Die Diagonale nähert sich dem Ende, gleichzeitig wird das Wochenende wohl nochmal ein Zuschauerplus bringen.
Bereist am Morgen ist es beim DokumetarfilmI am the Tirgress von Philipp Fussenegger, Dino Osmanovic ziemlich voll. Die titelgebende Tigerin ist kein Raubtier, sondern eine amerikanische Bodybuilderin Ende 40. Kein glamouröses Leben, sondern täglicher Kampf: Muskelaufbau, der schmerzt, blöde Kommentare zu ihrem Körper auf der Strasse, Rassismus, Shows, bei denen von Anfang an klar ist, wer gewinnen wird, dennoch, aufstehen und weitermachen scheint ihr Lebensmotto zu sein. Und dabei reisst sie die Zuschauer mit, schon von der Leinwand herunter verbreitet sie gute Laune, als sie und das Team am Ende vor der Leinwand stehen, gibt es tatsächlich Johlen und Jubeln. Eine starke Frau, die sich nicht scheut auch Verwundbarkeit zu zeigen, deren Muskeln kein Panzer sind, sondern ihr Mittel zu Selbstakzeptanz.
Wann ist wo Heimat?
Weiyena – Ein Heimatfilm von Weina Zhao, Judith Benedikt. Weina Zhao, gebürtige Chinesin, aufgewachsen in Wien, sucht nach den Wurzeln ihrer Familie, und erzählt dabei die Geschichte Chinas seit dem frühen 20. Jahrhundert. Eine harte Geschichte, die auch in ihrer Familie Spuren hinterlassen hat, und die die Beziehung zu Heimat noch weiter hinterfragt. Ein Film, der über mehrere Jahre hinweg entstanden ist, sehr persönlich und trotzdem sehenswert für Aussenstehende.
Geschichte – Oscarnominiert
Neuere Geschichte, direkt vor unserer Haustür, als Spielfilm verdichtet, personalisiert, so kann man Quo vadis Aida?von Jasmila Žbanić kurz zusammenfassen. Die Bilder sind seit 25 Jahren immer wieder Teil der Fernsehnachrichten: Menschen, die vor der UN-Schutzzone warten, in der Sonne, hilflose UN-Blauhelmsoldaten, das Aufteilen in Männer und Frauen, Busse, die die Gruppen abtransportieren.
Kann man aus dem Massaker von Srebrenica einen Spielfilm machen? Die UN-Dolmetscherin Aida, die in dem Chaos in der UN-Schutzzone neben ihrer Arbeit auch noch versucht, ihren Mann und ihr beiden Söhne zu retten, macht aus Geschichte eine Geschichte. Das ist gut und das ist wichtig. Was neben dem tollen, ausdrucksstarken Spiel von Jasna Đuričić besonders überzeugt, ist die Bildgestaltung. Kamerafrau Christine A. Maier orientiert sich an der Farb- und Lichtstimmung der 90er Jahre Bilder, erschafft dabei Neues und baut das Bekannte nach. Das Ergebnis ist gleichermassen beeindruckend wie auch erschütternd. Die Kriege, besonders die in unserer Nachbarschaft, dürfen nicht vergessen werden, wenn Spielfilme dazu beitragen können, dann ist das gut. In Österreich kommt der Film Ende Juni in die Kinos.
Keine Lobby
Eine ganze Kategorie Filme hat es besonders schwer ausserhalb von Festivals gesehen zu werden, die sogenannten Innovativen- oder Experimentalfilme.
Fragebogen von Antoinette Zwirchmayr, legt im OFF gestellte Fragen aus einem Buch von Max Frisch über statische, stumme, schwarz-weiss Bilder ihres Grossvaters. Antworten gibt es keine. Eine eigenartige Komposition.
film von Marlies Stöger, André Tschinder ist Teil einer Idee, die schon einige Ausführungen hatte: das Erstellen der neuen Kunstform Zu-Realismus. Mit sparsamen, aber intelligenten Mitteln wird das zu-realistische Manifest erklärt.
We’ll always have Paris von Ella Raidel ist ein Spiel mit Erwartungen. Was sehen wir, wenn wir etwas sehen? Und können wir uns immer auf unsere Sinne verlassen? Besonders im Kino sollte man das infrage stellen.
Traces von Stephanie Rizaj, Marvin Kanas verwirrt mit wechselnden Motiven. Einerseits karge Landschaften, dann wieder städtische Oberflächen, Häuser, Risse, Wege, dazu Kinderstimmen, die von Träumen erzählen. Der Reiz dabei: Welchen Reim man sich darauf macht, muss man selber finden.
Ruins in reverse von Olena Newkryta ist ein langes Philosophieren über die politische, ideologische Implikation von Bauruinen. Auch das ist zunächst sehr fremd, aber auch wieder spannend. Filme zum Nachdenken, zum Weiterdenken, die man vielleicht doch auch bei Gelegenheit einem breiteren Publikum zutrauen kann.
Ein ganzer Tag fast ohne Kino, der der persönlichen Virenbekämpfung gewidmet war. Am Abend ist dann doch noch ein Kinobesuch möglich. Durch die automatische Platzvergabe bei der Onlinebuchung entstehen völlig neue Perspektiven in Kinosälen, so sieht der kleine Schubert 2 Kinosaal aus der letzten Reihe fast gross aus, allerdings erscheint die Leinwand dann doch eher winzig. Und, wer hätte das gewusst, in der letzten Reihe gibt es Doppelsitzbänke: Knutschkinositze! Auch der Film des Abends war nicht wirklich geplant, sondern den Reservierungsmöglichkeiten geschuldet.
Rhythmusgefühl
Man muss Thomas Antonic dankbar sein, dass er mit One More Step West Is the Sea: ruth weiss, die Künstlerin und Beatpoetin Ruth Weiss auf die Leinwand bringt, was er dann allerdings aus dem Material dieser grossartigen Frau macht, ist deprimierend. Zwischen 2017 und 2019 dreht er in Kalifornien Interviews, Lesungen, begleitet die 1928 geborene Dichterin. Man sieht eine aktive, frech blitzende alte Dame, die eloquent über Dichtung, Film und Rhythmus spricht. Man hört alte und neue, von Jazz begleitete, Lesungen, alles höchst strukturiert, die Bilder dazu sind es aber nicht. Sie beziehen sich in keiner Form auf den Sprachrhythmus, weder in dem sie ihm folgen, noch indem sie ihm widersprechen – was auch eine Möglichkeit wäre. An vielen Stellen kleben Interviews viel zu nah an Sequenzen mit Lesungen, man stolpert als Zuschauer, kann weder das eine geniessen, noch dem anderen wirklich zuhören. Immer wieder gibt es Verlegenheitsüberblendungen, an Stellen, an denen man ganz entspannt hätte hart schneiden können. Oder es werden Photos von Zeitgenossen der Protagonistin als Bildüberlagerung eingeblendet, aber so kurz, dass man fast keine Zeit hat, zu sehen, wer da im Bild aufflackert. Das alles ist jammerschade! Die Bilder und die Poetin hätten einen besseren Schnitt verdient.
