Nein, dass Past Livesvon Celine Song im Wesentlichen eine Liebesgeschichte ist, braucht einen, ausnahmsweise, nicht davon abzuhalten, ins Kino zu gehen. Ganz im Gegenteil.
Wer Past Lives noch nicht gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen.
Der Film ist nicht nur wunderschön gedreht, er erzählt auch auf intelligente und witzige Art von den Möglichkeiten, der Wahl, die man im Leben hat. Und davon, wie man damit umgeht. Zugegeben, es wird viel geredet in diesem Film, aber eben nicht nur. Die Blicke, Blickwechsel, das Mienenspiel, die Körpersprache der Darsteller
(Teo Yoo, John Magaro) und Darstellerin (Greta Lee), erzählen fast noch mehr.
Kindheitsträume
Die erste, zarte Verliebtheit der zwölfjährigen Kinder Na-young und Hae-sung wird kalt unterbunden, als Na-youngs Familie nach Kanada auswandert.
12 Jahre später finden die beiden sich Online wieder. Ein neuer, erwachsenerer Austausch entsteht, aber eben nur per Skype-Anrufe oder E-Mails. Jeder, der Kindheitsfreunde nach langer Zeit wiederfindet, kennt diese merkwürdige Vertrautheit, gepaart mit grosser Verwunderung und einem Schuss Unsicherheit. Und diese Gefühle spiegeln sich nicht nur in den Dialogen wider, sondern auch in der Körpersprache.
Endlich Erwachsen
Noch einmal 12 Jahre später stehen sie sich endlich gegenüber, in New York, wo Na-young, mittlerweile verheiratet, lebt. Der Film spielt mit der Möglichkeit, die Träume der Vergangenheit in der Gegenwart umzusetzen, zeigt aber dabei ganz klar die Problematik eines solchen Unterfangens. Zwei Szenen bilden dabei den Drehpunkt der Geschichte, das Treffen der beiden „Kinder“ und das Gespräch Na-youngs abends mit ihrem Ehemann. Während das Treffen von Na-young und Hae-sung linkisch, aber auch wieder „süss“ erscheint, zeigt das Gespräch abends, wie eine erwachsene, souveräne Partnerschaft funktionieren kann.
Der Film lässt sich Zeit, die Gefühle zu zeigen, zu verstehen, zu bewerten und Entscheidungen zu treffen, dennoch ist er fesselnd, spannend, schön und kitschfrei. Und am Ende möchte man eigentlich sofort eine Reise nach New York buchen. Zeit also, Past Lives anschauen zu gehen.
In Wien läuft der Film weiterhin im Gartenbau Kino – auch das ein guter Grund, trotz sonnigem Herbstwetter ins Kino zu gehen.
Jedes Jahr werden Filmkritiker in Locarno gefragt, welches ihr Favorit für den Pardo d’Oro ist. Sehr oft herrscht eine Art Einigkeit, aber kein Jahr war es so eindeutig wie diesmal. Mit 12 Nennungen liegt Radu Judes Film Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, einsam an der Spitze. Sein Film vereint vieles, das gerade in Locarno wichtig ist: künstlerische Freiheit in der Wahl der Ausdrucksform, intelligent erzählte Geschichte, der trotzdem der Witz nicht fehlt, und Originalität in der Umsetzung. Am Abend wird sich zeigen, ob die Jury das genauso sieht. Die beiden nächst häufig genannten Filme: Yannickvon Quentin Dupieux und The Vanishing Soldier von Dani Rosenberg, mit jeweils zwei Nennungen, sind definitiv auch sehr gute Kandidaten, in der Meinung der befragte Kritiker aber ganz schön weit abgeschlagen. AuchStepne von Maryna Vroda wäre ein würdiger Kandidat und, möglicherweise, ein politisches Statement. Ob die Jury sich von Politik oder nur von künstlerischem Ausdruck leiten lässt, bleibt ihr Geheimnis. Aber vielleicht verhält es sich mit Kritiker-Vorhersagen ähnlich wie mit Wettervorhersagen.
Themen
Es war viel von Sexualität die Rede, aber auch wenn „sex sells“ für die Werbung gilt, das alleine macht noch keinen interessanten oder guten Film. Und in einigen Fällen waren die vermittelten Bilder und Werte sehr rückwärtsgewandt. Gar nicht wenige Filme verlegten ihre Geschichten in die Vergangenheit, wobei nur bei wenigen mit der Zeit und ihren historischen Implikationen gespielt wurde.
Bildformate
Die Wahl des Bildformats, des Materials, der visuellen Ästhetik waren auch in diesem Jahr vielfältig. Die Leinwand wurde je nach Bedarf in voller Breite oder im reduzierten 4:3 genutzt, und fast immer entsprach die Wahl dem für die Geschichte besten Bildformat. Dass wieder vermehrt auf Film gedreht wird, und dass Schwarzweiss-Bilder als Ausdruck gewählt werden, ist eine schöne Entwicklung.
Preise
Den Pardo d’Oro im Hauptwettbewerb gewinnt Mantagheye Bohrani (Critical Zone) von Ali Ahmadzadeh, den ich leider nicht gesehen habe. Radu Jude bekommt für Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii, neben anderen Preisen, den Spezialpreis der Jury und den Hauptpreis der Jugendjury. Maryna Vroda gewinnt mit Stepne den Preis für die beste Regie im Hauptwettbewerb und den FIPRESCI Preis. Im Wettbewerb Cineasti del presente, gewinnt Hao jiu bu jian (Dreaming & Dying) von Nelson Yeo den Pardo d’Oro und den First Feature Award. Warum Katharina Huber für Ein schöner Ort den Preis als beste Nachwuchsregisseurin bekommt, erschliesst sich mir nicht. Der Pardo Verde geht an Čuvari Formule (Guardians of the formula) von Dragan Bjelogrlić, der auf der Piazza an einem Regentag als zweiter Abendfilm lief, bedauerlicherweise nicht gesehen. Besonders die Preise der Jugenjury an Radu Jude, an Maryna Vroda oder an Sweet Dreams von Ena Sendijarević beeindrucken. Die zukünftigen Kinozuschauer haben keine Berührungsängste mit komplexen Themen, Autorenkino oder Kinokunst. Das gibt Hoffnung und widerspricht dem, was sonst so pauschal vom Geschmack junger Zuschauer gesagt wird. Europäisches Autorenkino ist gefragt, man muss nur den Mut haben, das dann auch im Kino zu zeigen.
Publikumspreis
Dann stellt sich weiter die Frage: Kann ein Film, in dem ein niedliches Haustier böse zu Tode kommt, den Publikumspreis gewinnen? Wie schon direkt im Anschluss an Ken Loachs Auftritt auf der Piazza abzusehen war, gewinnt The Old Oak den Publikumspreis. Das damit verbundene Preisgeld, liess er durch seinen Schweizer Verleiher mitteilen, wird Loach an Flüchtlingsorganisationen spenden. Und damit wäre auch die Frage beantwortet: Ja, selbst wenn niedliche Haustiere zu Tode kommen, kann ein Film das Publikum gewinnen. Alle Preise sind auf der Webseite des Festivals zu finden.
Abschied
Am Abend fängt es an zu regnen, aber trotzdem strömen Menschen auf die Piazza. Die Stühle sind nass, überall Regencapes. Wird die Schlusszeremonie wirklich auf der Piazza Grande stattfinden?
Punkt 21 Uhr ist es dann so weit, der Regen hat aufgehört, und zum letzten Mal für dieses Jahr heisst es: „Buona Sera, Piazza Grande“.
Die grössten Emotionen löst der letzte Auftritt von Marco Solari aus, er wird mit stehendem Beifall empfangen, wovon er sichtlich bewegt ist. Noch einmal beschwört er den freien Geist, der in Locarno herrscht, und von dem er überzeugt ist, dass auch die kommende Festivalpräsidentin ihn mit ihrem Team weiter tragen wird. Als scheidender Präsident hat er einen Überraschungsfilm versprochen, und sich für Citizen Kane entschieden.
Gewalt
Der Abschlussfilm Shayda von Noora Niasari erzählt von dem, das oft euphemistisch als häusliche Gewalt bezeichnet wird. Dass die Hauptfigur der Geschichte eine iranische Mutter in Australien ist, fügt dem Problem eine Dimension dazu. Aber im Kern, und das ist auch im Film deutlich, ist das Problem immer dasselbe, egal wo die betroffenen Frauen und ihre Kinder herkommen. Die titelgebende Shayda ist nach Gewalt und Vergewaltigung durch ihren Mann in einem Frauenhaus untergekommen, trotzdem versucht sie für ihre Tochter eine halbwegs normale Beziehung zum Vater zu ermöglichen. Dass das nur bedingt gut geht, liegt auf der Hand. Der Film ist sehr emotional und vor allem von der 6-jährigen Selina Zahednia toll gespielt.
Das war es aus Locarno.
Nächstes Jahr am 7. August wird pünktlich um 21:30 die 77. Ausgabe beginnen.
Der letzte komplette Kino-Tag in Locarno, die letzten Filme, letzte Chance für die ganz grosse Überraschung.
Ein schöner Ort von Katharina Huber fällt definitiv nicht in die Kategorie „grosse Überraschung“. Rätselhafte, wenn auch oft schöne, Bilder kombiniert mit kryptischen, meist ausserhalb des Bildes stattfindenden Dialogen, die dafür klingen wie abgelesen. Tatsächlich findet fast alles ausserhalb des Bildes statt: Huhn schlachten, Stall sprengen, Sex. Immer wieder tote Hühner, tote Küken oder abgetrennte Hühnerfüsse, morbides Stillleben.
