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#FilmTipp Perfect Days

 

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Positiv ins neue Jahr

 

18Uhr, an einem Donnerstag, und das Kino-Foyer ist gesteckt voll. Statt Einkaufswahnsinn und Geschenke-Umtausch wollen die Leute Wim Wenders aktuellen Film Perfect Days sehen.

 

Alles im Fluss

 

Der Film begeistert ab den ersten Minuten. Anfangs hauptsächlich durch die fabelhaft schönen Bilder im engen 4:3 Format, die perfekte Bildausschnitte liefern, mal an Hopper Gemälde, mal an abstrakte kubistische Bilder erinnern. Dazu kommt der flüssige Schnitt, der so gut wie immer ein Bewegungsschnitt ist, der mal die Aktion flüssig weiterführt, mal eine kleine Ellipse fliessend in Szene setzt. Ein wunderbarer Einstieg, der einen sofort für die Geschichte einnimmt, noch bevor die gesamte Strahlkraft der Figur Hirayama dazukommt.

 

Lächeln und schweigen

 

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Hirayama, ein Mann vorgerückten Alters, der die Welt, sein Leben, seine Umgebung lächelnd und schweigend hinnimmt. Aufstehen, rasieren, zur Arbeit fahren, arbeiten, in seinem Fall: öffentliche Toiletten putzen, alles hat seinen festgelegten Rhythmus, wird mit Präzision erledigt, wiederholt sich, ohne zu langweilen. Ein Sonderling in einer hektischen Welt, die man aber als solche gar nicht wahrnimmt, man weiss um sie, hat man sie doch gerade erst verlassen, um in den dunklen Kinosaal zu gehen. Auf der Leinwand ist sie weg. Lächeln, schweigen, Musik.

 

Musik als kommentierendes Element

 

Die Musik spielt, wie in vielen Wenders Filmen, eine grosse Rolle.
Wer die – ikonischen– Stücke der 60er – 80er Jahre kennt, hat einen kleinen Vorsprung, ahnt die Stimmung schon mit den ersten Takten eines neuen Stückes. Nicht nur Lou Reeds Perfect Day unterstreicht und kommentiert harmonisch die Bilder, auch Patti Smith Redondo Beach, das ein ganz junges Mädchen verzaubert, erzählt so eine ganze Geschichte jenseits der Handlung.

 

Schweigsam, nicht sprachlos

 

Kurze Momente brechen das schweigsame Leben des Protagonisten, lassen einen Hintergrund erahnen, der aber nie aufgelöst wird. Wenn er spricht, dann ist es auch wichtig, dient aber gleichzeitig der Grundhaltung, mit der er durch sein Leben geht:
Lächelnd das heute akzeptieren, schweigend den Tag geniessen, der perfekt ist, wie er ist.
Wer einen Film sehen möchte, der alles bis zu Ende erklärt, ist hier verkehrt. Wer sich an der Komposition von perfekten Bildern, fliessendem Schnitt und grosser Darstellerkunst erfreut, dem ist Perfect Days dringend ans Herz gelegt, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Länge von 123 Minuten.

Und für alle, die Wenders Filme kennen: der epische Monolog gegen Ende findet – erfreulicherweise – nicht statt!


Preiswürdig

 

Perfect Days geht in der Kategorie Bester ausländischer Film für Japan bei den Oscars ins Rennen. Auf jeden Fall preiswürdig sind Schnitt (Toni Froschhammer), Kamera (Franz Lustig) und Hauptdarsteller (Kōji Yakusho).

Der Film läuft weiterhin im Kino, in Wien zum Beispiel im Burg Kino, Filmcasino und Votiv Kino .

 

 

 

# Vorschau nach Solothurn

 

 

Künstlerische und administrative Leitung Solothurner Filmtage
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Ein Blick in die Zukunft

 

An sich ist ja gerade die Jahreszeit der Rückblicke, des Besinnen auf das Vergangene; die Schweizer Filmtage in Solothurn lassen heute einen Blick in die Zukunft zu. Das Programm der 59. Filmtage wird vorgestellt.
Ein positives Relikt der Pandemie-Zeit: Online Programmpräsentationen.
Im Vorteil sind natürlich alle, die heute vor Ort dabei sind, schliesslich gibt es für sie zusätzlich zur Information noch Kaffee und Croissants.

 

Sofa statt Kinositz

 

Auf dem Computer erscheint, nach einem kurzen technischen Schwarz, der Saal des Rex in Bern, also zurücklehnen auf dem Sofa.
Einiges wird neu, anders werden im kommenden Jahr.
Die Programmschienen wurden neu gestaltet, sie sollen weniger „kleinteilig“ werden, und dadurch klarere Form bekommen.
Der Preis „Opera Prima“ für einen Erstlingsfilm wurde erweitert, darin sind jetzt erste bis dritte Langfilme, er läuft unter dem neuen Namen „Visioni“.
Die Idee dahinter: ein erweiterter Blick auf die künstlerische Kontinuität, auf Anfänger, deren zweiter (oder dritter) Film oft viel schwerer auf die Leinwand kommt, als der erste. Weiterhin werden der Publikumspreis und der Prix de Soleure vergeben werden. Zur Auswahl stehen jeweils sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme, oder alles was dazwischen mach- und denkbar ist.
Ein kurzer Blick ins Programm zeigt, es wird anstrengend, einfach, weil alle Filme spannend klingen.

 

Neben dem Hauptprogramm

 

Die morgendliche Gesprächsrunde „Fare cinema“ mit verschiedenen Filmarbeitenden zu spezifischen Themen wird fortgesetzt, was schön ist, da schon im letzten Jahr wirklich interessante Kollegen Rede und Antwort standen. Und dort auch Kollegen und Themen von hinter der Kamera, und somit jenseits der üblichen Sichtbarkeit, ins Bild zu Wort kommen.
In der Schiene „Histoires“ wird die älteste Schweizer Filmproduktion Praesens, 1924 gegründet, mit einer Filmreihe gefeiert und präsentiert. Da wird es Seltenes zu sehen geben. Auch dafür wird dann im engen Tagesplan Zeit gefunden werden müssen.

Eröffnet werden die 59. Solothurner Filmtage am 17. Januar 2024 mit der Weltpremiere von Les paradis de Diane von Carmen Jaquier, Jan Gassmann.

Das gesamte Programm gibt es auf der Festivalseite.

Soviel zur Vorschau auf das Programm von 2024, das eine Werkschau, eine Rückschau, auf das Schweizer Filmschaffen des Jahres 2023 sein wird, klingt komplizierter als es ist.

 

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#FilmTipp Killers of the Flower Moon

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Sitzfleisch

Martin Scorseses neuer Film Killers of the Flower Moon verlangt Sitzfleisch.
Mit 206 Minuten Laufzeit ist der Film selbst für Scorsese lang.
Aber lohnt sich das?
206 Minuten, also 3 Stunden und 26 Minuten lang – still – im Kino zu sitzen?


Erbe

Prinzipiell ist die Geschichte rasch erzählt: Das Volk der Osage erhält Land, das nach nichts Besonderem aussieht, aber in den späten 1890er Jahren plötzlich Erdöl preisgibt. Die Osage besitzen nicht nur das Land, sondern auch die Rechte an der Vermarktung des Erdöls, und kommen so zu erheblichem Reichtum, und verlassen gleichzeitig auch ihren traditionellen Lebensstil, die Moderne erhält mehr und mehr Raum. Dass das bei den weissen US-Amerikanern nicht so gut ankommt, kann man sich vorstellen.