Kurzfilme … ein Versprechen
Am Morgen gleich ein Kurzspielfilmprogramm, vier Filme, die alle Menschen am Rand der Gesellschaft zum Thema haben.
Ein Jugendlicher, der gerne Teil der lokalen Gang wäre, von der er aber nie so wirklich ernst genommen wird, egal was er für sie tut. Dominik Galleya und Clemens Niel zeigen diese Geschichte in tauchen, mit viel Empathie aber auch mit einer Portion absurdem Humor.
Gegen Ende surreal ist Liebe, Pflicht & Hoffnung von Maximilian Conway. Eine Supermarktangestellte, die erst ihren Job verliert, der man den Strom abschaltet, der die Räumung droht, und immer bleibt in ihr ein Schimmer Hoffnung, egal wie fest und schnell die Schläge gegen sie geführt werden. In FABIU von Stefan Langthaler stellt sich ein alter Mann seinen – unterdrückten – Gefühlen, als er statt einer weiblichen Pflegerin für seine Frau einen jungen Mann aus Ungarn als 24-Stunde Pflege bekommt. Sehr schön gedreht, mit vielen extrem nahen Bildern. In Fidibus von Klara von Veegh irrt eine Mutter mit ihrem kleinenSohndurch die Kälte. Ist sie obdachlos, oder läuft sie weg? Der Film spielt mit traumartigen Sequenzen, die lange offen lassen, was wirklich passiert ist. Von allen Regisseuren und Regisseurinnen möchte man gerne mehr sehen.
Reihe eins ist ganz hinten
Das Onlineticket weist aus: Reihe eins, das klingt nicht so toll, aber in der vordersten Reihe angekommen stellt sich heraus, in diesem Kino wird von hinten nach vorne gezählt. Also, auf nach ganz oben, wo vornehme (Kunst)Ledersessel mit extra breiten Armlehen zum fläzen einladen. Auch das ist ein neuer Blickwinkel. Aber recht voll werden die Säle weiterhin nicht, und das liegt nicht an der verminderten Platzzahl, denn die erlaubten Plätze sind nicht alle besetzt.
Dazugehören
Hochwaldvon Evi Romen ist relativ gut besucht, aber dieser tolle Film braucht viel mehr Publikum. Mario gehört irgendwie nirgends richtig dazu, in seinem Bergdorf nicht, in der Stadt nicht, zu anders scheint er zu sein, aber wer er genau ist, das zeigt er auch keinem. Sein bester Freund scheint es besser getroffen zu haben, er kommt aus der reicheren Familie, hat ein Begabtenstipendium bekommen und lebt auch seine Homosexualität unbekümmert aus. Eine Tragödie wirft Mario dann völlig aus der Bahn. Aber es ist nicht die starke Geschichte, die so beeindruckt, sondern die Machart, wie sie visuell umgesetzt ist. Die Figuren haben Raum zu spielen, weil sie nicht in einem Korsett aus Schnitt/Gegenschnitt gefangen sind. Der Schnitt ist rasant, lässt Sprünge zu und bleibt trotzdem absolut im Fluss und der Geschichte treu. Wirklich sehenswert.
Das kann man über Risiken und Nebenwirkungen von Michael Kreihsl nicht sagen. Szenen zweier Ehen, in denen es darum zu gehen scheint, ob man(n) seiner Partnerin eine Niere spendet. Als sich der eigene Mann ziert, willigt der Mann der anderen ein, zu spenden, was wiederum Streit zwischen allen auslöst. Am Ende geht es eigentlich bloss um simple eheliche Untreue. Der Film basiert auf einem (Boulevard)Theaterstück, aber jede Pointe, jedes Tempo fehlt, zudem spielen drei der vier Hauptdarsteller in jeder Szenen so, als würden sie am Ende des Dialogs in schallendes Gelächter ausbrechen. Dabei ist es egal, ob da gerade Ernstes verhandelt wird oder gestritten wird, Gestik und Mimik sind hoffnungslos überzogen. Auch die Wendungen am Schluss funktionieren in dieser lahmen Konstellation nicht wie Pointen, sondern höchstens wie ein müder Witz.
Albträume und Masken
Einmal quer durch Graz zum letzten Film des Tages. Die Hinweisschilder, wo es in den jeweiligen Saal geht, sind nicht immer ganz eindeutig, was dazu führt, dass man auch einfach verträumt vor einer Tür wartet, die sich nicht öffnen wird. Zum Glück klärt sich der Fehler rechtzeitig.
Es wäre sehr schade gewesen, 2551.01 von Norbert Pfaffenbichler zu versäumen. Ein furioser Stummfilm, der eine apokalyptische Unterwelt zeigt, in der sich jede Menge gruseliger Kreaturen mit schauderhaften Masken prügeln, verfolgen, terrorisieren, dazwischen eine affenartig maskierte Figur, die ein vermummtes Kind rettet. Versatzstücke ikonischer Bilder aus Filmen, aus Nachrichten oder von Pressephotos blitzen kurz auf, werden aufgenommen, bilden den Anfang einer Variante. Albträume werden wahr, bewegen sich, lösen sich auf, um gleich im nächsten Raum einen weiteren Albtraum lebendig werden zu lassen. Ein völlig irrer, wunderbarer Film, mit kluger Dramaturgie, sparsamen, aber tollen Toneffekten und einer treibenden Musik.
Die Abende sind lau, die Sperrstunde ist nach hinten verlängert, und so sieht man in und vor Lokalen oder auf Plätzen deutlich mehr Menschen als in den Kinos der Stadt, wirtschaftlich wird diese Diagonale vermutlich nicht so gut abschneiden.
8:31 am ersten regulären Festivaltag, seit einer Minute ist es möglich, sich für den kommenden Tag Karten zu reservieren, und für die Abendvorstellung gibt es schon keine Plätze mehr. Gut für die Bilanz des Kinos, schlecht für mich.
10:20 vor dem ersten Kino, nicht viel los, dafür werden Impfnachweise oder Tests kontrolliert, der Eingang in den Saal wurde um die Ecke verlegt, damit die Kontrollen – hier Gesundheit, dort Ticket – getrennt ablaufen können.
Kabelsalat
Nur insgesamt 20 Zuschauer finden sich im Kino ein, um Bitte warten vonPavel Cuzuio zu sehen. Das ist wirklich sehr schade, der Film verdient auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit. Der Dokumentarfilm begleitet vier Teams von Telekommunikationstechnikern am äusseren östlichen Rand Europas bei ihrer Arbeit. Ganz am Anfang werden einmal die Orte: Bulgarien, Moldavien, Rumänien und die Ukraine, eingeblendet, danach folgt Pavel Cuzuio den Teams und dem Rhythmus ihrer Arbeit. Sie entwirren Kabelsalat, richten Internetverbindungen auf altmodischen Rechnern neu ein, reparieren vorsintflutlich erscheinende Telephone. Alles im Dienst der Kommunikation, wobei die hauptsächliche Kommunikationsebene, der direkte Austausch, von Mensch zu Mensch stattfindet. Der Film vermischt unbekümmert Orte, Schauplätze und Kunden, ist dabei aber immer dem Schnitt und seinem Fluss verpflichtet. Daraus entsteht ein witziger, pfiffiger Dokumentarfilm, den es wirklich zu sehen lohnt.