Ein Bauernhof, ein Dorf, anscheinend verschwinden Menschen – oder sterben sie? – und eine inhomogene Gruppe, von der man nicht versteht, was sie tut. Dazu noch ein Radio, aus dem ständig Berichte über einen Raketenstart tönen. Dummerweise ist die Geschichte in Kapitel unterteilt, die von 10 heruntergezählt werden. Bei 8 ist einem schon die Lust vergangen mehr zu sehen, bei 3 wünscht man, das Ende des Films möge schnell kommen. Ist das ein versponnener Ökothriller? Eine Allegorie auf den Zustand der Welt? Ein kollektiver Albtraum? Oder einfach selbstverliebtes Spielen mit Bildern, mit Chiffren, mit Andeutungen? Schwer zu sagen.
Am Schluss gab es den spärlichsten Applaus überhaupt, etwa drei Personen haben zweimal in die Hände geklatscht, wahrscheinlich aus Erleichterung, endlich aufstehen zu können.
Spalten
Gefahren anderer Art begegnen einem auf den Planken des Spazio Cinema. Die Abstände zwischen den Holzplanken sind so gross, dass sich immer wieder Stuhlbeine dort einfädeln, was zu derben Stürzen führt. Im besten Fall schafft man, den Sturz noch abzufangen, im schlechtesten Fall landet man, mitsamt Stuhl, recht unelegant auf den Brettern.
Verlust
Das letzte Kurzfilmprogramm hat vielfältige Verluste zum Inhalt. Jaima von Francesco Pereira erzählt vom Verlust an Lebensraum, den die Sahrauis seit Jahrzehnten erleiden. Zwischen den Fronten der bewaffneten Konflikte um die West-Sahara bleiben sie auf der Strecke, und leben seit Jahren in Flüchtlingslagern. Unsentimental und sachlich, dabei trotzdem empathisch.
The Passing von Ivete Lucas und Patrick Bresnan hat vermutlich jeden im Saal zum Weinen gebracht, der jemals ein Haustier hat einschläfern lassen müssen. Sie begleiten einen Tierarzt in einem texanischen Städtchen, er fährt zu den tierischen Patienten, erzählt ihnen Geschichten, während er sie behandelt. Und genauso einfühlsam, wie er eine einfache Impfung gibt, schläfert er am Ende eine alte Hündin ein, im Garten, auf ihrer Schlafdecke. Ein sehr beeindruckendes Portrait, sowohl des Tierarztes als auch der Menschen, die den Verlust verkraften müssen.
Pray von Caleb Azumah Nelson ist auf Film und in Schwarzweiss gedreht, mit bewegter, sehr direkter, fast dokumentarischer Kamera, Zwei Jungendliche, in Süd-Ost London, die gerade ihre Eltern verloren haben, werden von ihrer Gemeinschaft aufgefangen, getragen und weiter auf ihrem Weg begleitet. Verlust und Erwachsenwerden gehen hier Hand in Hand. Nach einer Kurzgeschichte des Regisseurs.
La Vedova Nera von fiume und Julian McKinnon. Verlust der Unschuld, oder doch nur Verlust des Bewusstseins? Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, bei dem auch das Handy kaputtgeht, landet Alfredo, ein Teenager, in einem Pornokino. Angezogen vom laufenden Film, „Die schwarze Witwe“, geht er in den dunklen Saal. Während auf der Leinwand eine ältere Frau einen Jugendlichen verführt, finden im Saal recht handfeste homosexuelle Handlungen statt. Als er auf dem Klo eine blutige Leiche entdeckt, beginnt ein, auch visueller, Horrorfilm für Alfredo. Die Kamera dreht ebenso durch, wie der Schnitt und der zusehends panischer werdende Alfredo. Aber passiert das wirklich? Sehr schön.
Kung-Fu Mönche
Nähtamatu võitlus (The Invisible Fight) von Rainer Sarnet ist ein grosser Kung-Fu Schabernack. Nachdem drei asiatische, Black Sabbath hörende, Kung-Fu-Rowdies eine sowjetisch-chinesische Grenzstation mit viel Tamtam bis auf einen einzigen Soldaten niedergekämpft haben, entscheidet dieser, sich die Haare wachsen zu lassen, Kung-Fu zu lernen, und wird, Plateau-Schuhe inklusive, Black Sabbath Fan. Zufällig landet er in einem orthodoxen Kloster, wo einige Mönche Kung-Fu Meister zu sein scheinen. Wir schreiben das Jahr 1973, die Sowjetunion ist gross, westliche Rockmusik und Kirche sind mindestens verpönt. Was folgt, ist ein kruder Spass mit Kung-Fu im Panda-Stil, einem kleinen roten Lada und viel genremässigem Unfug. Dazu ein wenig Weisheit und eine kleine Romanze. Sehr schräg, schön gemacht, lustig.
Theater
Der letzte Film auf der Piazza, der für den Publikumspreis ins Rennen geht.
Theater Camp von Molly Gordon und Nick Lieberman ist eine fröhliche, chaotische Komödie, die viele Lacher im Publikum erzeugte. Einem Theater-Sommercamp für Kinder, seit Jahren unterfinanziert, aber dafür mit extra viel Herzblut betrieben, droht der Verkauf, sofern nicht innerhalb kürzester Zeit die Bankschulden beglichen werden. Während die Kinder alle mit grossem Eifer und viel Spass proben, tanzen, singen, Bühnentechnik lernen, versucht die Konkurrenz, das Camp mit eher unlauteren Mitteln zu übernehmen. Einzige Hoffnung: das Musical, Highlight des Camps, muss ein solcher Erfolg werden, dass Sponsoren einsteigen und das Camp retten. Dass die Geschichte gut ausgeht, versteht sich hier fast von selbst, aber das Wie und die Zeit bis dahin sind wirklich mit viel Humor erzählt.
Morgen gibt es alle Leoparden, einen letzten Film auf der Piazza und einen letzten Auftritt von Marco Solari.
Das Festival läuft seit einer Woche, langsam machen sich Ermüdungserscheinung breit. Die Augen hätten gerne eine Pause vom harten Wechsel zwischen dunklem Kino und gleissendem Draussen, auch Sitzen macht gerade nur bedingt Spass.
Aber weiterhin gibt es Filme zu entdecken, viele von ihnen sind Weltpremieren.
Machtmissbrauch
Mehr als zwei Stunden nimmt sich Touched von Claudia Rorarius Zeit. Trotzdem weiss man nie so genau, geht es ihr darum Körper, die nicht der „Norm“ entsprechen, zu zelebrieren, oder möchte sie eine zeitlupenlangsame Studie zu Machtmissbrauch mittels Sexualität erzählen. In einer nirgends verorteten Pflegeeinrichtung, in Pastellfarben mit Science-Fiction-Ambiente gestaltet, liegt der querschnittsgelähmte Alex. Die neue Pflegerin, Maria, eine mehr als sehr runde junge Frau, kümmert sich um ihn. Fast gleich von Anfang an, mit noch etwas schüchternem Blick, so als wüsste sie nicht genau, was zu tun ist, fängt sie an, sexuelle Grenzen zu testen und schnell zu überschreiten. Es entsteht eine sehr ungleichgewichtige Beziehung, in der sich Alex zwar immer wieder als extrem ekelhaft und sexistisch zeigt, aber im Wesentlich ist er der Missbrauchte. Maria hat zu jedem Zeitpunkt die Oberhand, was sein Wachen, sein Schlafen, sein Lieben angeht.
Der Film verstört weniger wegen seiner Sexualität, oder der „unperfekten“ Körper, als durch seine grosse Sprachlosigkeit, sein Schweben in einem nicht benannten Ort und Kontext. Und er suggeriert, dass marginalisierte Personen in automatischer Solidarität verbunden sind und es hier um ein gegenseitiges Ausleben von Bedürfnissen geht. Über die Länge und Langsamkeit ist das etwas langweilig, ein Zuschauer hat tatsächlich den ganzen Film über auf seinem Handy ein Spiel gespielt.
Übungen
Das Kurzfilmprogramm heute ist etwas sperrig, und vor allem wirken viele der Filme, als wären sie in erster Linie als Kameraübung gedacht, das Erzählerische bleibt dabei zum Teil auf der Strecke.
Das scheint besonders bei The Island von Julien Pujol der Fall zu sein. In kontrastreichen Schwarzweiss-Bildern, auf Film gedreht, zeigt er eine Gruppe von jungen Menschen irgendwo in einem Wald in Estland. Es ist Mittsommer, und so unterstützt das eigentümliche Sommerlicht die sehr schönen Bilder. Aber was genau die Gruppe dort tut, und wie genau die Beziehungen unter ihnen sind, erschliesst sich nicht wirklich. Sie scheinen sich durch ein akademisches Jahr treiben zu lassen, von Ort zu Ort, von Kontinent zu Kontinent, wie die Schwalben und Störche, die man wiederholt sieht. Und mit denen der Zuschauer am Ende des Films im hell strahlenden Marokko landet. Eine schöne, lange (39 Minuten) Kameraübung zum Thema Darstellung von Licht in Schwarzweiss-Bildern.