Erbschleicher

Der Filmhandlung beginnt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Reichtum ist etabliert, Osage und ihre weissen Nachbarn leben in scheinbarer Harmonie zusammen, Ehen werden zwischen Weissen und Osage geschlossen. Aber die Motive sind nicht ewige Liebe, sondern Neid und der perfide Plan, mittels Erbe an den Boden und damit den Reichtum zu kommen.

Exposition

Scorsese lässt sich Zeit. Am Anfang zeigt er mit fast wissenschaftlichem Ernst den Alltag, das Miteinander, etabliert die Bühne für das kommende Drama. Er macht das mit Bildern, in denen es vor Menschen und Aktivitäten nur so wuselt, in denen man meint, den Ort, Fairfax, zu riechen.
Er mischt Bildformate und wechselt von leicht sepiaeingefärbten Szenen zu Schwarzweissbildern in dichtem 4:3 Format und wieder zurück. Auch hier eine Vorbereitung auf echte Filmbilder aus der Zeit, die dem Film und der Geschichte immer wieder Tiefe und Bezug zur Realität geben.

 

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Schaupielkunst

Und erst als die Ausgangslage hinreichend etabliert ist, lässt er sein unglaubliches Schauspielerensemble los. Leonardo DiCaprio, der mit fast ständiger Schmollmiene den naiven Deppen spielt, den idealen Mitläufer und Erfüllungsgehilfen. Und das macht er grausam gut.
Robert De Niro hingegen macht mit seiner freundlichen Art, der stets ruhigen, leisen Stimme, den scheinbar menschenfreundlichen Gedanken Angst. Er ist grundböse und macht sich kaum selbst Hände schmutzig. Er ist dabei so sanft, dass es einen schaudert. Es gibt kaum Szenen, in denen jemand schreit, ausfällig wird. Umso brutaler alles, was sich abspielt.
Und schliesslich Lily Gladstone, die gleichzeitig abgeklärt, sanft und überlegen sein darf, krank und schutzlos und dann wieder, in völliger Ruhe, stark und berechnend.
Alleine das Spiel dieser drei Darsteller ist jede Minute des Films wert.

Bilder

Zusammengehalten wird alles durch die beeindruckende Bildgestaltung von Rodrigo Prieto, der oft mit langen, bewegten Einstellungen arbeitet, was gleichzeitig inszeniert und dokumentarisch ist, und so viel Nähe zur Situation schaftt. Durch Licht, Schatten und Einfärbungen unterstreicht er den subtilen Horror der Geschichte, während Thelma Schoonmaker mit dem Schnitt zwischen Laufenlassen und plötzlicher Irritation durch unvorhersehbare Schnittfolgen die Balance hält und Spannung erzeugt.

Lohnt sich das also?

Die Antwort ist leicht: ja, das lohnt sich.
Vorausgesetzt man trinkt nicht vor oder während der Vorstellung zu viel.
Nichts ist nerviger, als in einem Kino zu sitzen, wo ständig jemand einem auf die Füsse trampelt, durchs Bild läuft, um mal eben schnell aufs Klo zu gehen.

Der Film läuft in Wien im Original im Burgkino und im Hayden Kino

#FestivalTipp Viennale

 

(c) ch.dériaz

 

Eine kleine Auswahl grosser Filme

 

 

Vom 19.10. bis 31.10. findet die Viennale statt, das Programm ist wie immer üppig und vielfältig. Hier ein paar – wenige – Festival-Tipps.

Lang

Ganz dringend sollte man versuchen, den rumänischen Film Nu astepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much from the End of the World) von Radu Jude anzuschauen.
Jude gehört zu den originellsten, kompromisslosesten europäischen Regisseuren. Und auch wenn sein aktueller Film mit fast drei Stunden lang erscheint, wenn man erstmal schaut, vergeht die Zeit wie im Flug. Sein Sinn für subtilen und subversiven Humor und sein Gefühl für Rhythmus und Schnitt sind jedes Mal eine grosse Freude. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er-Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80er Jahren wären eine umfassende Analyse wert. In Locarno entschuldigte er sich vor der Premiere für die Länge, mit dem Hinweis, der Film musste so lang werden.
Er läuft an diesen Terminen.


Kürzer

Ein viel kürzerer Film, mit nur 65 Minuten, ist Yannick von Quentin Dupieux.
Aber auch das macht ihn für normale Kinoprogrammierung schwer vermittelbar. Und deshalb sei auch dieser fabelhaft groteske und intelligente Film dringend empfohlen.
Er ist ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.
Im Programm an diesen Terminen.


Noch kürzer

Bei den Kurzfilmen sei Kinderfilm des Kollektivs Total Refusal sehr empfohlen. Was dieses Regie-Kollektiv macht, ist eigentlich jedes Mal witzig, erstaunlich und wirklich innovativ. Die Geschichte findet komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) statt. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

Einer geht noch

Selbst wenn er demnächst sowieso in die Kinos kommt, Anatomie d’une chute von Justine Triet ist ein mit Recht hochgelobter und mit Preisen belohnter Film.
Er ist spannend, extrem gut erzählt und irre gut gespielt. Was bei diesem Gerichtsdrama, wenn man es so nennen mag, besonders gelungen ist, ist die Ungewissheit, in der der Zuschauer bis zum Schluss bleibt. Alle Möglichkeiten sind offen, alles kann passiert sein. Die einzigen Momente, in denen man wirklich Partei beziehen möchte, sind bei den immer kruder werdenden Aussagen des Staatsanwalts, aber dann wieder: wer weiss?
Hier die Spieltermine

Eine kleine Auswahl grosser europäischer Filme, die jenseits bekannter Pfade Geschichten erzählen.

Das gesamte Programm, inklusive Rahmenprogramm, findet sich auf der Festivalseite.

 

#FilmTipp Fallen Leaves

 

(c) ch.dériaz

 

 

Farbig, aber nicht bunt

 

(c) ch.dériaz

Wer einen Film von Aki Kaurismäki anschaut, weiss, was er bekommt: liebevoll gezeichnete Figuren in miesen Jobs, in prekären Verhältnissen, oft saufend, häufig singend, dafür wenig gesprächig, aber immer mit einem Rest an Hoffnung in einem düster erscheinenden Leben.
Das ist bei Fallen Leaves nicht anders.
Was hier aber hervorsticht, ist die Farbdramaturgie, der Einsatz von Grundfarben, als dramatische Entsprechung zur emotionalen Lebenssituation.


Rot-Blau-Gelb


Keine Szene ohne Rot oder Blau, aber nicht die reinen, schönen Farben, sondern ihre schmuddeligen Verwandten. Die Blautöne sind allesamt verblasst, tendieren ins Grau. Die Rottöne sehen alle aus wie getrocknetes Blut, mal heller, mal dunkler, aber immer irgendwie blutig. Und die Gelb-Akzente erinnern an den letzten Rest Senf in einem Glas, das man im Kühlschrank vergessen hat. Und doch, auch aus diesen Grundfarben können alle anderen Farben entstehen.
Auch wenn zunächst alles, was schiefgehen kann, auch wirklich schiefgeht.
Selbst prekäre Jobs bringen Geld, ihr Verlust ist daher dramatisch, genau wie der Verlust der Telephonnummer, als sich gerade so etwas wie eine Beziehung andeutet. Aber so, wie der Film immer wieder kurze Stadt-Totalen in schönen, klaren Herbstfarben zeigt, scheint es in den Figuren einen bunten Rest an Hoffnung zu geben, ein Aufstehen nach dem Sturz.