Innovativ – Experimentell
Nach kurzer Pause geht es zum Programm innovatives Kino, der Saal ist schon deutlich voller als am Morgen. Die ersten drei Filme des Programms zeigen Varianten von Stoppmotion und Motioncontrol, jeder auf seine Art spannend.
Es ist genau genug Zeit ist ein Filmgewordenes Daumenkino, das Vermächtnis des 12-jährigen Oskar Salomonowitz, fertiggestellt von dessen Vater Virgil Widrich. In nur zwei Minuten entfaltet sich ein Strichmännchen-Actionfilm mit viel Witz und Herz. O von Paul Wenninger ist ein ausgeklügeltes Werk aus vielen Bildebenen, in denen ein Raum um einen Protagonisten kreist, immer schneller, immer abgefahrener. Eine, auch technisch, spannende Arbeit.
Auch Warten von Bernd Oppl arbeitet mit Stoppmotion und ganz unmerklichen Veränderungen im Bildausschnitt, es entsteht eine Geschichte des Wartens, der Zeit, des Verfalls. Imperial Irrigation von Lukas Marxt ist eine Art experimenteller Dokumentarfilm. Marxt mischt verfremdete Photos mit zerhackt wirkenden Bewegtbildern, fügt unheimlich anmutende Geräusche hinzu und rundet alles mit einer monotonen Erzählstimme ab. Mit diesen verfremdenden Mitteln entsteht das Bild einer zerstörten, vernarbten Landschaft in Kalifornien, das ist informativ und auch irgendwie sehr unheimlich.
Die Pandemie betrachten
Während maskierte Gesichter mittlerweile zum Alltag geworden sind, man wie selbstverständlich vor jedem Kaffee einen Beleg der eigenen Gesundheit vorweist und sich namentlich registriert, sind Filme über die Pandemie immer noch eher selten. Kristina Schranz‘ Abschlussfilm Vakuumzeigt den Verlauf der Pandemie im Burgenland, vom ersten Lockdown über das erste Öffnen und in den zweiten Lockdown. In statischen Totalen zeigt sie den Stillstand, die Leere, Menschen, die am Anfang des ersten Lockdowns aufräumen, organisieren, aber im Lauf der Zeit auch deutlich mutloser werden. Die Bilder, die Ausschnitte sind klug gewählt und spannend, schade nur, dass bei den Interviews dann auch kein Material vorhanden ist, um zu schneiden, so springen eben die Köpfe hin und her, was, egal wie man das künstlerisch findet, immer vom Inhalt des Interviews ablenkt. Trotzdem: ein spannender erster Langfilm.
Lieblingsplätze adé
Durch das entzerrten Programm kann man tatsächlich nur 4 Projektionen pro Tag sehen, da bleibt Zeit zwischendurch in die Sonne zu blinzeln, die Maske abzunehmen, sogar etwas in Ruhe zu essen, statt zu schlingen. Auch das sonst eher übliche Rennen von einem Kino zum nächsten entfällt. Das Anstehen an der Kasse, um reservierte Tickets abzuholen, entfällt, statt dessen müssen die Plätze eine Stunde vorher nochmals online bestätigt werden. Allerdings fällt auch weg sich auf den persönlichen Lieblingsplatz zu setzten, zum Beispiel irgendwo im vorderen Drittel am Rand, das Onlinesystem weist Plätze zu, gnadenlos.
Diagonale entschleunigt. Also, ausser wenn es um das Reservieren von Tickets geht.
Motorengeheul
Für Motorcity von Arthur Summereder hätte es angeblich auch keine Karten zu reservieren gegeben, aber das Kino ist weit davon entfernt, voll zu sein, und das nicht nur, weil jeder zweite Platz frei bleiben muss. Summereder erzählt Detroit, die Stadt der Autos, der Motoren, aber nicht anhand der Automobilindustrie, sondern in dem er Fahrern und Fahrerinnen von Dragraces, also Beschleunigungsrennen, folgt. Obwohl der Film schräge und interessante Protagonisten, röhrende Motoren und abgeriebenes Reifengummi zeigt, fehlt ihm über die Dauer eine sinnvolle Struktur. Da hilft auch der etwas elegische, wenn auch sehr persönliche, Off-Text, oder die diversen Archivfilme der Autoindustrie nicht, die Dramaturgie hakt.
Ein erster Festivaltag endet, er endet früh, draussen ist es noch nicht mal richtig dunkel, aber Kino gibt es für den Tag nicht mehr. Die Laune in Graz ist dennoch gut, es ist eben alles etwas gemütlicher als sonst.
Nach einem Jahr (Zwangs)Pause ist die Diagonale zurück in Graz. Und diesmal, durch die Verlegung von März auf Juni, bei wahrhaft sommerlichen Temperaturen. Die österreichische Filmbranche versammelt sich, ob die Beschränkungen der Stimmung schaden werden, wird sich zeigen.
Ein bisschen neu
Das Festivalzentrum ist, statt im knuffigen Kunsthaus, in eine ehemalige Schuhgeschäftsfiliale gewandert, und schon bevor es richtig losgeht, ist eines klar: Das wichtigste Werkzeug wird ein gut geladenes Smartphone sein. Karten reservieren ab 8:30 am morgen für denselben – oder den Folgetag, diese müssen dann aber am Tag selber jeweils eine Stunde vorher nochmals bestätigt werden. Mal sehen, wie das klappt. Die Karten sind personalisiert und mit zugewiesenem Sitzplatz, um so allen Pandemieregeln zu gehorchen. Masken und Test – oder Impfnachweise sind selbstverständlich auch verpflichtend. Partys und abendliche Treffen gibt es dieses Jahr keine, also auch keine Party nach der Eröffnung. Die Rahmenveranstaltungen sind sehr reduziert und auch dazu muss man sich anmelden, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Gegen Mitte der Woche sollten die Öffnungszeiten der Gastronomie von 22 auf 24 Uhr verlängert werden, auch hier: mal sehen wie das funktioniert.
Die Eröffnung
Der Vorraum zum Saal erscheint leer, kleine Grüppchen trudeln ein, es gibt keine Bar, das sieht irgendwie trostlos aus.
Als der Saal sich dann langsam zu füllen beginnt, sieht die Sache schon etwas besser aus, denn obwohl jeder zweite Platz frei bleiben muss, ist die Eröffnung gut besucht. Anbetracht der frühen Sperrstunden fällt die Rede der Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber eher kurz aus, allerdings nicht ohne zu betonen, dass nicht die Kultur darnieder lag (und liegt), sondern die Kunst.