Mátalos a todos von Sebastian Molina Ruiz hingegen ist ziemlich bunt. Aber auch hier scheinen Figuren durch die Zeit, durch den Film zu treiben. Vage ahnt man, dass zwei Mädchen einander Videobotschaften schicken, ein Treffen vereinbaren, das aber nicht stattfindet. Das Warum erschliesst sich eher nicht. Bildlich wechselt der Film von den Aufnahmen der Mädchen in „Amateur-Qualität“ zu den Aufnahmen von den Mädchen in Film-Qualität.
In I Used to Live There von Ryan McKenna visualisieren die verschiedenen Ästhetiken den Zustand, das Innenleben der Figuren. Das ergibt einen interessanten, originellen Effekt. Eine Schauspielerin sucht nach einem Photographen, um ihr neue Portraits für ihre Bewerbungsmappe zu machen, und findet ausgerechnet einen, der immer mehr erblindet. Komplett in Schwarzweiss gedreht, sind die Sequenzen des Erblindenden zusätzlich durchgängig als verkratzte, ausbleichende, rauschende Aufnahmen gestaltet. Das Konzept ist gut.
Kinderfilm von Total Refusal ist die spannendste Arbeit dieses Programms. Im letzten Jahr gewann das Kollektiv bereits den Pardino d’oro. Diesmal kommen sie zurück, mit einer Geschichte, die wieder komplett innerhalb eines Computerspiels (GTA V) stattfindet. Eine Figur fährt durch eine seltsame Welt, irgendetwas fehlt, sie kommt nur nicht genau drauf, was es ist. Der Zuschauer sieht schnell, hier gibt es keine Kinder, nur verwaiste Spielsachen, einen leeren Schulbus, leere Spielplätze.
Der Film macht nachdenklich und ist dabei witzig und super gemacht.
Tragisch-Komisch
Lousy Carter von Bob Byington ist ein altmodischer Film. Ein etwas schlampiger, etwas kindischer Literaturprofessor, der seit Jahren nur über Fitzgeralds „Grossen Gatsby“ unterrichtet, erfährt, dass er nur noch 6 Monate zu leben hat. Was folgt, ist eine tragische Komödie, weniger hektisch, aber einem Woody Allen Film nicht unähnlich. Wendungen folgen wie kleine Hiebe, unerwartet, manche lustig, manche hart, und am Schluss doch ganz schön drastisch.
Unfreiwillig Komisch
In letzter Zeit werden immer häufiger Filme vollmundig angekündigt mit „hier wird ein neues Frauenbild gezeigt“, dabei ist es egal, ob Regisseure oder Regisseurinnen das vorgeben. Leider ist fast nie ein neues Frauenbild im Film zu finden.
Auch Première affaire von Victoria Musiedlak wird auf der Piazza so angekündigt, aber auch hier gibt es wieder dasselbe, alte Frauenbild zu finden. Eine sehr junge Anwältin wird Abends auf dem Weg von einem Barbesuch von ihrem Chef zu einer Vernehmung geschickt. Im Pailletten-Minirock macht sie sich auf den Weg. Dass sie eigentlich eher mit Wirtschaftsrecht Erfahrung hat, und es hier um Strafrecht geht, wischt der Chef beiseite. Die Vernehmung des 18-Jährigen verwandelt sich recht schnell in eine Verhaftung wegen Mordverdachts, und ab da läuft der Film aus dem Ruder. Einerseits will die Anwältin den Fall unbedingt behalten, andererseits lässt sie sich völlig sinnentleert auf ein Verhältnis mit dem ermittelnden Polizisten ein. Sie wurschtelt ein bisschen an ihrem Fall, lernt von ihrem Chef, dass es für Anwälte egal ist, ob der Klient schuldig ist oder nicht, solange er sagt, er sein unschuldig, habe man ihn auch so zu verteidigen. Auch die Affäre mit dem polizisten wird mit allen alten, dümmlichen Klischees abgehandelt, alles wie gehabt. Und spannend ist die Geschichte eigentlich auch nicht. Aber immerhin haben einige der Klischees auf der Piazza zu, vermutlich ungeplanten, Heiterkeitsanfällen gesorgt.
Wenn es also neue Bilder gibt, dann nur im rein visuellen Sinn, inhaltlich bewegen sich die Filme so weit alle auf bekanntem Territorium.
Im Kino
Manchmal fragt man sich, was in anderen Menschen vorgeht. Warum glaubt man, keine zwei Stunden ohne E-Mails, Benachrichtigungen und Soziale-Medien auskommen zu können? Muss man wirklich im Kino, mitten während eines Films, aufs Handy schauen, mit grell erleuchtetem Display obendrein? Muss man, wenn am Ende einer Sitzreihe ein Platz frei ist, wirklich mit starrem Blick auf diesen Platz alle anderen Leute treten? Der Platz verschwindet ganz selten plötzlich in einer Dimensionsfalte.
Schwelende Feuer
Whispers of Fire & Water von Lubdhak Chatterjee ist ein bildlich und akustisch sehr intensiver Film. Die erste Hälfte des Films stromert ein Klangkünstler aus Kalkutta auf und um einen Braunkohle-Tagebau herum. Es qualmt, schwelt, ist dreckig, und doch arbeiten und leben Menschen in dieser Hölle, während man vom Zusehen schon Atemnot bekommt. Beindruckende Bilder und angsteinflössende Töne, und eine unterschwellige Bedrohung, durch die Polizei, lokale Behörden. Genau wie der Protagonist der Geschichte, weiss man nie genau, was los ist, von wo Gefahr droht; aber man ist mitten drin.
Ein Arbeiter des Tagebaus erzählt ihm von seinem Dorf, mitten im Wald, und der Künstler aus der Stadt folgt ihm in die Natur, die so dicht ist, wie vorher die Feuer der Braunkohle. Aber auch hier scheinen Bedrohungen in der Luft zu liegen, unbekannt ihr Ursprung, trotzdem vorhanden, und der Mann scheint sich in der Natur immer mehr zu verlieren. Ausser, dass in den Dialogsequenzen die Sprache und die Geräusche alle leicht asynchron sind, ein erstaunlicher Film.
Veränderungen
Ein Kurzfilmprogramm zum Thema Veränderung in verschiednen Formen. Solo la luna comprenderá von Kim Torres ist vielleicht der unverständlichste Film des Programms. Eine Off-Stimme erzählt von einem schrecklichen Tag, Jahre zurück, einem Tag, an dem der Ich-Erzähler fürchtete zu sterben. Die Filmbilder zeigen Jugendliche, die an einem Strand in Costa Rica spielen, lernen, Spass haben. Im Wasser liegt ein Schiffswrack, das möglicherweise den Erzähler 60 Jahre vorher an diese Küste gebracht hat.
Wenn man auf der „falschen Seite“ der Stadt geboren wurde, ist das Leben vom Anfang weg schwierig. Die falsche Seite von Salerno, und wie sich Jugendliche doch von ihrem Schicksal lösen, erzählt Z.O. von Loris G. Nese. In animierten Realbildern erfährt man von einer Jugend, wo man nur dazugehört, wenn man Schlimmes tut, wenn die Taten der Väter die Leben der Kinder bestimmen.
Und doch, manchmal schafft man es, den Weg zu verlassen, eine Änderung herbeizuführen.
Touristen verändern Orte durch ihre Anwesenheit. In Been There zeigt Corina Schwingruber Ilić Touristenziele haarscharf neben den Stellen, an denen sich alle tummeln, um die immer gleichen Photos zu machen. Venedig, Paris, Rom, Wien, Alpen. Immer die Touristen, oder wenigstens einige im Bild, aber nie den Hintergrund ihres Begehrens. Das ist irre komisch und auch sehr entlarvend.
Wieder eine im Off erzählte Geschichte. Remember, Broken Crayons Colour Too von Urša Kastelic und Shannet Clemmings schildert den brutalen Angriff auf eine jamaikanische Transfrau, und ihr anschliessendes Ankommen in der Schweiz. In den Bildern ist die Protagonistin bereits in Sicherheit, aber die zugefügten Schmerzen bleiben ihr.
The Lovers von Carolina Sandvik ist ein brillanter Stopp-Motion-Film. Ein Pärchen im Restaurant, plötzlich fängt der Mann an sich immer mehr aufzulösen. Seine Haut reisst, sein Fleisch blättert ab, bis beide zuhause sind, ist von ihm nur noch ein Skelett übrig. Sie scheinen sich mit dieser Veränderung dennoch zu arrangieren. Bis auch bei der Frau erste Risse in der Haut auftauchen, und die Auflösung beginnt. Veränderung auf die groteske Spitze getrieben.
Ungezogen
Am Ende von Rossosperanza von Annarita Zambrano gibt es frenetischen Applaus und wildes Johlen. Der Film erzählt, in verschiedenen, nonlinearen Zeitebenen, von einer Gruppe Jungendlicher, alles Kinder schwerreicher Familien, die alle irgendetwas „angestellt“ haben. Sie treffen in einer teuren, noblen psychiatrischen Einrichtung zusammen. Tatsächlich reichen ihre Untaten von Promiskuität über Brandstiftung zu Mord, zum Teil von allem ein bisschen. Durch die Zeitsprünge bleibt der Film in ständiger Spannung, während die Figuren immer mehr miteinander verwoben werden. Und auch der umherstreifende Tiger ist Teil der ineinandergreifenden Geschichten. Ein sommerlicher Horror nicht nur durch die Jugendlichen, sondern auch an den Jugendlichen. Der Schlussapplaus ist mehr als wohlverdient.