Ohne Grauschleier in die Zukunft

Und so dürfen in den letzten Szenen die Farben plötzlich kräftig werden, der trübe Schleier lüftet sich, zumindest ein wenig, und eine finnische Version der „Feuilles mortes“ begleitet den Abspann.
Das alles ist wunderschön und hilft gegen möglicherweise aufkommenden Herbst-Blues.

 

(c) ch.dériaz

Der Film läuft weiterhin in den Kinos:

www.filmcasino.at

www.burgkino.at

www.schikaneder.at

www.admiralkino.at

www.cinecenter.at

#FilmTipp Past Lives

 

 

(c) Eva-Maria Pelz

 

 

Liebesgeschichte

 

Nein, dass Past Lives von Celine Song im Wesentlichen eine Liebesgeschichte ist, braucht einen, ausnahmsweise, nicht davon abzuhalten, ins Kino zu gehen.
Ganz im Gegenteil.
Wer Past Lives noch nicht gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen.

Der Film ist nicht nur wunderschön gedreht, er erzählt auch auf intelligente und witzige Art von den Möglichkeiten, der Wahl, die man im Leben hat. Und davon, wie man damit umgeht.
Zugegeben, es wird viel geredet in diesem Film, aber eben nicht nur. Die Blicke, Blickwechsel, das Mienenspiel, die Körpersprache der Darsteller
(Teo Yoo, John Magaro) und Darstellerin (Greta Lee), erzählen fast noch mehr.

Kindheitsträume

Die erste, zarte Verliebtheit der zwölfjährigen Kinder Na-young und Hae-sung wird kalt unterbunden, als Na-youngs Familie nach Kanada auswandert.
12 Jahre später finden die beiden sich Online wieder. Ein neuer, erwachsenerer Austausch entsteht, aber eben nur per Skype-Anrufe oder E-Mails. Jeder, der Kindheitsfreunde nach langer Zeit wiederfindet, kennt diese merkwürdige Vertrautheit, gepaart mit grosser Verwunderung und einem Schuss Unsicherheit. Und diese Gefühle spiegeln sich nicht nur in den Dialogen wider, sondern auch in der Körpersprache.

Endlich Erwachsen

Noch einmal 12 Jahre später stehen sie sich endlich gegenüber, in New York, wo Na-young, mittlerweile verheiratet, lebt. Der Film spielt mit der Möglichkeit, die Träume der Vergangenheit in der Gegenwart umzusetzen, zeigt aber dabei ganz klar die Problematik eines solchen Unterfangens. Zwei Szenen bilden dabei den Drehpunkt der Geschichte, das Treffen der beiden „Kinder“ und das Gespräch Na-youngs abends mit ihrem Ehemann. Während das Treffen von Na-young und Hae-sung linkisch, aber auch wieder „süss“ erscheint, zeigt das Gespräch abends, wie eine erwachsene, souveräne Partnerschaft funktionieren kann.

Der Film lässt sich Zeit, die Gefühle zu zeigen, zu verstehen, zu bewerten und Entscheidungen zu treffen, dennoch ist er fesselnd, spannend, schön und kitschfrei. Und am Ende möchte man eigentlich sofort eine Reise nach New York buchen.
Zeit also, Past Lives anschauen zu gehen.

In Wien läuft der Film weiterhin im Gartenbau Kino – auch das ein guter Grund, trotz sonnigem Herbstwetter ins Kino zu gehen.

 

Locarno#76 Zum Schluss

 

(c) ch.dériaz

 

 

Vorhersagen

 

Jedes Jahr werden Filmkritiker in Locarno gefragt, welches ihr Favorit für den Pardo d’Oro ist. Sehr oft herrscht eine Art Einigkeit, aber kein Jahr war es so eindeutig wie diesmal.
Mit 12 Nennungen liegt Radu Judes Film Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, einsam an der Spitze. Sein Film vereint vieles, das gerade in Locarno wichtig ist: künstlerische Freiheit in der Wahl der Ausdrucksform, intelligent erzählte Geschichte, der trotzdem der Witz nicht fehlt, und Originalität in der Umsetzung. Am Abend wird sich zeigen, ob die Jury das genauso sieht.
Die beiden nächst häufig genannten Filme: Yannick von Quentin Dupieux und
The Vanishing Soldier von Dani Rosenberg, mit jeweils zwei Nennungen, sind definitiv auch sehr gute Kandidaten, in der Meinung der befragte Kritiker aber ganz schön weit abgeschlagen. Auch Stepne von Maryna Vroda wäre ein würdiger Kandidat und, möglicherweise, ein politisches Statement. Ob die Jury sich von Politik oder nur von künstlerischem Ausdruck leiten lässt, bleibt ihr Geheimnis.
Aber vielleicht verhält es sich mit Kritiker-Vorhersagen ähnlich wie mit Wettervorhersagen.

 

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Themen

Es war viel von Sexualität die Rede, aber auch wenn „sex sells“ für die Werbung gilt, das alleine macht noch keinen interessanten oder guten Film. Und in einigen Fällen waren die vermittelten Bilder und Werte sehr rückwärtsgewandt.
Gar nicht wenige Filme verlegten ihre Geschichten in die Vergangenheit, wobei nur bei wenigen mit der Zeit und ihren historischen Implikationen gespielt wurde.

 

Bildformate

Die Wahl des Bildformats, des Materials, der visuellen Ästhetik waren auch in diesem Jahr vielfältig. Die Leinwand wurde je nach Bedarf in voller Breite oder im reduzierten 4:3 genutzt, und fast immer entsprach die Wahl dem für die Geschichte besten Bildformat. Dass wieder vermehrt auf Film gedreht wird, und dass Schwarzweiss-Bilder als Ausdruck gewählt werden, ist eine schöne Entwicklung.

 

(c) ch.dériaz

 

Preise

Den Pardo d’Oro im Hauptwettbewerb gewinnt Mantagheye Bohrani (Critical Zone) von Ali Ahmadzadeh, den ich leider nicht gesehen habe.
Radu Jude bekommt für Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, neben anderen Preisen, den Spezialpreis der Jury und den Hauptpreis der Jugendjury.
Maryna Vroda gewinnt mit Stepne den Preis für die beste Regie im Hauptwettbewerb und den FIPRESCI Preis.
Im Wettbewerb Cineasti del presente, gewinnt Hao jiu bu jian (Dreaming & Dying) von Nelson Yeo den Pardo d’Oro und den First Feature Award.
Warum Katharina Huber für Ein schöner Ort den Preis als beste Nachwuchsregisseurin bekommt, erschliesst sich mir nicht.
Der Pardo Verde geht an Čuvari Formule (Guardians of the formula) von Dragan Bjelogrlić, der auf der Piazza an einem Regentag als zweiter Abendfilm lief, bedauerlicherweise nicht gesehen.
Besonders die Preise der Jugenjury an Radu Jude, an Maryna Vroda oder an Sweet Dreams von Ena Sendijarević beeindrucken. Die zukünftigen Kinozuschauer haben keine Berührungsängste mit komplexen Themen, Autorenkino oder Kinokunst. Das gibt Hoffnung und widerspricht dem, was sonst so pauschal vom Geschmack junger Zuschauer gesagt wird.
Europäisches Autorenkino ist gefragt, man muss nur den Mut haben, das dann auch im Kino zu zeigen.