Kunst ernst nehmen
Vonseiten der Bundespolitik glänzt der grüne Vizekanzler und Kulturminister mit Abwesenheit, lokale, also steierische, Politiker sind dagegen sehr wohl unter den Gästen, genau wie die Wiener Kulturstadträtin. Es wundert schon immer wieder, wie wenig die österreichische Bundespolitik sich um die Belange der Filmkunst kümmert. Die Diagonale ist schliesslich nicht irgendein kleines lokales Filmfestchen, sondern die Leistungsschau des österreichischen Filmschaffens, das ist sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell durchaus bedeutend.
Der erste Film
Fuchs im Bau von Arman T. Riahi lief bereits in Saarbrücken, wo er mehrere Preise, darunter den für die beste Regie, gewann. Jetzt also in Graz die Österreich Premiere. Was an diesem Film als erstes begeistert, ist das Spiel der Bilder in immer unübersichtlich bleibenden Räumen. Egal, ob im Jugendgefängnis oder in einer Wohnung, immer scheinen Wände, Gitter, und Ecken den Durch- und Überblick zu verhindern, oder zumindest zu erschweren. Eine Unruhe steckt in dieser verschachtelten Bilddramaturgie, eine Unruhe, die sich auch im Klassenzimmer der Haftanstalt fortsetzt. Ein abgeschlossener Ort, Jugendliche mit hohem Aggressionspotential, Justizbeamte, die die Jugendlichen am liebsten nur verwahren würden, und zwei Lehrer, die versuchen es besser zu machen, als das System es vorsieht. Das alleine hätte schon genug Potenzial für eine packende Geschichte. Aber so wie im Bild hinter jeder Ecke eine unerwartete neue Wand auftaucht, stecken in den Figuren Geschichten und Geheimnisse, die alles vielschichtiger werden lassen. Dass diese Hintergründe der Figuren am Ende nicht restlos auserzählt werden, ist eine weitere Stärke des Films. Hinzu kommt ein fabelhaftes Darstellerensemble, allen voran die junge und unglaubliche Luna Jordan, die mit ihren Wechseln von fast autistisch zu explodierend aggressiv beeindruckt. Fuchs im Bau läuft ab kommender Woche in österreichischen Kinos.
Bier to go
Statt einer Feier nach dieser gelungenen Premiere, gab es eine lustige Zuschauerchoreografie, um den Saal – regelkonform – wieder zu verlassen, und Getränke „to go“ für den Heimweg. Aber vielleicht ist das auch jammern auf hohem Niveau, immerhin gab es einen Saal voller Zuschauer, einen tollen Film und einen ersten Festivalabend.
Nach Monaten ohne Kino und noch mehr Monaten ohne physisch stattfindenden Filmfestivals kommen Filme jetzt endlich zurück auf die Leinwände und zu physisch anwesendem Publikum. Kommende Woche startet in Graz die Diagonale, in Kinos, mit Publikum, mit Masken und Abstand und weniger Plätzen pro Vorstellung.
Onsite statt online!
Die Vorstellungen sind zeitlich etwas entzerrt worden, sodass zwischen zwei Vorführungen die Säle gelüftet werden können. Reservieren wird zur Pflicht, wobei, das galt eigentlich ja schon immer. Aber oft standen dann doch grosse Menschentrauben vor den Kassen, in der Hoffnung doch noch, ohne Reservierung, einen Platz zu ergattern. Wie das also dieses Jahr aussehen wird, muss man sehen. Auch wie leicht man, zum Beispiel als Akkreditierter, an Karten kommt, wird sich zeigen. Bei vielen Festivals muss man in der Minute, in der die Reservierungen freigeschaltet werden, auch schon reservieren, weil sonst schon nichts mehr geht.
Sperrstunde
Die beiden Festivalleiter Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger, kürzlich für ein weiteres Jahr im Amt verlängert, versprechen auf jeden Fall eine spannende Diagonale. Auch wenn die, bis mindestens 10. Juni geltende, Sperrstunde um 22 Uhr für ein entspanntes Miteinander während des Festivals sicher eine Herausforderung werden wird.
Schliesslich geht es bei der Diagonale, genau wie bei allen Festivals, auch darum, sich auszutauschen, das Gesehene zu besprechen, Kontakte zu knüpfen oder zu vertiefen. Aber trotz all dieser Fragen, es ist eine grosse Freude wieder an einem Festival teilnehmen zu können, wieder in Kinosälen zu sitzen, statt einsam am Computer zu Hause.
Eröffnet wird die Diagonale am 8. Juni mit Arman T. Riahis Fuchs im Bau.
Endlich wieder Kino, endlich wieder eine Verabredung, um gemeinsam einen Film in einem dunklen Saal, auf einer grossen Leinwand anzuschauen!
Dem Kinobesuch stehen nur noch zwei Kleinigkeiten im Weg: Kartenkauf oder Kartenreservierung online und die von der Regierung vorgeschriebenen und werbetauglich formulierten 3Gs. Heisst, man muss geimpft, getestet oder genesen sein – und dann öffnet sich auch schon die Tür zum Kinoglück.
Menschenmassen meiden und Masken tragen
Im Kino wird dann schnell klar: was bei der Onlinereservierung ausverkauft heisst, ist noch lange kein voller Saal. Neben jeder Zuschauereinheit bleibt ein Platz frei, im Saal herrscht Maskenpflicht. Trotzdem die erste Vorstellung des Oscargewinnerfilms Nomadland ist sehr gut besucht, und das an einem Donnerstag um 17:30.
Über Chloé Zhaos Film ist mittlerweile schon fast alles gesagt und geschrieben worden, trotzdem hier einige Gründe, warum es sich lohnt, diesen Film anschauen zu gehen. Dem Film gelingt der Spagat zwischen dokumentarischer Erzählung und Spielfilm. Ausschlaggebend für dieses Gelingen ist einerseits die wunderbare Frances McDormand, der man vermutlich auch beim Vorlesen einer Speisekarte fasziniert zuschauen würde, und der, mit viel Feingefühl aus Schauspielern und Laien zusammengesetzten, Darstellerriege. Eine weite, urwüchsige Landschaft, ungeschminkte Gesichter und Geschichten, die berühren, ergeben einen Film, der alle bisherigen Preise und Lobpreisungen verdient hat.
Rhythmisch ins Präkariat
Eine weitere Stärke des Films ist sein langsamer, aber nie schleppender Erzähl- und Schnittrhythmus. Auch hier bewegt sich die Geschichte zwischen wahr und erfunden, verdichtet und bleibt doch nah an wahren Begebenheiten und zeichnet so ein Bild der USA, das in dieser Art nicht oft gezeigt wird. Der Ausverkauf der amerikanischen Mittelschicht, der das Haus, die Heimat unterm Hintern wegrationalisiert wurde, und die sich mit fast verbissenem Pioniergeist zur Wehr setzt. Selbst wenn dieses Zurwehrsetzen nur darin besteht, von einem Saisonjob zum nächsten zu ziehen. Allein der Einsatz der Musik stört etwas, als hätte Zhao der emotionalen Kraft ihrer Bilder nicht recht getraut, und so erhebt die Musik den Zeigefinger und weist darauf hin, dass es jetzt gerade traurig zugeht, das wäre nicht nötig gewesen.