Während Locarno mittags noch friedlich vor sich hin köchelt, ist es gegen Abend plötzlich drückend und bewölkt, Zeit das Regencape zu holen.
Tauchen und Kämpfen
Koreanisches Action-Kino am Abend. Milsu(Smugglers) von RYOO Seung-wan fängt etwas langsam an, wird dann aber in der zweiten Hälfte wirklich rasant.
Korea in den 1970er Jahren, das Tauchen nach Muscheln und Fischen deckt den Lebensunterhalt nicht mehr, da kommt das Angebot, das Können der Taucherinnen zu nutzen, um Schmugglerware aus dem Meer zu holen, gerade recht. Als eine Ausfahrt an die Polizei verraten wird, kommt es zu einem Unfall, und die Taucherinnen werden, bis auf eine, eingesperrt.
Zwei Jahre später sind die Frauen wieder draussen, Gerüchte machen sich breit. Hat Choon-ja, die davon gekommen war, den Verrat begangen, wie ihre Freundin Jin-sook vermutet? Als Choon-ja wieder auftaucht, und neue Pläne für ertragreicheren Schmuggel mitbringt, sind alle skeptisch. Und langsam beginnt ein wildes Intrigenspiel, in dem man manchmal den Überblick verliert. Wer betrügt wen, und wer betreibt doppeltes Spiel? Es wird mit allen Mitteln gekämpft, gemetzelt, verraten, und zum letzten Showdown treten die Taucherinnen unter Wasser an. Trotz des langsamen Starts, viel Tempo und Action, und Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen. Ach ja, und einige grosse Haie dürfen in dem Spektakel natürlich auch nicht fehlen. Der Piazza hat das gefallen.
Wenn man sein Festivalprogramm eng taktet, dann darf nichts schiefgehen. Andererseits, was schiefgehen kann, geht dann auch schief, zumindest manchmal. In der Open Doors Sektion läuft am Morgen der peruanische Film Autoerótica von Andrea Fernanda Hoyos Valderrama. Nachdem er schon etwas verspätet anfängt, dann der Ton so laut und verzerrt ist, dass man Ohrenschmerzen bekommt, läuft der Film gut 20 Minuten in erträglicher Lautstärke. Doch dann, Film stoppt, Licht geht an: „Tonprobleme, wir starten den Film neu“. Schade, aber mit einem Neustart ist der nächste Film nicht mehr zu schaffen, verschieben bringt das nachfolgende Programm komplett aus dem Lot. Raus aus dem Kino, aber schade um den peruanischen Film.
Taschen
Weiterhin werden vor jedem Kinosaal, aber auch vor dem abendlichen Zugang auf die Piazza Taschen und Rucksäcke kontrolliert. Allerdings sind die Sicherheitsleute im Lauf der Jahre etwas flexibler geworden. Es wird nicht jede Trinkflasche moniert, sondern nur, sollte sie aus Glas sein, spitze Gegenstände sind natürlich auch nicht im Saal erlaubt. Ganz selten gibt es dann doch übereifrige Kontrolleure, die die Grösse der Rucksäcke kritisch beäugen.
Was bleibt
40 Minuten vor der Nachmittagsvorstellung ist die Warteschlange schon erheblich, Festivalpublikum ist wirklich unermüdlich und fleissig. Zur Einführung von Maryna Vrodas Film wird der künstlerische Leiter Nazzaro kurz und, für ihn eher ungewöhnlich, politisch und verlässt die Bühne mit einem „Slava Ukraini“. Ok, kann man machen.
Bei Stepne von Maryna Vroda weiss man nicht immer, ob man noch in einem Spielfilm ist, oder schon in einem ethnologischen Dokumentarfilm. Dank der wunderbaren Kamera-Arbeit ist das allerdings verzeihlich.
Ein Dorf, irgendwo in der Ukraine, grau, schlammig, nur noch von alten Menschen und deren Erinnerungen bevölkert. Ein Sohn kommt zurück, um sich um seine sterbende Mutter zu kümmern. Aber auch, um sich selbst zu erinnern, sich von den Geschichten der Alten tragen zu lassen, in eine Welt, die so nicht mehr existiert. Manche der „ethnologischen“ Exkurse sind arg lang, zum Beispiel die Beerdigung und der anschliessende Leichenschmaus, auch wenn die Kamera hier wieder sehr viele fabelhafte Bilder findet: Bilder von Gesichtern, die wie verwittertes Holz aussehen, abgearbeitete Finger, oder einfach ein Raum, dunkel, voller Menschen, schön wie ein Gemälde. Aber eben manchmal auch etwas langatmig. Dennoch, der Film gibt ein Gefühl für diesen verlorenen Ort, und erinnert vielleicht an eigene verlorene, vergessene Orte.
Unterwegs
On the Go von María Gisèle Royo und Julia de Castro ist ein ziemlich durchgeknalltes Roadmovie. Die Protagonisten, ein Freundespaar: er schwul, sie mit dringendem Kinderwunsch. Dazu dann noch Brandstiftung, ein amerikanisches Auto, eine philosophierende Meerjungfrau – die scheinen gerade Konjunktur zu haben – alles lustig durcheinander gewirbelt. Nichts wird wirklich auserzählt, und erst recht wird nichts aufgeklärt. Die Figuren lassen sich treiben vom Rhythmus der Ereignisse, wie sie halt gerade kommen, sofern sich das Publikum auf diesen etwas rauen Spass einlässt, treibt es fröhlich mit. Das ganze gedreht auf 16 mm und zum Teil aberwitzig geschnitten.
Unrund
Irgendetwas scheint dieses Jahr in Locarno nicht richtig rundzulaufen. Es sind Kleinigkeiten, die irritieren, die den Festivalalltag etwas mühsamer machen. Neben den schon beklagten Problemen mit der App, der Webseite und der Netzabdeckung, scheint jemand befunden zu haben, dass man nicht mehr täglich die Zuschauerzahlen der Piazza anzugeben braucht. Auf Nachfrage heisst es: wird am Ende des Festivals gemacht. Aber da braucht das keiner mehr, zumindest nicht in der Form. Der Aufwand, das auf die Tafel zu schreiben, sollte überschaubar sein. Kleinigkeiten, aber eben einige davon.
Unterbrechung
Noch einmal wird Giona Nazzaro heute politisch, allerdings eher ungeplant. Als am Abend Regisseur Luc Jacquet einen Ehrenleoparden bekommen und seinen neuen Film vorstellen soll, stürmen zwei sehr junge Klimaaktivisten die Bühne auf der Piazza. Fast genauso schnell wollen sich Sicherheitskräfte auf sie stürzen, um sie wegzuzerren. Sofort springt Nazzaro dazu, hält die Sicherheitskräfte davon ab, zu zerren, fordert sie laut auf, niemandem weh zu tun, und kniet sich zu den Aktivisten runter. Kurz darauf erscheint auch noch Marco Solari auf der Bühne, der sich auch schützend zu den beiden Protestieren stellt. Schliesslich übergibt Nazzaro dem jungen Mann das Mikrophon, und hält während der kurzen Ansprache der jungen Frau beruhigend die Hand. Am Ende gehen beide mit Marco Solari friedlich von der Bühne. Eine eigentümliche Situation, weil die beiden Jugendlichen gleichzeitig zielstrebig und doch von der Situation völlig überwältigt wirken. Ausser den Sicherheitsleuten, sind alle anderen auf der Bühne ruhig, freundlich und verständnisvoll. Mit Giona Nazzaros Aufruf, den Zustand der Erde gemeinsam und jederzeit zu verbessern, beginnt dann: Voyage au pôle Sud von Luc Jacquet. Der Film ist das gefilmte Tagebuch einer Reise von Patagonien zum Südpol, sehr persönlich, aber auch manchmal etwas geschwätzig, belehrend im Off-Text. Grandios sind hingegen die Bilder, sowohl die karge Landschaft Patagoniens als auch das Meer und die Eisberge sehen in kontrastreichem Schwarzweiss einfach sensationell aus.
Man kann nachempfinden, warum der Regisseur von dieser Landschaft, diesem Ort so überwältigt ist, dass er immer wieder dorthin zurückmuss. Die Härte und gleichzeitige Zerbrechlichkeit der Natur dort sind einfach umwerfend. Was leider etwas lästig ist, ist die viele, oft auch sehr aufdringliche Musik. Dabei hat der Film eine sehr gute, interessante Tonebene, mit wunderbaren Geräuschen und Atmos. Insgesamt ist der Film einfach sehr schön. Er ist für den Pardo Verde nominiert, und hat sicher gute Chancen, den auch zu gewinnen.
Feuer
Ein weiterer Film, der sich mit jugendlicher Sexualität befasst. In Todos los incendiosvon Mauricio Calderón Rico kommen Wut, Trauer und Pyromanie mit dazu. Der mexikanische Film verrät seine Figuren nicht, dichtet ihnen keine Hysterie oder Überspanntheit an, sondern lässt sie sein, was 16-Jährige vor allem sind: unsicher und heranwachsend. Das Feuer, mit dem der junge Bruno spielt, ist sowohl Ausdruck seiner innern Spannung als auch einer allgemeinen, ungerichteten Wut auf alles. Die Internet-Filme seiner Feuerchen bringen ihn mit Daniela zusammen, die ihm, schmerzhaft aber direkt, ein Stück weit aus seinem Teufelskreis aus Wut und Unwissen heraushilft. Aufkeimende Gefühle zu verstehen in einer Gesellschfaft, in der der Vater seine Tochter lieber als Hure denn als lesbisch sehen möchte, bedeutet eine zusätzliche Herausforderung. Aber mit den letzten Streichhölzern entsorgt Bruno auch einen Teil seiner inneren Zweifel.