Publikumspreis

Dann stellt sich weiter die Frage: Kann ein Film, in dem ein niedliches Haustier böse zu Tode kommt, den Publikumspreis gewinnen?
Wie schon direkt im Anschluss an Ken Loachs Auftritt auf der Piazza abzusehen war, gewinnt The Old Oak den Publikumspreis. Das damit verbundene Preisgeld, liess er durch seinen Schweizer Verleiher mitteilen, wird Loach an Flüchtlingsorganisationen spenden.
Und damit wäre auch die Frage beantwortet: Ja, selbst wenn niedliche Haustiere zu Tode kommen, kann ein Film das Publikum gewinnen.
Alle Preise sind auf der Webseite des Festivals zu finden.

 

 

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Abschied

Am Abend fängt es an zu regnen, aber trotzdem strömen Menschen auf die Piazza. Die Stühle sind nass, überall Regencapes. Wird die Schlusszeremonie wirklich auf der Piazza Grande stattfinden?

 

 

Punkt 21 Uhr ist es dann so weit, der Regen hat aufgehört, und zum letzten Mal für dieses Jahr heisst es: „Buona Sera, Piazza Grande“.
Die grössten Emotionen löst der letzte Auftritt von Marco Solari aus, er wird mit stehendem Beifall empfangen, wovon er sichtlich bewegt ist. Noch einmal beschwört er den freien Geist, der in Locarno herrscht, und von dem er überzeugt ist, dass auch die kommende Festivalpräsidentin ihn mit ihrem Team weiter tragen wird.
Als scheidender Präsident hat er einen Überraschungsfilm versprochen, und sich für Citizen Kane entschieden.

 

 

Gewalt

Der Abschlussfilm Shayda von Noora Niasari erzählt von dem, das oft euphemistisch als häusliche Gewalt bezeichnet wird. Dass die Hauptfigur der Geschichte eine iranische Mutter in Australien ist, fügt dem Problem eine Dimension dazu. Aber im Kern, und das ist auch im Film deutlich, ist das Problem immer dasselbe, egal wo die betroffenen Frauen und ihre Kinder herkommen. Die titelgebende Shayda ist nach Gewalt und Vergewaltigung durch ihren Mann in einem Frauenhaus untergekommen, trotzdem versucht sie für ihre Tochter eine halbwegs normale Beziehung zum Vater zu ermöglichen. Dass das nur bedingt gut geht, liegt auf der Hand. Der Film ist sehr emotional und vor allem von der 6-jährigen Selina Zahednia toll gespielt.

 

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Das war es aus Locarno.
Nächstes Jahr am 7. August wird pünktlich um 21:30 die 77. Ausgabe beginnen.

Locarno#76 Countdown

 

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Tote Hühner

 

Der letzte komplette Kino-Tag in Locarno, die letzten Filme, letzte Chance für die ganz grosse Überraschung.

Ein schöner Ort von Katharina Huber fällt definitiv nicht in die Kategorie „grosse Überraschung“. Rätselhafte, wenn auch oft schöne, Bilder kombiniert mit kryptischen, meist ausserhalb des Bildes stattfindenden Dialogen, die dafür klingen wie abgelesen. Tatsächlich findet fast alles ausserhalb des Bildes statt: Huhn schlachten, Stall sprengen, Sex. Immer wieder tote Hühner, tote Küken oder abgetrennte Hühnerfüsse, morbides Stillleben.
Ein Bauernhof, ein Dorf, anscheinend verschwinden Menschen – oder sterben sie? – und eine inhomogene Gruppe, von der man nicht versteht, was sie tut. Dazu noch ein Radio, aus dem ständig Berichte über einen Raketenstart tönen. Dummerweise ist die Geschichte in Kapitel unterteilt, die von 10 heruntergezählt werden. Bei 8 ist einem schon die Lust vergangen mehr zu sehen, bei 3 wünscht man, das Ende des Films möge schnell kommen.
Ist das ein versponnener Ökothriller? Eine Allegorie auf den Zustand der Welt? Ein kollektiver Albtraum? Oder einfach selbstverliebtes Spielen mit Bildern, mit Chiffren, mit Andeutungen? Schwer zu sagen.
Am Schluss gab es den spärlichsten Applaus überhaupt, etwa drei Personen haben zweimal in die Hände geklatscht, wahrscheinlich aus Erleichterung, endlich aufstehen zu können.

 

Spalten

 

Gefahren anderer Art begegnen einem auf den Planken des Spazio Cinema. Die Abstände zwischen den Holzplanken sind so gross, dass sich immer wieder Stuhlbeine dort einfädeln, was zu derben Stürzen führt. Im besten Fall schafft man, den Sturz noch abzufangen, im schlechtesten Fall landet man, mitsamt Stuhl, recht unelegant auf den Brettern.

 

 

Verlust

 

Das letzte Kurzfilmprogramm hat vielfältige Verluste zum Inhalt.
Jaima von Francesco Pereira erzählt vom Verlust an Lebensraum, den die Sahrauis seit Jahrzehnten erleiden. Zwischen den Fronten der bewaffneten Konflikte um die West-Sahara bleiben sie auf der Strecke, und leben seit Jahren in Flüchtlingslagern. Unsentimental und sachlich, dabei trotzdem empathisch.

The Passing von Ivete Lucas und Patrick Bresnan hat vermutlich jeden im Saal zum Weinen gebracht, der jemals ein Haustier hat einschläfern lassen müssen. Sie begleiten einen Tierarzt in einem texanischen Städtchen, er fährt zu den tierischen Patienten, erzählt ihnen Geschichten, während er sie behandelt. Und genauso einfühlsam, wie er eine einfache Impfung gibt, schläfert er am Ende eine alte Hündin ein, im Garten, auf ihrer Schlafdecke. Ein sehr beeindruckendes Portrait, sowohl des Tierarztes als auch der Menschen, die den Verlust verkraften müssen.

Pray von Caleb Azumah Nelson ist auf Film und in Schwarzweiss gedreht, mit bewegter, sehr direkter, fast dokumentarischer Kamera,
Zwei Jungendliche, in Süd-Ost London, die gerade ihre Eltern verloren haben, werden von ihrer Gemeinschaft aufgefangen, getragen und weiter auf ihrem Weg begleitet. Verlust und Erwachsenwerden gehen hier Hand in Hand. Nach einer Kurzgeschichte des Regisseurs.

La Vedova Nera von fiume und Julian McKinnon. Verlust der Unschuld, oder doch nur Verlust des Bewusstseins? Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, bei dem auch das Handy kaputtgeht, landet Alfredo, ein Teenager, in einem Pornokino. Angezogen vom laufenden Film, „Die schwarze Witwe“, geht er in den dunklen Saal. Während auf der Leinwand eine ältere Frau einen Jugendlichen verführt, finden im Saal recht handfeste homosexuelle Handlungen statt. Als er auf dem Klo eine blutige Leiche entdeckt, beginnt ein, auch visueller, Horrorfilm für Alfredo. Die Kamera dreht ebenso durch, wie der Schnitt und der zusehends panischer werdende Alfredo. Aber passiert das wirklich? Sehr schön.