Die Infektionszahlen sinken in Österreich, der Politik fällt kein Grund mehr ein, Öffnungen zu verschieben. Und so wird, mit einem lauten Paukenschlag, am Mittwoch, dem 19. Mai alles wieder geöffnet und erlaubt, das die letzten Monate geschlossen und verboten war. Alles? Alles! Restaurants und Cafés, Sportstätten, Freibäder, Theater und Kinos.
Die Vorgaben, die umzusetzen sind, sind allerdings komplex und zum Teil kompliziert, alleine die diversen Testformen sind von Bundesland zu Bundesland verschieden. Einheitliche Nachweise sind (noch) nicht vorhanden, wie das also vor den Restauranttüren und den Kinokassen aussehen wird, kann man nicht sagen. Die Kinos sehen sich auf jeden Fall gerüstet: Masken, Kontrollen, Abstände, Belüftung, alles sollte problemlos funktionieren.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Als vor ein paar Wochen, gleichzeitig mit allen Geschäften, die mehr als nur sogenannt Notwendiges verkaufen, auch die Museen wieder öffnen durften, war der Ansturm sofort enorm. Vor den meisten Museen gab es – und gibt es weiterhin – Warteschlangen. Der Hunger auf Kunst, auf Kunst anderswo als in den eigenen Vierwänden, scheint gross. Das ist gut, denn alle Kunstbetriebe werden viel Publikum und Zulauf brauchen, um den Verlust der letzten Monate irgendwie auszugleichen.
Was wird gezeigt?
Mit dem Öffnen allein ist es natürlich nicht getan. Zwar liegen ausreichend Filme „auf Halde“, aber sind sie auch verfügbar? Filmverleih funktioniert ja grösstenteils international, wenn also nur in Österreich Kinos wieder spielen dürfen, werden die internationalen Produktionen dann gezeigt werden können, oder warten die Verleiher lieber auf den ungleich grösseren Markt zum Beispiel in Deutschland?
Zeit für einen Blick auf einige Wiener Kinos
Das Admiralkino in der Wiener Burggasse hat in den letzten Monaten etwas renoviert und ist jetzt gut gerüstet für den Start am Mittwoch. Die Vorgaben, neben der Kontrolle des Test- oder Impfstatus, sind im Wesentlichen dieselben wie vor dem letzten Komplettlockdown: Abstand, Maskenpflicht, Registrierung. Damit das am ersten Abend reibungslos läuft, plant Michaele Englert am Vorabend einen internen Probelauf. Eröffnet wird dann mit: Waterproof von Daniela König und Emavon Pablo Larrain.
Im ehrwürdigen Burgkinowird es eine persönliche Auswahl der 10 besten Filme der letzten 20 Jahre geben, am Eröffnungsabend: MulhollandDrive von David Lynch.
Das Stadtkino eröffnet mit Federico Fellinis 8½ und startet dann mit dem österreichischen Film Ordinary Creatures von Thomas Marschall.
Schwerer als die Programmkinos haben es die Kinoketten, denn die grossen „Popcorn Produktionen“ stehen wohl erst zur Verfügung, wenn in andern Ländern auch mit Öffnungen zu rechnen ist. So öffnet das Artis Kino zum Beispiel vorerst noch nicht.
Wünsche und Träume
Das Admiralkino hätte übrigens am liebsten mit dem Oscar Gewinnerfilm Nomadland eröffnet, aber dieser Start ist noch etwas verschoben. Man wird also auf einige grössere internationale Produktionen weiterhin warten müssen. Aber vielleicht kann diese Zeit genutzt werden, um das reichhaltige europäische Arthouse – und Dokumentarkino auf die Leinwände zu bringen.
Bleibt also, allen Kinos einen tollen Neustart zu wünschen, allen Zuschauern viele inspirierende Kinoerlebnisse und uns allen, dass das Licht auf den Leinwänden so bald nicht wieder ausgeht.
Die letzten Filme vor der abendlichen Preisverleihung, oder eher Preisbekanntgabe, denn auch hier sind, trotz moderater Öffnung, die Filmemacher ausschliesslich per Video-Stream zugeschaltet.
Das Problem der Untertitel bei Experimentalfilmen
In Non-Stop von Aitziber Olaskoaga soll das Nichtsichtbare gezeigt werden, ohne es zeigen zu dürfen, ohne Bilder, ohne Interviews, nichts findet statt.
Der Film versucht das auf experimentale Weise zu thematisieren. Ein Hochsicherheitsgefängnis der spanischen Nach-Franco-Zeit zu zeigen, zu hinterfragen, endet darin zu zeigen, dass man nichts zeigen darf. Das Problem, vieles, das ungezeigt bleibt, wird beschrieben, auf Baskisch, im Off. Während meistens weite Landschaft oder ein ratloses Team zu sehen ist.
Das mag, wenn man Baskisch versteht, funktionieren, weil zwei Sinne angesprochen werden, Hören und Sehen, und im Zuschauer ein Bild mit Mehrwert entstehen kann. In einer untertitelten Version scheitert das Konzept; Untertitel und Filmbilder beschäftigen gleichzeitig den Sehsinn, das Suggestive verschwindet. Schade.
Schwer zu sagen, wie dieses Problem, also die Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit, Untertitel zu lesen, und der Idee der Filmemacher, zu lösen ist. Untertitel sind im Allgemeinen ja eine gute Sache, Filme sollen auf jeden Fall in ihren Originalversionen angeschaut werden. Aber in einigen Grenzbereichen funktioniert das Konzept der Filme plötzlich nicht mehr und lässt ratlose Zuschauer zurück.
Klassisches Dokumentarkino
Dann noch zwei ganz klassisch gestaltete Dokumentarfilme, die Empathie und Interesse des Zuschauers zu wecken verstehen:
My Place Is Here (Io resto) von Michele Aiello zeigt in ruhigen, klaren Bildern den Alltag in einem Krankenhaus in Brescia im März 2020. Die Kamera beobachtet, und zeigt die Ruhe und Präzision, mit der auf der Covid Station gearbeitet wird, mit wieviel Zuwendung, trotz der vielen Arbeit, die Patienten behandelt werden. Und trotzdem erkennt man den Alptraum, in dem alle, Kranke wie Ärzte und Pflegende, sich bewegen: Bilder wie aus einem alten Science-Fiction-Film.
Die Schönheit des Verwelkenden zeigen Svetlana Rodina & Laurent Stoop
inOstrov – Lost Island. Die Insel Ostrov im Kaspischen Meer ist ein versunkenes, verwildertes Paradies. Die paar Hundert Bewohner, Verlierer nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, leben von illegalem Fischfang und am Rand des Existenzminimums. Während die Älteren Putin verehren, in dem sie die Verkörperung einstiger Grösse der Sowjetunion sehen, schauen die Jungen verloren in eine komplett ungewisse Zukunft. In wunderbaren Bildern erzählt der Film von dieser fremden Welt.