Filmemacherinnen
Die Kurzfilme des Tages wurden alle von Frauen gemacht, ein sehr schönes, starkes Programm. In Loving in Between formt Jyoti Mistry aus Archivmaterial, Animation und Dichtung, mittels fabelhaftem Schnitt, ein Filmgedicht. Zwischen Geburt: schwer und Tod: schlecht soll man lieben, um diese Vorgabe drehen sich sowohl Texte als auch Bilder, die Ebenen verschmelzen und ergänzen sich, werden ein neues Ganzes. Beeindruckend.
Pleine Nuit von Manon Coubia. Was, wenn man plötzlich erfährt, dass die eigene Grossmutter in der Résistance war, und auch nach dem Krieg die erbeuteten Waffen nicht abgegeben, sondern diese lieber im See versenkt hat? Eine kleine, hübsche Geschichte von der Weitergabe des Feuers. Auch dieser Film gedreht auf 16 mm Material.
Der schöne Animationsfilm O krávě von Pavla Baštanová erzählt vom Leben und teilweise Leiden von Kühen weltweit. Zauberhafte Bilder, die mal an Picassos, mal an Chagalls Kühe erinnern, und doch eine eigenständige künstlerische Handschrift haben.
Wenn die Verzweiflung gross genug ist, greift man zu den unglaublichsten Mitteln. Das erzählt Hoda Taheri in Engar madaram geriste bud aan shab (As if Mother Cried That Night). Der letzte Weg für ein iranisches Paar in Deutschland einen Aufenthaltstitel zu bekommen, scheint zu sein, dass die Frau das Kind eines Deutschen zur Welt bringt. Verzweiflung in extrem ruhiger Erzählweise.
Familie
Weihnachten in Texas, Kleidchen, Sandalen, grüne Wiese und eine grosse Familie, versammelt für die Feiertage. Das ist die Ausgangslage von Family Portrait von Lucy Kerr. Jeder, der eine grosse Familie an Feiertagen kennt, versteht sofort die Dynamik, die dort herrscht. Ein Mittelding zwischen Langeweile und grosser Vertrautheit, als Fremder ist man allerdings hoffnungslos verloren. Als Zuschauer in diesem Film leider auch. Weil an sich nichts weiter passiert. Das Aufregendste ist, dass der polnische Freund einer der Töchter das jährliche Familienphoto machen soll. Die Kamera kreist etwas unruhig um diese vielen Menschen, mäandert zwischen ihren Unterhaltungen, erzeugt eine Art erwartungsvoller Unruhe, aber mehr wird nicht geschehen.
Hoffnung
Auch an diesem Abend wird es politisch auf der Piazza. Nach stehendem Begrüssungsapplaus für Ken Loach, mahnt dieser Solidarität ein und warnt eindringlich davor, nach „unten“ zu treten und Sündenböcke zu suchen.
Solidarität und Hoffnung als Mittel gegen den weiteren Anstieg rechter Parteien.
Sein aktueller Film The Old Oak erzählt genau davon. Ein Dorf im Nordosten Englands, runtergekommen seitdem die Bergwerke geschlossen sind, die Dorfkneipe der letzte öffentliche Ort. Als mehrere syrische Familien im Ort ankommen, herrscht mehrheitlich Skepsis und einige der Stammgäste steigern sich mit rechten Parolen immer weiter in ihre Ablehnung. Es geht anfangs vieles schief, bevor es besser wird, bevor es Solidarität zwischen den armen englischen Familien und den Neuankömmlingen gibt. Was dem Film mangelt, ist künstlerische Subtilität, so geraten viele Situationen doch sehr plakativ didaktisch. Viele Wendungen kündigen sich viel zu deutlich an, die gute Absicht gerät ins Lehrerhafte, was etwas schade ist. Weil das Thema ist wichtig. Dem Applaus nach zu urteilen, kam der Film aber gut an, möglich, dass das ein Publikumspreis wird. Aber noch sind nicht alle Filme auf der Piazza gelaufen.
Tatsächlich funktioniert seit heute früh die Festival-App, also vorausgesetzt man findet draussen wirklich stabiles WLAN. Sprich: Die App ist für den Gebrauch nicht wirklich geeignet. In jeder Warteschlange, in jedem Kinosaal unterhalten sich Menschen darüber, wie diese App nicht funktioniert, wie sie teilweise verhindert, dass man gebuchte Vorstellungen besuchen kann. Der Ärger darüber variiert von: Blödsinn bis zu: Wieso bekommen Leute Geld, die so einen Schrott entwickeln. Dafür ist die Regenwahrscheinlichkeit rechtzeitig zum Wochenende ordentlich gesunken, der Samstag verspricht sonnig und schön zu werden.
Am Eröffnungsabend haben tatsächlich 2.300 Personen auf der Piazza dem Regen getrotzt. Laut künstlerischem Leiter Giona Nazzaro sind bisher fast alle Vorstellungen in Kinos nahezu ausverkauft.
Wasser und Geister
Hao jiu bu jian (Dreaming & Dying) von Nelson Yeo zu verstehen ist nicht ganz einfach. Die Geschichte mäandert in variablen Kreisen. Zunächst scheint man ein Treffen von Schulfreunden zu sehen. Die Beziehungen der drei scheinen allerdings schwierig: Sie verheiratet mit Ihm, verliebt in den anderen, der wiederum verliebt in ihren Ehemann ist. Und dann ist da noch das Märchen vom Meermann, der, egal wen er liebt, heimwehkrank nach dem Wasser ist, aber unsere zerstörte Umwelt macht jegliche Rückkehr schwierig. Dann gibt es den Fisch, der vom Ehepaar in einer Zeremonie durch den Dschungel ins Wasser getragen werden soll. Aber wer ist der Fisch? Verliebt in den Mann, durch alle Schichten der Zeit gekommen, um diese Liebe einzulösen, oder nur um zu sterben? Und wer ist die Meerfrau? Alles ist mit allem verbunden, das trifft es wohl am besten. Wirklich super sind die sehr grafisch komponierten 4:3 Bilder, die mittels Kamerabewegungen ein neues, anderes Bild der Situation ergeben. Eine eigenwillige Parabel auf die Liebe, die Welt, die Fische, das Meer.
Weitere Geister
Auch in den Kurzfilmen heute tummeln sich diverse Geister. In Night Shift von Kayije Kagame und Hugo Radi ist das Geisterhafte noch nicht ganz sichtbar. Gäbe es nicht am Anfang eine Tafel, die von der Nachtlampe für die Geister des Theaters berichtet, würde sich das nicht erschliessen. Auch nicht ganz klar ist, warum der Film im sich füllenden Theater beginnt, also alles andere als leer und unheimlich, um dann im nächtlichen Naturkundemuseum zu landen. Hier dreht eine Nachtwächterin ihre Runden, seltsame Geräusche verführen zu Geister-Assoziationen, mehr aber auch nicht. Auf jeden Fall aber sehr schön gedreht.
iNTELLIGENCE von Jeanne Frenkel und Cosme Castro ist da schon expliziter. Der Film lässt Realfiguren auf animiertem Hintergrund agieren und schafft so eine irreale Ebene, die gut zum Thema passt. Eine Firma bietet an, aus persönlichen Erinnerungen einen Geist zu kreieren, der dann nach dem Tod der Erinnernden an die Hinterbliebenen geht. Ein desillusionierter Zeitungsredakteur nimmt das Angebot angesichts seines nahenden, frühen Todes an. Und selbst jetzt, wo er alles, was er fühlt, sagen könnte, schweigt er zu seinen wahren Gedanken, offenbart sich nicht mal für den Geist seiner Erinnerung. Unheimlich.
Scorched Earth von Markela Kontaratou ist eher eine Zombie-Geschichte. In einem Wutanfall tötet ein Mann seine Freundin, die Nachbarin beobachtet das Geschehen. Sie sucht und findet die Stelle, wo die Frau verscharrt wurde, und gräbt sie aus, doch da öffnet diese die Augen.
Pássaro Memória (A Bird Called Memory) von Leonardo Martinelli bietet eher keine Geister, es sei denn, der verlorene Vogel namens Memory ginge als Geist durch. Eine etwas versponnene Geschichte mit Tanzeinlagen, die angeblich von Ausgrenzung erzählt.
Retrokitsch
Die ersten 30, vielleicht 40 Sekundenvon Romain de Saint-Blanquats La Morsure sind vielversprechend. Rasanter Schnitt, Bilder, die neugierig machen, die Dramaturgie eines Horrorfilms. Aber dann?
Angesiedelt 1967 – auch wieder ein Trick, um ein altmodisches Frauenbild zu verkaufen? – in einer Klosterschule, in der Françoise, eine 15-Jährige, mit Pendeln und überbordender Phantasie von ihrem nahen Tod zu erahnen glaubt. Alle Bilder, alle Dialoge sind billige Stereotypen von erwachender Sexualität bei einem jungen Mädchen, und das alles völlig humorbefreit. Von Minute zu Minute gräbt sich die Geschichte tiefer in diese altmodischen, kitschigen und überholten Vorstellungen ein. Zu allem Überfluss wird eine Figur, die bis dahin Maurice gerufen wurde, plötzlich als Daniel bezeichnet. Auch das Benzin, dass er aus einem Tank geklaut hat, um sein Moped wieder fahrbereit zu bekommen, bleibt – damit das anfangs erträumte Feuer möglich wird – in den Händen anderer, obwohl er mit dem Moped vermeintlich Hilfe holen ist. Das sind so plumpe Fehler, dass man eigentlich nur lachen kann, geht aber nicht vor lauter Kopfschütteln über den freudschen Retrokitsch.
