflüstert den Film erklären.
Langsam kommt Bewegung in die pandemische Trägheit!
Nicht nur einkaufen ist wieder möglich, auch essen gehen mit Freunden und – ab Mitte Juni – werden die Kinos ihre Säle wieder dem Publikum öffnen dürfen. Zeit wurde es ja. Es sieht sogar langsam so aus, als ob auch Dreharbeiten wieder möglich werden. Von Konzepten beim Dreh und sogar von finanziellen Sicherheiten, bei Ausfällen, ist die Rede.
Vielleicht war das Aufschreien vonseiten der österreichischen Kunst- und Kulturschaffenden dann doch laut genug, dass sich die verantwortlichen Stellen zusammengesetzt haben; es scheint Pläne und Ideen zu geben, nach denen eine grosse Anzahl Kollegen demnächst wieder Geld verdienen könnten.
Das alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es da ein fundamentales Verständnisproblem gibt.
Kein Hobby
Filmschaffende sind keine verrückten Hobbybastler. Nur weil vielen die Arbeit Spass macht, qualifiziert das die Arbeit längst nicht zum Hobby oder Zeitvertreib runter. Wenn man von Filmwirtschaft oder auch Filmindustrie spricht, ist das kein hübsches Synonym, weil man nicht zum dritten Mal Filmemacher/Filmschaffende oder Ähnliches sagen oder schreiben mag. Film ist ein Geschäft, manche verdienen daran sogar sehr viel, also wirklich viel Geld, und sehr viele verdienen damit einfach ihren Lebensunterhalt. Das unterscheidet Menschen bei Film und Fernsehen dann nicht so sehr von allen anderen arbeitenden Leuten. Aber aus irgendwelchen unklaren Gründen hat sich das nie richtig etabliert im kollektiven Denken. Und so bleiben viele im Schatten, ihre oft prekären Arbeitsverhältnisse sind selten bis nie Thema, ist ja nur Film.
Aber Film ist das, womit sich sehr viele Leute, während sie selber darauf warten, oder gewartet haben, wieder an ihre Arbeitsplätze zu gehen, die Zeit vertrieben haben und vertreiben werden. Film ist Teil der allgemeinen Freizeitkultur.
Diese Filme muss aber jemand herstellen. Drehbücher muss jemand schreiben, Regie führen, Kamera führen, schneiden, Kostüme und Masken müssen erdacht und erstellt werden, Tricks ausprobiert und umgesetzt werden etc. Wer sich eine Vorstellung machen möchte, wie viele Kollegen an einem Film gearbeitet haben, kann ja beim nächsten Kinobesuch den ganzen Abspann anschauen, oder beim Abspann im Fernsehen, selbst wenn der haarsträubend kurz ist und sehr schnell läuft, nicht wegschalten.
Eine Lobby muss her
Wir müssten also darüber reden, dass das Produkt, das die Filmindustrie herstellt, wie jedes andere Produkt auch, gekauft, also bezahlt werden muss; damit die Produzierenden ihr Leben finanzieren können, damit auch demnächst noch Filme zu sehen sind, damit der Zuschauer, also der Konsument, nicht nur Wiederholungen alter Kamellen zu sehen bekommt. Die Filmwirtschaft kann nicht unwichtiger sein als die Fussballbundesligen (der Männer), hier wäre eine starke Lobby gefragt, oder zumindest starke, interessierte und informierte Zuschauer.
In den letzten zwei Monaten haben sich viele Filmfestivals im Internet abgespielt, was wichtig war und ist, sowohl für die Filmemacher als auch für die Sponsoren, und viele Filmschaffende haben in den letzten zwei Monaten Werke, ihre Werke, gratis ins Internet gestellt. Das ist schön, das hat die Künstler und die Zuschauer abgelenkt und Freude bereitet. Aber es hat womöglich auch den falschen Glauben genährt, dass es Kunst gratis gibt, dass Kunst so nebenbei entsteht und ihr Wert nichts wert ist. Das wäre schade, sehr schade. Wir sind ein integraler Teil der Wirtschaft und ohne das was wir kreieren wäre die Welt ganz schön farblos, die Freizeit ganz schön leer. Jemand muss, wie in Leon Lionnis schönem Kinderbuch „Frederick die Maus“, die Farben, das Licht und die Gerüche sammeln und aufbereiten, um sie später mit allen zu teilen.
Film ist kein Luxus, Film ist lebenswichtig.