Zu guter Letzt
Den Hauptpreis der 52. Ausgabe von Visions du Réel bekam Jessica Beshir für ihren Film Faya Dayi. Ein episches, assoziatives Gedicht in wunderbaren Schwarz-Weiss Bildern. Bei aller Schönheit zeigt der Film den Verlust, den eine Gegend erfährt, wenn Gewalt, nachlässige Politik und schwindende Ressourcen vorherrschen, und dann Drogen, Mythen und (Aber)Glauben um sich greifen. Der Kath-Anbau und – Handel führt in Äthiopien zu einer um sich selbst kreisende Pseudowirtschaft, in der der einzelne entweder versinkt oder sich durch Flucht versucht zu entziehen; beides gefährlich.
So endet diese Hybrid-Ausgabe in Nyon auf einer düster verträumten Note, bleibt zu hoffen, dass im kommenden Jahr alle wieder in die Kinos kommen können.
Sich selbst zum Thema machen, die eigenen Befindlichkeiten offen legen, eigene Fragen öffentlich machen, nach Lösungen suchen vom Privaten ins Öffentliche, das kann reizvolle Dokumentarfilme ergeben, oder fatal daneben gehen. So weit ging das bei den bisherigen Filmen eher recht gut.
Um sich selbst kreisend
My Quarantine Bear von Weijia Ma Ein gefilmtes Quarantänetagebuch der chinesischen Animantionsfilmerin. Die ersten Pandemiemassnahmen überraschen die Regisseurin in Frankreich, der Weg zurück nach China erinnert an einen Science-Fiction-Film. Am Anfang etwas zäh, nimmt der Film dann aber Fahrt auf, wird komödiantisch und phantasievoll. Und so reihen sich schräge Selbstaufnahmen an eigentümliche Blickwinkel und werden mit Stopptrickanimationen kombiniert. Zwei Wochen im Hotelzimmer in Shanghai: Warten, essen, weiter warten, aber eben auch kreativ sein, das 35 minütige Ergebnis kann sich sehen lassen.
Stefan Pavlović geht in Looking for Horses noch mehr in die Tiefen der eigenen Person. Als Kind bosnischer Eltern, aufgewachsen in Holland und Montreal, findet sich der Regisseur in der Heimat seiner Familie seltsam sprachlos. Der Film ist das sehr intime Portrait einer ungewöhnlichen Annäherung. Er trifft auf einen alten Mann, der auf einem See in Bosnien fischt, auf einem Inselchen lebt und eigentlich keine sozialen Kontakte haben will. Die Kamera, als wesentlicher Akteur des Films, die über Sprachlosigkeit und Sprachdefizite hinweghilft. In weiten Teilen ein sehr schön und stimmungsvoll gedrehter Film, der eventuelle ein wenig gerafft hätte werden können.
Menschenskind! von Marina Belobrovaja stellt Fragen nach Familie und Verantwortung. Kinderwunsch und Wunschkind, aber hat man als Mutter das Recht, sich ein Kind zu wünschen, auch ohne Partner? Und was für Rechte hat dann das Kind? Allen diesen Fragen geht die Regisseurin nach, denn ihre Tochter ist ein Wunschkind von einem Vater, den sie, und der sich, nur als Spender sieht. Verschiedene Familienkonzepte und wechselnde Sichten auf ein komplexes Thema und, natürlich möchte man sagen, keine klare Antwort, aber viele Denkansätze.
Heilen und zerstören
Marie-Eve Hildbrand reiht in Les Guérisseurs Heilende aneinander.
Einen Arzt unmittelbar vor der Pensionierung, Medizinstudenten, Alternativmediziner und sogar Pflegeroboter kommen vor. Aber ein echtes Konzept sucht man in diesem Film vergeblich. Der alte Arzt ist souverän und liebevoll, egal ob er gerade einen Säugling impft oder einer 93-jährigen Frau den Blutdruck misst, einige der Studenten werden von Zweifeln geplagt, die aber nur teilweise mit ihrem künftigen Beruf zu tun haben. Und so reihen sich Szenen, Situationen im Berufsleben aneinander, ohne dass sie in irgendeiner Form in Beziehung zueinander treten. So bleibt der Film etwas blutleer und der Zuschauer etwas ratlos.
Klarer sind die Kontraste und die Positionen in Bellum – The Daemon of War von David Herdies & Georg Götmark. Krieg und was aus ihm werden kann. Der Film kontrastiert amerikanische Veteranen und eine „Kriegsphotographin“ mit schwedischen Entwicklern der neuesten Generation von Waffen. Während sich die einen, trotz verschwommenem Heroismus, eingestehen, dass die Kriege, in denen sie waren, sie zerstört haben, spielen die anderen sich als wissenschaftliche Götter auf. Dickliche Mittvierziger, die nichts dabei finden, mithilfe künstlicher Intelligenz immer ausgefeiltere Waffen zu entwickeln, immer nach dem Motto: was machbar ist, muss auch gemacht werden. Dazwischen, die Praktiker real ausgeführter Kriege. Man muss schon abgebrüht sein, um sich dem Zynismus zu entziehen.
Was Krieg und Waffen anrichten, kann man seit Jahre in Syrien sehen.
Einen Blick auf eine oft vergessene Gruppe des Konflikts zeigt Little Palestine (Diary of a Siege) von Abdallah Al-Khatib. Das Viertel Yarmouk in Damaskus ist seit 1948 Zufluchtsort für palästinensische Flüchtlinge, während des Bürgerkriegs in Syrien haben Assads Truppen das Viertel zwei Jahre lang abgeriegelt, belagert, die Bevölkerung ausgehungert und bombardiert. In diesen Jahren filmt Abdallah Al-Khatib den Alltag, ungeschönt und manchmal schmerzhaft rau. Während am Anfang noch eine fast trotzige und aufgewühlte Stimmung herrscht, weicht im Verlauf der Zeit und des Films jegliche Hoffnung, ein schneller Tod durch Waffen wird dem langsamen durchs Verhungern vorgezogen. Eine weiterer deprimierender Aspekt des entsetzlichen Konflikts in Syrien.
Wann ist ein Film ein Film
Reicht es, eine schwarze Leinwand zu zeigen und einen Off-Text daraufzulegen? Und wenn ja, wie viel schwarze Leinwand mit Off Text ist noch tolerierbar und ab wann wäre die Geschichte im Radio besser aufgehoben?
Und sollte ein Film nicht durch seine Bilder und deren rhythmische Abfolge seine Geschichte erzählen, statt durch Katalogerklärungen, Texteinblendungen oder epische Off Texte?
Nicolás Zukerfeld macht es einem mit There Are Not Thirty-six Ways of Showing a Man Getting on a Horse schwer diese Frage schlüssig zu beantworten. Die erste Hälfte des knapp einstündigen Films ist pures Filmvergnügen. Eine rasante, intelligente Montage von Szenen aus Raoul Walsh Filmen – dem das titelgebende Zitat zugeschrieben wird – wirft einen witzigen und erhellenden Blick auf die Filmkunst. Dass der Regisseur und Filmprofessor diese Montage eigentlich nur auf sich genommen hat, weil er herausfinden wollte, ob das Zitat erstens echt ist, und zweitens nicht ohnehin heissen müsste „… keine fünf Arten, ein Zimmer zu betreten“, erfährt man dann in der zweiten Hälfte des Films. Allerdings nicht in Bildern, sondern in einem, wenn auch witzig erzähltem, Monolog über die Recherche des Regisseurs: als Off Text auf Schwarz.