Schuldfrage
Die Piazza ist am Festival-Samstag eigentlich immer sehr gut besucht, diesmal werden kurz vor Beginn die sich immer noch nachdrängenden Zuschauer nur noch in kleinen Gruppen, und nur nachdem Plätze gezählt wurden, reingelassen. Das klingt eindeutig nach 8.000 Zuschauern. Aber einen Film, der die Goldenen Palme gewonnen hat, gibt es auch nicht oft auf der Piazza. Anatomie d’une chute von Justine Trie hält, was man sich von ihm verspricht. Er ist spannend, extrem gut erzählt und irre gut gespielt. Was bei diesem Gerichtsdrama, wenn man es so nennen mag, besonders gelungen ist, ist die Ungewissheit, in der der Zuschauer bis zum Schluss bleibt. Alle Möglichkeiten sind offen, alles kann passiert sein. Die einzigen Momente, in denen man wirklich Partei beziehen möchte, sind bei den immer kruder werdenden Aussagen des Staatsanwalts, aber dann wieder: wer weiss? Der Film kam auf der Piazza gut an, wenn auch nicht frenetisch bejubelt. Für einen Publikumspreis braucht es vielleicht doch noch andere Zutaten.
Es gehen auch in diesem Jahr Stühle auf der Piazza zu Bruch.
Manches bleibt verlässlich immer gleich.
Konsequenzen
Bei vormittags schon knallender Sonne auf ins wohl hässlichste Kino des Festivals. L’altra Sala hat den Charme einer Lagerhalle und Sitze noch unbequemer als die Plastikstühle der Piazza. Der Saal ist trotz allem brechend voll.
The Vanishing Soldier von Dani Rosenberg ist ein beeindruckender Film, der in schnellem, fast leichtem Rhythmus Schweres erzählt. Der 18-jährige Shlomi, Soldat in Gaza, verlässt während eines Einsatztes seine Einheit. Ohne auch nur eine Minuten an Konsequenzen zu denken, rennt, springt und duckt er sich erst nach Hause und dann zu seiner Freundin nach Tel Aviv. Und während er noch alles für einen grossen Spass und eine noch grössere Liebeserklärung hält, läuft im Hintergrund der politische Apparat an. Die Armeeführung geht davon aus, dass er entführt wurde, mit allen drastischen Konsequenzen der israelischen Politik. Shlomis Chancen, aus dieser Situation zu kommen, werden immer schlechter, die Reaktionen der Armee werden unterdessen immer härter. Als er sieht, was seine unbedachte Aktion an Leid und Tod nach sich zieht, ist es zu spät, irgendetwas sinnvoll zu ändern. Am Beispiel einer persönlichen Dummheit erzählt die Geschichte das gesamte Dilemma des täglichen Konflikts in Israel.
Rabiat
Eine bunte Mischung, visuell und thematisch, bietet die heutige Ausgabe der Kurzfilme. Rainer, a Vicious Dog in a Skull Valley von Bertrand Mandico ist ein sehr artifizieller Film. Auf einer Bühne in künstliches Blut und Gedärm getaucht, proben – oder leben – mehrere Darstellerinnen eine krude, weibliche Version von Conan der Barbar. Dazwischen, die hundsköpfige Kriegsphotographin Rainer, eine Dämonin, die einen Pakt vorschlägt, der nicht funktioniert. Sehr bunt, sehr schräg.
O gün bu gündür, uçuyorum (Ever Since, I Have Been Flying) von Aylin Gökmen. Ein Bericht über die Folter von Kurden. Erzählt grösstenteils im Off, zu Bildern kurdischer Landschaft und Menschen, die im Verlauf des Berichts immer mehr verschwimmen und immer abstrakter werden. Faire un enfant von Eric K. Boulianne zeigt die vielfachen (Fehl)Versuche eines Paars, ein Kind zu machen und dabei ein Paar zu bleiben. Komisch, tragisch und liebevoll. Der Animationsfilm De Imperio von Alessandro Novelli zeigt Humanoide, irgendwo im Universum, die kleinere, graphische Formen terrorisieren und zerstören. Bis eine neue humanoide Form auftaucht, ein nicht endenwollender Kreislauf. Sehr reduziert gezeichnet und doch schön.
Veränderungen
Sweet Dreams von Ena Sendijarević erzählt von den letzten Wochen einer niederländischen Zuckerplantage in Indonesien um 1900. Als der alte Besitzer stirbt, will sein Sohn nur noch alles los werden und schnellst möglich zurück nach Holland. Die alte Mutter weigert sich, was sie aufgebaut haben, zu verlassen, die indonesischen Arbeiter streiken, und dann ist da noch das uneheliche Kind des alten Besitzers mit einer einheimischen Hausangestellten. In exakt kadrierten, oft achsensymmetrischen 4:3 Bildern entwickelt sich der gesamte Irrsinn einer überholten Zeit. Absolut sehenswert.
Klassiker
Der Sonntag auf der Piazza verspricht: klassisches Drama ins Heute verlegt.
Nichts weniger als Shakespeares Othello hat Regisseur Edoardo Leo dafür ins Jahr 2001 und ins Mafiamillieu verlegt. Das klingt erstmal gar nicht schlecht.
Woran Non sono quello che sono – The Tragedy of Othello di W. Shakespeare krankt, ist vermutlich die Werktreue. Übersteigerte Männlichkeit, Rassismus, mieser Umgang mit Frauen, das alles passt im Prinzip gut zu einer Mafia-Geschichte, aber nicht so. Die Figuren behandeln tatsächlich nur den Shakespeare-Stoff, es gibt keinen wirklichen Hintergrund, in den das alles eingebettet ist, keine Anhaltspunkte, warum die Figuren handeln, wie sie handeln. Und so wird der Originaltext in römischem Dialekt präsentiert, in schönen Bildern, die eine kaputte Welt zeigen, aber zum Teil so unüberlegt und sinnlos hektisch geschnitten sind, dass man die Freude an ihnen verliert. Den Faden der Geschichte hat man da schon lange verloren, und Publikum berühren kann man so auch nicht. Nach dem ersten Drittel sind dann auch relativ viele Zuschauer von der Piazza verschwunden. Schade um die an sich gute Idee.
Die Wolken bleiben eher bedrohlich als niedlich, aber immerhin, fast alle nassen Klamotten vom vergangenen Abend sind trocken. Die Online-Rückmeldungen sind immer noch nicht befriedigend und die WLAN-Abdeckung spärlich. Letzteres ist besonders unverständlich, ist doch ein Telekom-Unternehmen seit Jahren einer der Hauptsponsoren des Festivals, da sollte es doch möglich sein, für Gäste einigermassen flächendeckend WLAN zur Verfügung zu stellen.
Aber sonst zeigt sich Locarno von seiner bunten Seite, Leoparden selbst in Barbie-Pink, Zuschauer, die Varianten von Schwarz-Gelb tragen, und solche, die dem Pink-Trend frönen, schön ist das.
Träume in Gelb
Mit Yo y las bestias von Nico Manzano wird die Open Doors Sektion eröffnet. Wie auch schon im letzten Jahr sind Filme aus Lateinamerika eingeladen, Filme und deren Filmschaffende, die in Europa oft unbekannt sind, können hier entdeckt werden. Der Erstlingsfilm Yo y las bestias ist eine melancholische Träumerei in staubigem Gelb. Ein junger Musiker verlässt die Band, in der er spielt, um alleine eine andere, komplexere Art von Musik zu machen. Aber Venezuela und die wirtschaftlichen Probleme lassen das Projekt auf sehr schwachen Füssen stehen. Auch Unterstützung von Freunden ist eher überschaubar, und so arbeitet er sich alleine an seinem Projekt ab, umgeben von imaginierten, gelb verhüllten Mitstreitern. Ein sanfter Film, vielleicht noch etwas ungelenk, aber mit reichlich Potenzial.
Sommersonne
August im Tessin, das heisst, neben plötzlichen Regenschauern und Gewittern, vor allem Sonne und Hitze. Was weiterhin fehlt, sind konsumfreie Orte, mit Schatten, mit Sitzmöglichkeiten, wo man sich zwischen den Vorstellungen kurz aufhalten kann. Was es gibt, sind Orte in der prallen Sonne, oder kümmerliche Wiesen, mit etwas Schatten und vielen Ameisen, wo man aber bereit sein sollte, auf dem Boden zu sitzen. Oder aber eines der vielen Lokale, wo man sich den Komfort und den Schatten erkaufen muss.
Stimmen sehen
Jeden Tag um halb drei heisst es: Leoparden von morgen. Der Nachwuchs, oft, aber nicht immer, aus Filmschulen weltweit, präsentiert seine Arbeiten.