 

Kung-Fu Mönche

 

Nähtamatu võitlus (The Invisible Fight) von Rainer Sarnet ist ein grosser Kung-Fu Schabernack. Nachdem drei asiatische, Black Sabbath hörende, Kung-Fu-Rowdies eine sowjetisch-chinesische Grenzstation mit viel Tamtam bis auf einen einzigen Soldaten niedergekämpft haben, entscheidet dieser, sich die Haare wachsen zu lassen, Kung-Fu zu lernen, und wird, Plateau-Schuhe inklusive, Black Sabbath Fan. Zufällig landet er in einem orthodoxen Kloster, wo einige Mönche Kung-Fu Meister zu sein scheinen.
Wir schreiben das Jahr 1973, die Sowjetunion ist gross, westliche Rockmusik und Kirche sind mindestens verpönt. Was folgt, ist ein kruder Spass mit Kung-Fu im Panda-Stil, einem kleinen roten Lada und viel genremässigem Unfug. Dazu ein wenig Weisheit und eine kleine Romanze. Sehr schräg, schön gemacht, lustig.

 

 

(c) ch.dériaz

 

Theater

 

Der letzte Film auf der Piazza, der für den Publikumspreis ins Rennen geht.

Theater Camp von Molly Gordon und Nick Lieberman ist eine fröhliche, chaotische Komödie, die viele Lacher im Publikum erzeugte. Einem Theater-Sommercamp für Kinder, seit Jahren unterfinanziert, aber dafür mit extra viel Herzblut betrieben, droht der Verkauf, sofern nicht innerhalb kürzester Zeit die Bankschulden beglichen werden. Während die Kinder alle mit grossem Eifer und viel Spass proben, tanzen, singen, Bühnentechnik lernen, versucht die Konkurrenz, das Camp mit eher unlauteren Mitteln zu übernehmen. Einzige Hoffnung: das Musical, Highlight des Camps, muss ein solcher Erfolg werden, dass Sponsoren einsteigen und das Camp retten. Dass die Geschichte gut ausgeht, versteht sich hier fast von selbst, aber das Wie und die Zeit bis dahin sind wirklich mit viel Humor erzählt.

Morgen gibt es alle Leoparden, einen letzten Film auf der Piazza und einen letzten Auftritt von Marco Solari.

 

Locarno#76 Neue Bilder?

 

(c) ch.dériaz

 

 

Neue Bilder

 

Das Festival läuft seit einer Woche, langsam machen sich Ermüdungserscheinung breit. Die Augen hätten gerne eine Pause vom harten Wechsel zwischen dunklem Kino und gleissendem Draussen, auch Sitzen macht gerade nur bedingt Spass.
Aber weiterhin gibt es Filme zu entdecken, viele von ihnen sind Weltpremieren.

 

 

Machtmissbrauch

 

Mehr als zwei Stunden nimmt sich Touched von Claudia Rorarius Zeit.
Trotzdem weiss man nie so genau, geht es ihr darum Körper, die nicht der „Norm“ entsprechen, zu zelebrieren, oder möchte sie eine zeitlupenlangsame Studie zu Machtmissbrauch mittels Sexualität erzählen. In einer nirgends verorteten Pflegeeinrichtung, in Pastellfarben mit Science-Fiction-Ambiente gestaltet, liegt der querschnittsgelähmte Alex. Die neue Pflegerin, Maria, eine mehr als sehr runde junge Frau, kümmert sich um ihn. Fast gleich von Anfang an, mit noch etwas schüchternem Blick, so als wüsste sie nicht genau, was zu tun ist, fängt sie an, sexuelle Grenzen zu testen und schnell zu überschreiten. Es entsteht eine sehr ungleichgewichtige Beziehung, in der sich Alex zwar immer wieder als extrem ekelhaft und sexistisch zeigt, aber im Wesentlich ist er der Missbrauchte. Maria hat zu jedem Zeitpunkt die Oberhand, was sein Wachen, sein Schlafen, sein Lieben angeht.
Der Film verstört weniger wegen seiner Sexualität, oder der „unperfekten“ Körper, als durch seine grosse Sprachlosigkeit, sein Schweben in einem nicht benannten Ort und Kontext. Und er suggeriert, dass marginalisierte Personen in automatischer Solidarität verbunden sind und es hier um ein gegenseitiges Ausleben von Bedürfnissen geht. Über die Länge und Langsamkeit ist das etwas langweilig, ein Zuschauer hat tatsächlich den ganzen Film über auf seinem Handy ein Spiel gespielt.

 

Übungen

 

Das Kurzfilmprogramm heute ist etwas sperrig, und vor allem wirken viele der Filme, als wären sie in erster Linie als Kameraübung gedacht, das Erzählerische bleibt dabei zum Teil auf der Strecke.

Das scheint besonders bei The Island von Julien Pujol der Fall zu sein. In kontrastreichen Schwarzweiss-Bildern, auf Film gedreht, zeigt er eine Gruppe von jungen Menschen irgendwo in einem Wald in Estland. Es ist Mittsommer, und so unterstützt das eigentümliche Sommerlicht die sehr schönen Bilder. Aber was genau die Gruppe dort tut, und wie genau die Beziehungen unter ihnen sind, erschliesst sich nicht wirklich. Sie scheinen sich durch ein akademisches Jahr treiben zu lassen, von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent, wie die Schwalben und Störche, die man wiederholt sieht. Und mit denen der Zuschauer am Ende des Films im hell strahlenden Marokko landet. Eine schöne, lange (39 Minuten) Kameraübung zum Thema Darstellung von Licht in Schwarzweiss-Bildern.

Mátalos a todos von Sebastian Molina Ruiz hingegen ist ziemlich bunt. Aber auch hier scheinen Figuren durch die Zeit, durch den Film zu treiben. Vage ahnt man, dass zwei Mädchen einander Videobotschaften schicken, ein Treffen vereinbaren, das aber nicht stattfindet. Das Warum erschliesst sich eher nicht. Bildlich wechselt der Film von den Aufnahmen der Mädchen in „Amateur-Qualität“ zu den Aufnahmen von den Mädchen in Film-Qualität.

In I Used to Live There von Ryan McKenna visualisieren die verschiedenen Ästhetiken den Zustand, das Innenleben der Figuren. Das ergibt einen interessanten, originellen Effekt. Eine Schauspielerin sucht nach einem Photographen, um ihr neue Portraits für ihre Bewerbungsmappe zu machen, und findet ausgerechnet einen, der immer mehr erblindet. Komplett in Schwarzweiss gedreht, sind die Sequenzen des Erblindenden zusätzlich durchgängig als verkratzte, ausbleichende, rauschende Aufnahmen gestaltet. Das Konzept ist gut.

Kinderfilm von Total Refusal ist die spannendste Arbeit dieses Programms. Im letzten Jahr gewann das Kollektiv bereits den Pardino d’oro. Diesmal kommen sie zurück, mit einer Geschichte, die wieder komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) stattfindet. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.