Agustina Wetzels Film, Outside the Coverage Area, will politisch sein, will womöglich auch originell sein, bleibt aber weitgehend unverständlich. In Splitscreen parallel laufende Bilder, einerseits gehende Beine, andererseits Googlemap Bilder, sollen die Abgrenzung von virtueller und realer Welt darstellen. Sofern man das aber nicht in der Katalogbeschreibung liest, erschliesst sich das Konzept nicht. Auch hier bleibt sehr viel Leinwand – oberhalb und unterhalb der (Lauf)Bilder– schwarz, dazu Off Texte – oder sind es nur zufällige Atmos? – die Untertitel so winzig, dass man kaum erfassen kann, ob der Inhalt überhaupt eine Bedeutung hat.
Träumen
Sortes von Mónica Martins Nunes Wilde schöne Landschaften im Süden Portugals, eine Gegend, in der immer weniger Menschen leben und leben können, und doch so schön, dass man gleich seine Koffer packen möchte, um hinzufahren. Die schönen, ruhigen Bilder, nur untermalt von Geräuschen oder Gedichtzeilen, laden zum Tagträumen ein.
Statt Licht und Weite, Dunkelheit und die Enge des 4:3 Bildformates in: Groupe merle noir von Anton Bialas. Mit einem perfekten Gefühl für Schnittrhythmus und Bildgestaltung, zeigt der Film eine Gruppe Menschen in einem leeren, anscheinend stromlosen, Haus. Ein reduzierter Alltag, der etwas schwermütiges hat, begleitet von Stille und stiller Wut. Selbst am offenen Feuer scheinen die Bilder kalt, bläulich zu sein und die Stimmung im Haus zu reflektieren. Keine Erklärung, aber genug Raum, um als Zuschauer die Leerstellen mit eigenen Ideen zu füllen, wäre der Film eine Geschichte dann von Gogol oder Dostojewski. Update: auf der Webseite der Filmproduktion, wird der Film als „Fiktion“ ausgewiesen, Schauspielernamen inklusive! Wie er es trotzdem in ein Dokumentarfestival geschafft hat, bleibt rätselhaft.
Verwandlungen
In Radiograph of a Family von Firouzeh Khorovani wird Geschichte erfahrbar. Der sehr starker Film, in dem anhand der Familiengeschichte der Regisseurin die Geschichte Irans von Mitte der 60er Jahre bis heute erzählt wird, begeistert auch durch seine Form. Die Collage aus Familienphotos, altem Filmmaterial und immer wieder dem Wohnzimmer im Elternhaus, das durch unterschiedliche Möblierung den Wechsel unterstreicht, ergibt eine einzigartige Stimmung. Die beiden gegensätzlichen Pole des Irans, hier weltoffen und laizistisch, dort verschlossen und religiös, spiegeln sich im weltlich orientierten Vater und der immer mehr in die Religiosität eintauchenden Mutter wider. Es entsteht ein Riss, der durch die Familie und durch das Land geht. Eine Geschichtsstunde, die mitreisst.
Völlige Ruhe herrscht in Spare Parts von Helga Rakel Rafnsdóttir. Isländische Sommerlandschaft, tiefer, weiter Himmel, malerische Wölkchen, ein paar Schafe, wortkarge Menschen und ein Gespür für Schrott. Ein Autofriedhof voller Schätze, aus manchem Teil wird durch wissendes Basteln ein neuer Badeofen für einen ausrangierten Pool, eine andere Maschine spröttert beeindruckend vor sich hin. Sonst ist nichts passiert in diesem sommerlichen Fleckchen isländischer Natur, aber das ist sehr schön gefilmt und gestaltet.
Kino verführt zum Träumen, auch vom Sofa aus. Vielleicht also doch mal eine Reise nach Island ins Auge fassen.
Wer auch immer behauptet, Online sei das neue Kino, hat entweder ein eigenes Kino zu Hause, hat noch nie über mehrere Tage online Kinofilme angeschaut oder geht einfach nicht gerne ins Kino.
Seit letztem Jahr sind zwar die Zugänge und Plattformen professioneller geworden, Spass macht das alles trotzdem nur bedingt.
Spätestens wenn auch der 5. Film mit Fuss- oder Basketballgeräuschen unterlegt zu sein scheint, ist das Computer-Heimkino „unten durch“.
Egal wie gut und wichtig die diversen Online-Ausgaben von Festivals sind:
Filme gehören ins Kino.
Das gesagt, gilt es im Online-Katalog nach den Filmen zu suchen, die bereits freigeschaltet sind. Auf der Seite für Akkreditierte nicht ganz einfach, da man die Information, ob ja oder nein, erst bekommt, wenn man den Film angeklickt hat. Wenn nicht, heisst es zurück zum Start, Katalog aufrufen, Sektion anwählen, weiter suchen. Fündig geworden!
Kurzes zur Familie
L’huile et le fer von Pierre Schlesser Hände, Eisen, Maschinen, Menschen, harte Arbeit, der man erst entkommt, wenn man in Rente geht, sofern man diese ersehnte Zeit der Ruhe je erreicht. Der Lärm, die Bewegungen, das Eisen, die Gefahr, der Geruch, aus all diesen Komponenten setzt sich für den Regisseur die Erinnerung an seine Kindheit, seinen Vater zusammen. Ein Leben, dem er entflohen ist, dem er nun als Fremder gegenübersteht, mit nichts als den Erinnerungen und der Wut, dass die Arbeit, die Maschinen, seinen Vater verschluckt haben. Bildlich und rhythmisch sehr schön gestalteter Film.
Nah und doch fern ist die Mutter inDon’t Hesitate to Come for a Visit, Mom (Priezjai k nam v gosti, mama) von Anna Artemyeva. Das Smartphone ist die einzige Verbindung zwischen einem kleinen Mädchen in Russland und ihrer, in einem nicht näher benannten Ausland, studierenden Mutter. Sie spielen, sie singen, sie frühstücken miteinander, die Mutter singt ihr Kind in den Schlaf, aber die kleine will einfach nur, dass alle wieder zusammen sind.
Fehlendes und Verluste
In La Disparition de Tom R. geht Paul Sirague dem Verschwinden in einer kleinen belgischen Stadt auf den Grund. 1997 verlässt Tom R. seine Stammkneipe und wurde seit dem nie mehr gesehen. Der Film zeigt in 18 vergnüglichen Minuten das Nichtvorhandene in verträumt-lyrischen Bildern, die das Trostlose zelebrieren. Sehr schön.