Nocturno para uma floresta von Catarina Vasconcelos, ein eigentümlich künstlicher Film, in dem Untertitel die Stimmen der Seelen von im 17Jahrhundert ausgegrenzten Frauen übernehmen. Blätter, Blumen, Bäume, in verschiedenen Farben eingefärbt fungieren als Protagonisten. Tatsächlich funktioniert die Geschichte besser als befürchtet; ein Film über Frauenselbstverständnis im Wandel der Zeit. Stop-Motion geht (fast) immer. So auch bei Canard von Elie Chapuis. Eine Art Entensplatter-Horror-Geschichte, Sex inklusive. Sehr lustig, sehr toll gemacht.
Der Versuch eines jungen, schüchternen Fabrikarbeiters, mit einer Kollegin anzubandeln, schlägt in Yi zhi wu gui de ben ming nian (A Tortoise’s Year of Fate) von Yi Xiong gründlich fehl. Dafür fällt er auf einen Wahrsager herein, der mit einer Riesenschildkröte vor allem eines macht: ein Riesengeschäft.
Künstler, schwul, Brasilianer und in Berlin auf Zimmersuche: Du bist so wunderbar von Leandro Goddinho und Paulo Menezes. Das Ergebnis ist die erwartbare Frustration, Stereotypen inklusive, nicht uninteressant.
Ganz stark ist: The Currency – Sensing 1 Agbogbloshie von Elom 20ce, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper. Beeindruckende Bilder einer wilden Müllkippe in Ghana, zwischen Kühen, der Dreck unserer Zivilisation, schwarze Rauchsäulen, massenweise Handygehäuse, Plastik und ein Mann, der den Müllteilen Geräusche zu entlocken scheint. Der Film, unterteilt in 4 Kapitel, mischt immer mehr Geräusche zu Musik, jazzige Elemente, aber auch Afrikanisches, eine Symphonie unseres Mülls, die eigentümlich schön ist, während die Bilder Schauderhaftes zeigen.
Mit den letzten Tönen des Abspanns heisst es allerdings schon rausrennen und in die lange Schlange des nächsten Films einreihen.
Störung
Nur 65 Minuten lang ist Yannick von Quentin Dupieux, aber ein Meisterwerk der Ideen und vor allem der Schauspielkunst. Der Film spielt fast ausschliesslich in einem kleinen Theater, wo gerade ein mässiges Boulevardstück läuft. Ein Zuschauer steht nach einem Moment auf, stellt sich höflich vor, und beklagt sich über die Qualität des Stücks. Extra freigenommen hat er sich, um ins Theater zu gehen, um auf andere Ideen zu kommen, und jetzt das, er wird nur noch mehr runtergezogen, er möchte sich beim Verantwortlichen beschweren. Von dieser Ausgangslage entwickeln sich in dem begrenzten Raum Situationen, die von schräg zu gefährlich, von verständnisvoll zu dramatisch und wieder zurückkippen. Ganz wunderbar ist das ausdrucksstarke und nuancenreiche Spiel des Hauptdarstellers Raphaël Quenard.
Ins Wasser gefallen
Und dann fängt es am Abend wieder an zu regnen, erst zaghaft und dann richtig stark. Also kein Abend auf der Piazza, kein La Voie Royale von Frédéric Mermoud.
Und besonders ärgerlich: nicht dabei sein, wenn für einmal ein Cutter einen Ehrenpreis erhält. Der gebürtige Italiener Pietro Scalia hat in den USA so ziemlich alles geschnitten, was gross und teuer ist, von Spiderman über Kick-Ass, Good Will Huntig bis zu Gladiator. Stattdessen die Pressevorführung von La bella estate von Laura Luchetti, dem Piazza Grande Film von morgen – da soll es auch regnen! Ein Sommer in Turin 1938, ein Geschwisterpaar vom Land lebt etwas ärmlich in der grossen Stadt, während der Bruder studieren will, arbeitet seine Schwester als Schneiderin in einem Modeatelier. Alles läuft ruhig und irgendwie spiessig, vorhersehbar, bis eines Tages eine junge Frau die Schwester in die wilden Künstlerkreise der Stadt mitnimmt. Wein, Sex, Drogen, ein völlig anderes Leben als das ruhige bisherige. Aber die wilde Welt verwirrt mehr, als dass sie Freude oder Klarheit bringt. Wozu der Film im Jahr 1938 spielt, ausser um ein ziemlich veraltetes Frauenbild zu zeigen, erschliesst sich nicht, ein Schnipsel Mussolini im Radio ist alles, was es an politischem Zeitbezug gibt. Ansonsten: hübsche Kostüme, schöne Ausstattung, gute, warm eingefärbte Bilder, stimmungsvoll einerseits, aber auch etwas langweilig über die doch langen 111 Minuten.
Schneiden
Nachdem Pietro Scalia gestern Abend geehrt wurde, führt er am Vormittag ein Publikumsgespräch. Also rasch vor dem ersten Film vorbeischauen. Der Italiener, der in Aarau aufgewachsen ist, verliebt sich früh und nachhaltig ins Kino, der Zufall will es, dass er in New York und dann in Los Angeles Film studieren kann, der Rest der Geschichte ist Hartnäckigkeit und Glück. Viel Glück, möchte man in seinem Fall neidlos sagen.
Gerüchte
Der Tag beginnt wolkig und verspricht, schlechter zu werden. Nun gut, im Kino ist das egal. Auch in Ekskurzija von Una Gunjak überwiegt ein vorstädtisches Grau. Für Iman und ihre Mitschüler, Jugendliche um die 15, dreht sich eigentlich dauernd alles um Sexualität. Aber alle sind auch zu jung, zu unerfahren und zu linkisch, um darüber zielführend zu reden. Sie verlieren sich in Spielchen wie „Wahrheit oder Pflicht“, und protzen immer wieder mit angeblich bestandenen sexuellen Abenteuern. So kommt auch das Gerücht auf, dass Iman mit einem älteren Jungen geschlafen hat. Heimlich verliebt in ihn, befeuert sie die Gerüchte, legt noch mehr dazu, bis die Konsequenzen nicht nur ihr selbst über den Kopf wachsen. Auch wenn in dem Film viel geredet wird, sind doch die Figuren sehr schön gezeichnet, die jungen Darstellerinnen sehr gut und die Entwicklung der Geschichte plausibel. Erwachsenwerden war noch nie ein Spass, heute scheint es, noch ein bisschen nerviger zu sein.
Gefühle
Gerade in den Kurzfilmen dominiert Gefühl als zentrales Thema. In diesem Program besonders augenscheinlich, wenn auch nicht besonders gelungen.
In ALEXX196 & la plage de sable rose von Loïc Hobi vermischt sich das tägliche Leben eines Jugendlichen mit seinen Abenteuern und vor allem Freundschaften in einem Computerspiel. Das Spiel scheint die einzige Verbindung zu einer emotionalen Welt zu bieten, umso schlechter das Gefühl des Jugendlichen, als sein einziger Freund die Verbindung kappt. Visuell recht interessant gestaltet.
Der Animationsfilm Pado (The waves) von Yumi Joung zeigt einen schwarz-weiss gezeichnten Strand als Metapher auf den Gang des Lebens. Hübsch und verspielt.
I mitera mou ine agia (My Mother Is a Saint) von Syllas Tzoumerkas. Erinnerungen an die Mutter, anscheinend anlässlich ihrer bevorstehenden Beerdigung, ein bisschen wirr, aber nicht uninterssant.
Der stärkste Film dieses Programms ist En undersøgelse af empati (A Study of Empathy) von Hilke Rönnfeldt. Nicht die Geschichte transportiert die im Titel erwähnte Empathie(fähigkeit), sondern die Bilder, ihre Montage, der Ausdruck der Schauspielerin. Die Kraft der Empathie, oder eben ihr Fehlen, schleichen sich so subtil ins Bewusstsein des Zuschauers, eine eigene Geschichte entsteht jenseits der Filmgeschichte.
Slimane von Carlos Pereira ist definitiv wirr. Dialoge vor statischen, menschenleeren Bildern, lange Einstellungen, die einen eher nicht einnehmen, sondern dazu verführen die eigenen Gedanken ,irgendwohin schweifen zu lassen. Beeindruckend eigentlich nur das letzte Bild, eine Nahaufnahme des Protagonisten in Stroboskoplicht, der erst lange nur steht und schaut, um dann plötzlich loszutanzen.
Tempo und Witz
Drei Stunden Tempo, Spass,Politisches und politisch Unkorrektes in:
Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii (Do Not Expect Too Much From the End of the World) von Radu Jude. Dass einem dabei nicht langweilig wird, liegt an Judes Talent für Timing, Tempo und Erzählkraft. Er mischt einen Film über die Filmbranche mit einem Film aus den 80er Jahren und kurzen TikTok-Clips. Die Basisgeschichte bleibt dabei in körnigem Schwarzweiss, während der 80er Jahre-Film (Angela goes on) in all seiner verwaschenen Farbkraft dagegenhält. Fast atemlos folgt der Film einer jungen Frau, die für eine Produktion als Mädchen für alles herhalten muss, Casting, Fahrtdienst, was gerade anfällt, und das unterbezahlt und in sehr langen Arbeitstagen. Autofahrten durch den Verkehr in Bukarest geraten so zu ihrer persönlichen Kampfzone. Zum Ausgleich politisiert sie, versteckt hinter einem schlechten TikTok-Filter, als Bobby sexistisch und ordinär zu Themen des Alltags, der Politik, der Sexualität. Der Film schafft eine umfassende Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Komödie, der Übertreibung, aber immer auch der Montage. Allein die gegeneinander geschnittenen, sich ergänzenden oder kommentierenden Fahrszenen von heute und aus den 80erJahren wären eine umfassende Analyse wert. Trotz der Länge und der Komplexität der Erzählung sind fast alle Zuschauer bis zum Ende geblieben, der Saal war voll, und es gab reichlich Applaus.