 

 

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Tragisch-Komisch

 

Lousy Carter von Bob Byington ist ein altmodischer Film. Ein etwas schlampiger, etwas kindischer Literaturprofessor, der seit Jahren nur über Fitzgeralds „Grossen Gatsby“ unterrichtet, erfährt, dass er nur noch 6 Monate zu leben hat. Was folgt, ist eine tragische Komödie, weniger hektisch, aber einem Woody Allen Film nicht unähnlich. Wendungen folgen wie kleine Hiebe, unerwartet, manche lustig, manche hart, und am Schluss doch ganz schön drastisch.

 

Unfreiwillig Komisch

 

In letzter Zeit werden immer häufiger Filme vollmundig angekündigt mit „hier wird ein neues Frauenbild gezeigt“, dabei ist es egal, ob Regisseure oder Regisseurinnen das vorgeben. Leider ist fast nie ein neues Frauenbild im Film zu finden.

Auch Première affaire von Victoria Musiedlak wird auf der Piazza so angekündigt, aber auch hier gibt es wieder dasselbe, alte Frauenbild zu finden. Eine sehr junge Anwältin wird Abends auf dem Weg von einem Barbesuch von ihrem Chef zu einer Vernehmung geschickt. Im Pailletten-Minirock macht sie sich auf den Weg. Dass sie eigentlich eher mit Wirtschaftsrecht Erfahrung hat, und es hier um Strafrecht geht, wischt der Chef beiseite. Die Vernehmung des 18-Jährigen verwandelt sich recht schnell in eine Verhaftung wegen Mordverdachts, und ab da läuft der Film aus dem Ruder.
Einerseits will die Anwältin den Fall unbedingt behalten, andererseits lässt sie sich völlig sinnentleert auf ein Verhältnis mit dem ermittelnden Polizisten ein. Sie wurschtelt ein bisschen an ihrem Fall, lernt von ihrem Chef, dass es für Anwälte egal ist, ob der Klient schuldig ist oder nicht, solange er sagt, er sein unschuldig, habe man ihn auch so zu verteidigen. Auch die Affäre mit dem polizisten wird mit allen alten, dümmlichen Klischees abgehandelt, alles wie gehabt. Und spannend ist die Geschichte eigentlich auch nicht. Aber immerhin haben einige der Klischees auf der Piazza zu, vermutlich ungeplanten, Heiterkeitsanfällen gesorgt.

Wenn es also neue Bilder gibt, dann nur im rein visuellen Sinn, inhaltlich bewegen sich die Filme so weit alle auf bekanntem Territorium.

 

 

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Im Kino

 

Manchmal fragt man sich, was in anderen Menschen vorgeht. Warum glaubt man, keine zwei Stunden ohne E-Mails, Benachrichtigungen und Soziale-Medien auskommen zu können? Muss man wirklich im Kino, mitten während eines Films, aufs Handy schauen, mit grell erleuchtetem Display obendrein? Muss man, wenn am Ende einer Sitzreihe ein Platz frei ist, wirklich mit starrem Blick auf diesen Platz alle anderen Leute treten? Der Platz verschwindet ganz selten plötzlich in einer Dimensionsfalte.

 

Schwelende Feuer

 

Whispers of Fire & Water von Lubdhak Chatterjee ist ein bildlich und akustisch sehr intensiver Film. Die erste Hälfte des Films stromert ein Klangkünstler aus Kalkutta auf und um einen Braunkohle-Tagebau herum. Es qualmt, schwelt, ist dreckig, und doch arbeiten und leben Menschen in dieser Hölle, während man vom Zusehen schon Atemnot bekommt. Beindruckende Bilder und angsteinflössende Töne, und eine unterschwellige Bedrohung, durch die Polizei, lokale Behörden. Genau wie der Protagonist der Geschichte, weiss man nie genau, was los ist, von wo Gefahr droht; aber man ist mitten drin.
Ein Arbeiter des Tagebaus erzählt ihm von seinem Dorf, mitten im Wald, und der Künstler aus der Stadt folgt ihm in die Natur, die so dicht ist, wie vorher die Feuer der Braunkohle. Aber auch hier scheinen Bedrohungen in der Luft zu liegen, unbekannt ihr Ursprung, trotzdem vorhanden, und der Mann scheint sich in der Natur immer mehr zu verlieren.
Ausser, dass in den Dialogsequenzen die Sprache und die Geräusche alle leicht asynchron sind, ein erstaunlicher Film.

 

Veränderungen

 

Ein Kurzfilmprogramm zum Thema Veränderung in verschiednen Formen.
Solo la luna comprenderá von Kim Torres ist vielleicht der unverständlichste Film des Programms. Eine Off-Stimme erzählt von einem schrecklichen Tag, Jahre zurück, einem Tag, an dem der Ich-Erzähler fürchtete zu sterben. Die Filmbilder zeigen Jugendliche, die an einem Strand in Costa Rica spielen, lernen, Spass haben. Im Wasser liegt ein Schiffswrack, das möglicherweise den Erzähler 60 Jahre vorher an diese Küste gebracht hat.

Wenn man auf der „falschen Seite“ der Stadt geboren wurde, ist das Leben vom Anfang weg schwierig. Die falsche Seite von Salerno, und wie sich Jugendliche doch von ihrem Schicksal lösen, erzählt Z.O. von Loris G. Nese. In animierten Realbildern erfährt man von einer Jugend, wo man nur dazugehört, wenn man Schlimmes tut, wenn die Taten der Väter die Leben der Kinder bestimmen.
Und doch, manchmal schafft man es, den Weg zu verlassen, eine Änderung herbeizuführen.

Touristen verändern Orte durch ihre Anwesenheit. In Been There zeigt Corina Schwingruber Ilić Touristenziele haarscharf neben den Stellen, an denen sich alle tummeln, um die immer gleichen Photos zu machen. Venedig, Paris, Rom, Wien, Alpen. Immer die Touristen, oder wenigstens einige im Bild, aber nie den Hintergrund ihres Begehrens. Das ist irre komisch und auch sehr entlarvend.

Wieder eine im Off erzählte Geschichte. Remember, Broken Crayons Colour Too von Urša Kastelic und Shannet Clemmings schildert den brutalen Angriff auf eine jamaikanische Transfrau, und ihr anschliessendes Ankommen in der Schweiz. In den Bildern ist die Protagonistin bereits in Sicherheit, aber die zugefügten Schmerzen bleiben ihr.

The Lovers von Carolina Sandvik ist ein brillanter Stopp-Motion-Film. Ein Pärchen im Restaurant, plötzlich fängt der Mann an sich immer mehr aufzulösen. Seine Haut reisst, sein Fleisch blättert ab, bis beide zuhause sind, ist von ihm nur noch ein Skelett übrig. Sie scheinen sich mit dieser Veränderung dennoch zu arrangieren. Bis auch bei der Frau erste Risse in der Haut auftauchen, und die Auflösung beginnt. Veränderung auf die groteske Spitze getrieben.