27 Schritte braucht man, um die Wohnung von Andrea Schramms Eltern zu durchmessen, jetzt ist sie leer, ein Abschied.
Am ersten Tag des Lockdowns kommt der Vater der Regisseurin ins Krankenhaus, dort stirbt er. Wenn übliche Trauerrituale plötzlich nicht möglich sind, braucht es andere, neue Wege. In schwarz-weissen Stillleben der elterlichen Wohnung, mit einer Toncollage aus Anrufen von Freunden und Verwandten, die Stimme der Mutter, brechend, die Tochter, stützend, bis sie selbst die Stütze nicht mehr sein kann. Eindrücklich.
Dass Familien nicht an einem Ort leben, ist nichts spektakulär neues, aber wenn es gilt, Probleme zu lösen, wird diese Distanz zu einer zusätzlichen Belastung.
Nikola Ilić & Corina Schwingruber Ilić zeigen das in ihrer Langzeitbeobachtung Dida. Familienbande zwischen Luzern und Belgrad, zwischen Ilić‘ Mutter, die aufgrund ihres kindlichen Geisteszustands eigentlich nicht alleine sein kann, und dem eigenen, neuen Leben in der Schweiz. Und so pendelt das Regiepaar zwischen beiden Welten hin und her und versucht Leben, Liebe, Verantwortung und Unabhängigkeit irgendwie auf einen Nenner zu bringen. Sehr liebevoll gemacht. Man kommt den Personen, den Problemen nahe, ohne sich dabei als Voyeur zu fühlen.
Liebe vielleicht
Datingplattformen boomen nicht erst seit den weltweiten Lockdowns und Abstandsverordnungen, aber sie werden womöglich gerade noch wichtiger, fehlen doch die meisten konventionellen Möglichkeiten, sich zu treffen, sich zu finden. Pacho Velez zeigt dies in seinem Film Searchers auf sehr unterhaltsame Art. Menschen in New York auf der Suche nach Partnern, nach Affairen, nach Liebe und Spass. Und das ist tatsächlich lustig. Formal schauen alle Protagonisten frontal in die Kamera, meistens liegt dann verschwommen, halb durchsichtig die gerade bespielte Dating Plattform darüber. Manche zögern, sind peinlich berührt oder auch einfach offensiv frech. Menschen jeden Alters und jeder sexuellen Orientierung auf der Suche, und die Kamera hält drauf. Dazwischen, zum Ausruhen, New Yorker Strassenszenen: Menschen, Paare, Stimmung. Nur schade, dass der Regisseur immer wieder auch Fragen an seine Protagonisten stellt, aber da der Ton nicht extra aufgenommen wurde, man die Frage oft nicht versteht, was bei manchen eher einsilbigen Antworten dann dazu führt, dass einem eine ganze Passage entgeht.
Eine ähnliche Idee verfolgt Andréa França mit Syntax, allerdings krankt der Kurzfilm etwas an der Umsetzung, zumindest in der untertitelten Variante. Eine immer anders gekleidete, anders positionierte Schauspielerin liest Texte, mit denen sich Frauen zwischen 40 und 55 auf einer Datingplattform präsentieren. Die gelben Untertitel sind zum Teil fast nicht zu lesen, und wenn dann parallel auch noch Schrift, mal Englisch, mal Portugiesisch, als grafisches Element mit im Bild auftaucht, ist die Verwirrung einfach zu gross. Schade, die Idee ist ansonsten super.
Wahrhaftig oder wahr
Nikita Yefimov spielt mit den Erwartungen an einen Dokumentarfilm in Strict Regime. Ein Hochsicherheitsgefängnis in St. Petersburg, was ganz zu Anfang aussieht wie eine gewöhnliche Reportage, entpuppt sich, dem Chef des Sicherheitspersonals sei Dank, zu einer wahren Komödie. Besorgt, dass beim Dreh ja doch alle nur spielen würden, und alle Szenen gestellt sein würden, bietet er selber an, Szenen mit den Insassen zu stellen. Aber statt das dann im Schnitt zu verbergen, um Authentizität zu suggerieren, wird all das Stellen und Inszenieren zum eigentlichen Film. Lustig und allem Unken zum Trotz ein Dokumentarfilm über das Gefängnis, seine Insassen, Abläufe und seinen Sicherheitschef.
Wer weiss schon genau, wie unsere Welt entstanden ist. Die Physiker des CERN versuchen das mit Teilchenbeschleunigern zu ergründen und zu beweisen. Daraus macht Pauline Julier in Way Beyondeinen essayistischen Film.
Konkret zeigt sie die Vorarbeiten und Evaluierungen für einen noch grösseren Teilchenbeschleuniger, 100 km Umfang, untern dem Genfersee durch, unter beiden Flüssen durch, nach Frankreich, alles in allem ein Mammutprojekt. Je länger man den Diskussionen, Evaluierungen und Problemanalysen zuhört, umso weniger möchte man, vor allem als Genferin, dieses Monster gebaut wissen. Auf der bildlichen Ebene bleibt der Film eher holprig, es ist nicht immer klar was man eigentlich sieht, mal etwas wie Computeranimationen, mal Teile der CERN Anlagen, mal Baustellen, auch die Abfolge der Bilder zueinander erschliesst sich nicht wirklich. Die Szenen, in denen Menschen sitzen und diskutieren, liefern etwas wie Information zum Projekt, sind visuell auch nicht wirklich umwerfend.
Grosse Gefühle – mächtige Bilder
Users von Natalia Almada ist eine Art Bilder-Brief an die Zukunft ihrer Kinder. Eine langsame Meditation über unsere Erde, unsere Umgebung, über das, was wir mit ihr machen, was aus ihr wird oder werden kann.
Fast alle Einstellungen im Film würden gerahmt einen Ehrenplatz in jeder Galerie bekommen, doch sie gehen in ihrer Beweglichkeit und unterlegt mit Geräuschen und Musikakzenten einen anderen Weg. Spielen mit dem bekannten, den Erwartungen und kreieren Neues, Unerwartetes, zeigen Schönheit in den Narben, Ebenmass in Maschinen, verwirren und machen einfach viel Freude. Dieser Film gehört auf eine sehr grosse Leinwand, in ein sehr dunkles Kino, mit Lautsprechern rundherum, um ohne Ablenkung eintauchen zu können.
Eine sehr konkrete Vorstellung seiner Zukunft hat der Protagonist in Isabel Vacas Becoming (Temporada de campo).
Schule ist nichts für Bryan, und so lernt er den Sommer über bei seinem Grossvater auf dem Land, das zu tun, was sein grösster Traum ist: Cowboy werden, wie der Grossvater und seine Onkel. Neben der Liebe zur Natur und den Tieren ist ganz eindeutig die Abgrenzung zu seinem, in die USA abgehauenen Vater, den er als Säufer und Knastbruder bezeichnet, seine stärkste Motivation. Der abwesende Vater ist eindeutig kein Vorbild, selbst dessen Namen will er loswerden. Ein kleiner Junge und seine grossen Träume. Sehr schön und stimmungsvoll gedreht, mit viel Empathie für den kleinen Protagonisten.
Viele Filme also für künftige Kinobesuche und bis Ende der Woche werden noch einige dazukommen.