Traktor der Männlichkeit
Ausser Konkurrenz, aber im Wettbewerb für den Grünen Leoparden läuft: 5 Hectares von Émilie Deleuze. Lambert Wilson, dieses Jahr Jury-Präsident in Locarno, spielt darin einen Neurowissenschaftler, der sich ein altes Bauernhaus mit 5 Hektar Land gekauft hat. Natürlich gibt es gleich bei der ersten Begegnung mit dem bäuerlichen Nachbarn Ärger. In Abwandlung eines Weitpinkel-Wettkampfs versucht der Zugezogene sich mittels Traktorkauf Respekt zu verschaffen. Alles recht seicht, nett auch, aber vor allem sehr absehbar. Nur für Freunde der seichten Unterhaltung.
Die Luft, dick und schwer, genau wie die Wolken, die tief über dem See hängen.
Es wäre nicht die erste Eröffnung in Locarno, die mit den bekannten „Spezialeffekten“ Regen und Gewitter startet.
Gute Idee, aber
Es könnte so praktisch sein: Auf der Festivalseite anmelden, mit der Akkreditierten-Nummer Vorstellungen buchen, oder gebuchte Vorstellungen stornieren, dann auf der Festival-App alle diese Informationen, klein und handlich, zur Verfügung haben, und einfach ab ins Kino.
So weit die Theorie. Die Praxis zeigt, dass die Buchungen zwar funktionieren, die Tickets aber danach nirgends aufscheinen. Mehrere E-Mails mit dem Helpdesk ergeben das Offensichtliche: da funktioniert etwas nicht richtig! Erstaunlicherweise sind solche Schwierigkeiten zwischen Online-Angebot und Festivalpraxis oft nur in der Theorie gut. Schade eigentlich.
Abschiede
Es ist Marco Solaris letztes Festival als Präsident. Seit 2000 war er das Herz und das – politische – Gewissen des Locarno Filmfestivals. Seine immer sehr emotionalen Reden, immer mehrsprachig, immer voller Enthusiasmus, werden fehlen. Aber nun, mit fast 80, darf er wohl an anderes denken, als an Arbeit. Und auch wenn er seine Nachfolgerin Maja Hoffmann als die beste Kandidatin bezeichnet, wird sie sicher an seiner Arbeit gemessen werden.
Nicht nur für Solari ist es ein Abschied, auch Bundesrat (und derzeit Bundespräsident) Alain Berset wird im kommenden Jahr bei allen Schweizer Festivals keine offizielle Funktion mehr haben, da er sich mit Ende des Jahres aus der Politik verabschiedet. Das ist insofern schade, als Berset ein echter Filmnarr ist, dem man seine Begeisterung nicht nur anmerkt, sondern der auch filmpolitisch einiges geleistet hat.
Noch einmal also hat Solari mit Nachdruck nicht nur die Freiheit, künstlerische wie auch ideologische, sondern auch Wahrheit, um jeden Preis, für das Festival gefordert. Und Berset, mehr Spassvogel denn Staatsmann, machte zur letzten Eröffnung Scherze über sich selbst. Jedes Ende ist aber auch ein Anfang, und das 76. Locarno Filmfestival fängt jetzt erst an.
Guten Abend Locarno
Die schweren Wolken haben sich entschieden, sie lassen Wasser auf Leinwand, Publikum und Eröffnung fallen, und zwar nicht zu knapp. Dennoch, Menschen strömen auf die Piazza und tatsächlich findet – unter einem mobilen Dach – auch der offizielle Teil draussen statt, und nicht wie sonst oft im trockenen Fevi-Kino. Kurz scheint es, als würde der Regen doch noch aufhören, aber nein, pünktlich zum Beginn der Filme dreht er noch mal so richtig auf. Auch schon egal, von den Regencapes tropft es, manche flüchten doch noch schnell.
Die, die geblieben sind, haben einen tollen ersten Filmabend vor sich.
Surreal
Der Kurzfilm Dammi von Yann Mounir Demange sollte eigentlich auch den Ehrenpreis an den Schauspieler Riz Ahmed begleiten, der ist aber wegen des Streiks der amerikanischen Schaupielergewerkschaft nicht angereist. Dammi erzählt von einer Suche: nach Identität, nach Heimat, nach Liebe, nach sich selbst, und das in wunderbar fieberhaften Bildern. Das nächtliche Paris scheint um die Figuren zu kreisen, Dialogfetzen und Gedankenfragmente verdichten die Stimmung, das Suchen wird fühlbar, mitfühlbar.
L’Étoile Filante vonFiona Gordon und Dominique Abel entzieht sich eigentlich einer Beschreibung. Trotzdem hier eine Annäherung an diesen tollen Film.
Ein Mann und sein Doppelgänger, beide mit Traumata geschlagen, beide eigentlich weltabgewandt. Der eine betreibt eine kleine Kneipe und war früher Bombenleger, der andere gärtnert zurückgezogen und trauert um seine verstorbene Tochter. Als ein Unbekannter den Bombenleger erkennt, und versucht ihn zu erschiessen, könnte der Doppelgänger die Lösung des Problems sein. Und diese wilde und etwas wirre Konstellation wird mit so viel Charme, Leichtigkeit, Einfallsreichtum und pantomimischem Slapstick kombiniert, dass man schwindlig wird vor Begeisterung. Die, die geblieben sind, sind am Ende des Abends nass, aber glücklich.
Ein guter Start ins Festival, und das Wetter wird sicher noch besser und die Festival-App wird sicher auch bald funktionieren.
Wenn es draussen zu heiß oder zu nass ist, wenn die Gedanken in trübes Grau versinken, dann bietet sich an, in einem Kino Zuflucht zu suchen.
Und was für ein Film wäre besser geeignet als Wes Andersons Asteroid City?
Die versponnen Welten, die man von Anderson kennt, werden hier in Pastelltönen, mit Geschichten innerhalb von Geschichten, dem bekannten Stammpersonal und Wendungen, die man nicht kommen sieht, erweitert.
Perspektivwechsel
Der Film hat mehrere (Film)Realitätsebenen: Ein fiktives Theaterstück, das ein überarbeiteter Autor gerade schreibt und ein TV-Moderator dem geneigten 50er Jahre Publikum präsentiert. Zu sehen in Schwarzweiss-Bildern und in 4:3 Format, alles auf einer dunklen Theaterbühne, einem scheinbar hermetischen Raum, der sich dann doch erweitern lässt.
Die nächste – leinwandfüllende– Ebene, ein pastellbunt-gleissender Schauplatz in der texanischen Wüste, das Stück, in Akte unterteilt, wird gespielt. Auch hier öffnet sich die Szenerie immer wieder kurz, überschreitet die Wand zum Publikum, um sich ebenso schnell und kommentarlos wieder zu schliessen. Neben den grellen Pastelltönen kopiert die Kamera eine 50er-Jahre Fernsehästhetik mit vielen seitlichen Kamerafahrten und Bildteilungen. Trotz der Weite der Landschaft ist auch hier immer etwas Beengtes zu spüren.
Vielfalt
Die Geschichte bietet hochbegabte Wunderkinder, gestörte Familienstrukturen, Ausseridische, Cowboys, die am Lagerfeuer singen, oder Schauspielerinnen auf Selbstfindung. Alles wird, frech und forsch, so lange geschüttelt und verwoben, es werden so oft die inneren Grenzen der Geschichten überschritten und verwoben, bis man als Zuschauer nur noch eines tun kann: Sich entspannt des Lebens in Pastell zu erfreuen, und auf die nächste, unerwartete, Wendung warten, gespannt und zufrieden. Ein schöner Film für nasse oder heisse, trübe, graue oder fröhliche Sommerabende, eine Empfehlung. Zurzeit läuft Asteroid City in mehreren Wiener Kinos: In Originalversion zum Beispiel im Filmcasino,Votivkino oder im Haydnkino.
Warum sollte man sich einen Film über Müll anschauen? Und dann auch noch im Kino? Im Fall von Matter Out of place, ist ein Grund der Regisseur: Nikolaus Geyrhalter. Tatsächlich ist es relativ egal, welches Thema Geyrhalter mit der Kamera anschaut, es kommt am Ende ein toller Film heraus. Das ist auch bei seinem aktuellen Film, der letztes Jahr in Locarno den ersten Grünen Leoparden, für Filme, die thematisch der Umwelt dienen, gewonnen hat.
Schöne Wimmelbilder
Seine Filme werden beherrscht von langen, schön komponierten Totalen. Es passiert viel in diesen Bildern, und man hat immer die Zeit, sich alles genau anzuschauen, in sich aufzunehmen.
Egal, ob es die vielen Trucks sind, die sich den Berg hoch zur Mülldeponie schleppen, oder die Seilbahn, die den Müllwagen ins Tal befördert. Müllberge, verursacht von Menschen, beseitigt von einer Ameisengleichen Armee von Menschen. Keine Musik, kein Kommentar, nichts lenkt davon ab, für sich selber zu finden, was der Film zu sagen hat. Und zu sagen hat dieser Film über unser aller Müll eine ganze Menge. Die Verursacher dieser weltweiten Müllhalden sind wir, wir alle.