 

Ungezogen

 

Am Ende von Rossosperanza von Annarita Zambrano gibt es frenetischen Applaus und wildes Johlen. Der Film erzählt, in verschiedenen, nonlinearen Zeitebenen, von einer Gruppe Jungendlicher, alles Kinder schwerreicher Familien, die alle irgendetwas „angestellt“ haben. Sie treffen in einer teuren, noblen psychiatrischen Einrichtung zusammen. Tatsächlich reichen ihre Untaten von Promiskuität über Brandstiftung zu Mord, zum Teil von allem ein bisschen. Durch die Zeitsprünge bleibt der Film in ständiger Spannung, während die Figuren immer mehr miteinander verwoben werden. Und auch der umherstreifende Tiger ist Teil der ineinandergreifenden Geschichten. Ein sommerlicher Horror nicht nur durch die Jugendlichen, sondern auch an den Jugendlichen. Der Schlussapplaus ist mehr als wohlverdient.

 

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Während Locarno mittags noch friedlich vor sich hin köchelt, ist es gegen Abend plötzlich drückend und bewölkt, Zeit das Regencape zu holen.

 

 

 

 

 

 

Tauchen und Kämpfen

 

Koreanisches Action-Kino am Abend. Milsu (Smugglers) von RYOO Seung-wan fängt etwas langsam an, wird dann aber in der zweiten Hälfte wirklich rasant.

Korea in den 1970er Jahren, das Tauchen nach Muscheln und Fischen deckt den Lebensunterhalt nicht mehr, da kommt das Angebot, das Können der Taucherinnen zu nutzen, um Schmugglerware aus dem Meer zu holen, gerade recht. Als eine Ausfahrt an die Polizei verraten wird, kommt es zu einem Unfall, und die Taucherinnen werden, bis auf eine, eingesperrt.
Zwei Jahre später sind die Frauen wieder draussen, Gerüchte machen sich breit. Hat Choon-ja, die davon gekommen war, den Verrat begangen, wie ihre Freundin Jin-sook vermutet? Als Choon-ja wieder auftaucht, und neue Pläne für ertragreicheren Schmuggel mitbringt, sind alle skeptisch. Und langsam beginnt ein wildes Intrigenspiel, in dem man manchmal den Überblick verliert. Wer betrügt wen, und wer betreibt doppeltes Spiel? Es wird mit allen Mitteln gekämpft, gemetzelt, verraten, und zum letzten Showdown treten die Taucherinnen unter Wasser an. Trotz des langsamen Starts, viel Tempo und Action, und Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ach ja, und einige grosse Haie dürfen in dem Spektakel natürlich auch nicht fehlen. Der Piazza hat das gefallen.

Geregnet hat es dann doch nicht.

 

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Locarno#76 Politisch

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Abgebrochen

 

Wenn man sein Festivalprogramm eng taktet, dann darf nichts schiefgehen. Andererseits, was schiefgehen kann, geht dann auch schief, zumindest manchmal. In der Open Doors Sektion läuft am Morgen der peruanische Film Autoerótica von Andrea Fernanda Hoyos Valderrama. Nachdem er schon etwas verspätet anfängt, dann der Ton so laut und verzerrt ist, dass man Ohrenschmerzen bekommt, läuft der Film gut 20 Minuten in erträglicher Lautstärke. Doch dann, Film stoppt, Licht geht an: „Tonprobleme, wir starten den Film neu“. Schade, aber mit einem Neustart ist der nächste Film nicht mehr zu schaffen, verschieben bringt das nachfolgende Programm komplett aus dem Lot. Raus aus dem Kino, aber schade um den peruanischen Film.

 

Taschen

Weiterhin werden vor jedem Kinosaal, aber auch vor dem abendlichen Zugang auf die Piazza Taschen und Rucksäcke kontrolliert. Allerdings sind die Sicherheitsleute im Lauf der Jahre etwas flexibler geworden. Es wird nicht jede Trinkflasche moniert, sondern nur, sollte sie aus Glas sein, spitze Gegenstände sind natürlich auch nicht im Saal erlaubt. Ganz selten gibt es dann doch übereifrige Kontrolleure, die die Grösse der Rucksäcke kritisch beäugen.

 

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Was bleibt

 

40 Minuten vor der Nachmittagsvorstellung ist die Warteschlange schon erheblich, Festivalpublikum ist wirklich unermüdlich und fleissig.
Zur Einführung von Maryna Vrodas Film wird der künstlerische Leiter Nazzaro kurz und, für ihn eher ungewöhnlich, politisch und verlässt die Bühne mit einem „Slava Ukraini“.
Ok, kann man machen.

Bei Stepne von Maryna Vroda weiss man nicht immer, ob man noch in einem Spielfilm ist, oder schon in einem ethnologischen Dokumentarfilm. Dank der wunderbaren Kamera-Arbeit ist das allerdings verzeihlich.
Ein Dorf, irgendwo in der Ukraine, grau, schlammig, nur noch von alten Menschen und deren Erinnerungen bevölkert. Ein Sohn kommt zurück, um sich um seine sterbende Mutter zu kümmern. Aber auch, um sich selbst zu erinnern, sich von den Geschichten der Alten tragen zu lassen, in eine Welt, die so nicht mehr existiert. Manche der „ethnologischen“ Exkurse sind arg lang, zum Beispiel die Beerdigung und der anschliessende Leichenschmaus, auch wenn die Kamera hier wieder sehr viele fabelhafte Bilder findet: Bilder von Gesichtern, die wie verwittertes Holz aussehen, abgearbeitete Finger, oder einfach ein Raum, dunkel, voller Menschen, schön wie ein Gemälde. Aber eben manchmal auch etwas langatmig. Dennoch, der Film gibt ein Gefühl für diesen verlorenen Ort, und erinnert vielleicht an eigene verlorene, vergessene Orte.

 

 

Unterwegs

 

On the Go von María Gisèle Royo und Julia de Castro ist ein ziemlich durchgeknalltes Roadmovie. Die Protagonisten, ein Freundespaar: er schwul, sie mit dringendem Kinderwunsch. Dazu dann noch Brandstiftung, ein amerikanisches Auto, eine philosophierende Meerjungfrau – die scheinen gerade Konjunktur zu haben – alles lustig durcheinander gewirbelt. Nichts wird wirklich auserzählt, und erst recht wird nichts aufgeklärt. Die Figuren lassen sich treiben vom Rhythmus der Ereignisse, wie sie halt gerade kommen, sofern sich das Publikum auf diesen etwas rauen Spass einlässt, treibt es fröhlich mit. Das ganze gedreht auf 16 mm und zum Teil aberwitzig geschnitten.

 

Unrund

 

Irgendetwas scheint dieses Jahr in Locarno nicht richtig rundzulaufen. Es sind Kleinigkeiten, die irritieren, die den Festivalalltag etwas mühsamer machen. Neben den schon beklagten Problemen mit der App, der Webseite und der Netzabdeckung, scheint jemand befunden zu haben, dass man nicht mehr täglich die Zuschauerzahlen der Piazza anzugeben braucht. Auf Nachfrage heisst es: wird am Ende des Festivals gemacht. Aber da braucht das keiner mehr, zumindest nicht in der Form. Der Aufwand, das auf die Tafel zu schreiben, sollte überschaubar sein. Kleinigkeiten, aber eben einige davon.

 

 

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Unterbrechung

 

Noch einmal wird Giona Nazzaro heute politisch, allerdings eher ungeplant.
Als am Abend Regisseur Luc Jacquet einen Ehrenleoparden bekommen und seinen neuen Film vorstellen soll, stürmen zwei sehr junge Klimaaktivisten die Bühne auf der Piazza. Fast genauso schnell wollen sich Sicherheitskräfte auf sie stürzen, um sie wegzuzerren. Sofort springt Nazzaro dazu, hält die Sicherheitskräfte davon ab, zu zerren, fordert sie laut auf, niemandem weh zu tun, und kniet sich zu den Aktivisten runter. Kurz darauf erscheint auch noch Marco Solari auf der Bühne, der sich auch schützend zu den beiden Protestieren stellt. Schliesslich übergibt Nazzaro dem jungen Mann das Mikrophon, und hält während der kurzen Ansprache der jungen Frau beruhigend die Hand. Am Ende gehen beide mit Marco Solari friedlich von der Bühne.
Eine eigentümliche Situation, weil die beiden Jugendlichen gleichzeitig zielstrebig und doch von der Situation völlig überwältigt wirken. Ausser den Sicherheitsleuten, sind alle anderen auf der Bühne ruhig, freundlich und verständnisvoll. Mit Giona Nazzaros Aufruf, den Zustand der Erde gemeinsam und jederzeit zu verbessern, beginnt dann:
Voyage au pôle Sud von Luc Jacquet. Der Film ist das gefilmte Tagebuch einer Reise von Patagonien zum Südpol, sehr persönlich, aber auch manchmal etwas geschwätzig, belehrend im Off-Text. Grandios sind hingegen die Bilder, sowohl die karge Landschaft Patagoniens als auch das Meer und die Eisberge sehen in kontrastreichem Schwarzweiss einfach sensationell aus.
Man kann nachempfinden, warum der Regisseur von dieser Landschaft, diesem Ort so überwältigt ist, dass er immer wieder dorthin zurückmuss. Die Härte und gleichzeitige Zerbrechlichkeit der Natur dort sind einfach umwerfend. Was leider etwas lästig ist, ist die viele, oft auch sehr aufdringliche Musik. Dabei hat der Film eine sehr gute, interessante Tonebene, mit wunderbaren Geräuschen und Atmos. Insgesamt ist der Film einfach sehr schön. Er ist für den Pardo Verde nominiert, und hat sicher gute Chancen, den auch zu gewinnen.

 

 

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Feuer

 

Ein weiterer Film, der sich mit jugendlicher Sexualität befasst. In Todos los incendios von Mauricio Calderón Rico kommen Wut, Trauer und Pyromanie mit dazu. Der mexikanische Film verrät seine Figuren nicht, dichtet ihnen keine Hysterie oder Überspanntheit an, sondern lässt sie sein, was 16-Jährige vor allem sind: unsicher und heranwachsend.
Das Feuer, mit dem der junge Bruno spielt, ist sowohl Ausdruck seiner innern Spannung als auch einer allgemeinen, ungerichteten Wut auf alles. Die Internet-Filme seiner Feuerchen bringen ihn mit Daniela zusammen, die ihm, schmerzhaft aber direkt, ein Stück weit aus seinem Teufelskreis aus Wut und Unwissen heraushilft. Aufkeimende Gefühle zu verstehen in einer Gesellschfaft, in der der Vater seine Tochter lieber als Hure denn als lesbisch sehen möchte, bedeutet eine zusätzliche Herausforderung. Aber mit den letzten Streichhölzern entsorgt Bruno auch einen Teil seiner inneren Zweifel.

 

Filmemacherinnen

 

Die Kurzfilme des Tages wurden alle von Frauen gemacht, ein sehr schönes, starkes Programm.
In Loving in Between formt Jyoti Mistry aus Archivmaterial, Animation und Dichtung, mittels fabelhaftem Schnitt, ein Filmgedicht. Zwischen Geburt: schwer und Tod: schlecht soll man lieben, um diese Vorgabe drehen sich sowohl Texte als auch Bilder, die Ebenen verschmelzen und ergänzen sich, werden ein neues Ganzes. Beeindruckend.

Pleine Nuit von Manon Coubia. Was, wenn man plötzlich erfährt, dass die eigene Grossmutter in der Résistance war, und auch nach dem Krieg die erbeuteten Waffen nicht abgegeben, sondern diese lieber im See versenkt hat? Eine kleine, hübsche Geschichte von der Weitergabe des Feuers. Auch dieser Film gedreht auf 16 mm Material.

Der schöne Animationsfilm O krávě von Pavla Baštanová erzählt vom Leben und teilweise Leiden von Kühen weltweit. Zauberhafte Bilder, die mal an Picassos, mal an Chagalls Kühe erinnern, und doch eine eigenständige künstlerische Handschrift haben.

Wenn die Verzweiflung gross genug ist, greift man zu den unglaublichsten Mitteln. Das erzählt Hoda Taheri in Engar madaram geriste bud aan shab (As if Mother Cried That Night). Der letzte Weg für ein iranisches Paar in Deutschland einen Aufenthaltstitel zu bekommen, scheint zu sein, dass die Frau das Kind eines Deutschen zur Welt bringt. Verzweiflung in extrem ruhiger Erzählweise.

 

 

Familie

 

Weihnachten in Texas, Kleidchen, Sandalen, grüne Wiese und eine grosse Familie, versammelt für die Feiertage. Das ist die Ausgangslage von Family Portrait von Lucy Kerr. Jeder, der eine grosse Familie an Feiertagen kennt, versteht sofort die Dynamik, die dort herrscht. Ein Mittelding zwischen Langeweile und grosser Vertrautheit, als Fremder ist man allerdings hoffnungslos verloren. Als Zuschauer in diesem Film leider auch. Weil an sich nichts weiter passiert. Das Aufregendste ist, dass der polnische Freund einer der Töchter das jährliche Familienphoto machen soll. Die Kamera kreist etwas unruhig um diese vielen Menschen, mäandert zwischen ihren Unterhaltungen, erzeugt eine Art erwartungsvoller Unruhe, aber mehr wird nicht geschehen.

 

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Hoffnung

 

Auch an diesem Abend wird es politisch auf der Piazza. Nach stehendem Begrüssungsapplaus für Ken Loach, mahnt dieser Solidarität ein und warnt eindringlich davor, nach „unten“ zu treten und Sündenböcke zu suchen.
Solidarität und Hoffnung als Mittel gegen den weiteren Anstieg rechter Parteien.

Sein aktueller Film The Old Oak erzählt genau davon. Ein Dorf im Nordosten Englands, runtergekommen seitdem die Bergwerke geschlossen sind, die Dorfkneipe der letzte öffentliche Ort. Als mehrere syrische Familien im Ort ankommen, herrscht mehrheitlich Skepsis und einige der Stammgäste steigern sich mit rechten Parolen immer weiter in ihre Ablehnung. Es geht anfangs vieles schief, bevor es besser wird, bevor es Solidarität zwischen den armen englischen Familien und den Neuankömmlingen gibt. Was dem Film mangelt, ist  künstlerische Subtilität, so geraten viele Situationen doch sehr plakativ didaktisch. Viele Wendungen kündigen sich viel zu deutlich an, die gute Absicht gerät ins Lehrerhafte, was etwas schade ist. Weil das Thema ist wichtig. Dem Applaus nach zu urteilen, kam der Film aber gut an, möglich, dass das ein Publikumspreis wird. Aber noch sind nicht alle Filme auf der Piazza gelaufen.