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#Locarno Letzter Tag und die Preise

Leoparden auch gespiegelt
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Zum Ende hin

 

Noch ein bisschen mehr Statistik. Die Vorstellungen fangen in diesem Jahr alle pünktlich an, am entzerrten Programm allein kann das nicht liegen. Aber es ist auf jeden Fall erfreulich. Auch auf der Piazza kann man damit rechnen, dass um Schlag 21:30 die Anfangsfanfare zu hören ist. Die Ehrungen fallen dieses Jahr etwas schlanker aus, die Abendvorstellung beginnt dadurch auch etwas früher.
Dem neuen künstlerischen Leiter Nazzaro merkt man jetzt langsam an, dass so ein Festival anstrengt, er wirkt bei manchen Präsentationen etwas müde, weniger fröhlich als am Anfang und vergisst auf der Piazza auch schon mal kurz, wie der Ablauf zu gehen hat, zum Glück ist in solchen Fällen seine Ko-Präsentatorin Giada Marsadri zur Stelle.

 

Geschwister

Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ist zuallererst ein Ensemblefilm, eine Plattform für das schauspielerische Können von Nina Hoss, Lars Eidinger und Marthe Keller.
Als ihr Zwillingsbruder schwer an Krebs erkrankt, zerlegt sich für seine Schwester nicht nur die Welt ihrer Kindheit, sondern es werden fundamentale Entscheidungen zu treffen sein, die auch nach dem Tod des Bruders noch Bestand haben müssen. Die Bilder der sanft beweglichen Kamera verschaffen der eher schweren Geschichte dann doch etwas Leichtigkeit.

 

Fevi_praktisch aber nicht schön
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Kurzfilme – Kinder

 

How do you measure a year? von Jay Rosenblatt ist eine wirklich lange Langzeitbeobachtung. Von ihrem 2. bis zu ihrem 18. Geburtstag filmt der Regisseur seine Tochter, auf immer demselben Sofa, in immer relativ demselben Ausschnitt und mit sich wiederholenden Fragen. Eine sehr private Studie von einer Vater-Tochter Beziehung, vom Werden und Wachsen des Selbstverständnisses, und zum Teil extrem lustig.

Papynik krosivky (Dad’s Sneakers) von Olha Zhurba. Ein Kinderheim irgendwo in der Ukraine, ein Junge soll am selben Tag an eine Familie in den USA vermittelt und abgeholt werden. Was er aber am meisten will, ist, Kontakt zu seinem Vater aufnehmen. Als er ihn am Telephon erreicht, legt dieser auf. Eine kleine, tieftraurige Geschichte.

Kaum etwas ist ermüdender, als ein Film, auch ein kurzer, bei dem man überhaupt nicht weiss, was er soll, wohin er will, so wie after a room von Naomi Pacifique. Ein Zimmer, zwei Frauen, ein Mann, alle nackt, irgendwelche Gespräche über Tattoos, Familie. Vermutlich sehr autobiografisch, trotzdem: Mühsam.

Squish! von Tulapop Saenjaroen ist ein ziemlich verrückter, teils animierter, teils real gedrehter Film, in dem es um unfertige Animationsfiguren geht. Grell, bunt, sinnlich.

 

 

Piazza Nachmittag
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Zauberei

Der nigerianische Episodenfilm Juju Stories von C.J. „Fiery“ Obasi, Abba T. Makama und Michael Omonua erzählt drei verschieden Aspekte der „Hexerei“. In der ersten Geschichte verhilft ein Zaubertrank einer Frau zu ihrem Traummann. Aber wie immer: aufgepasst beim Wünschen, der Traummann erweist sich in der Praxis als weniger traumhaft. Die Episode spielt sehr schön mit Real- und Wunschwelt, und spielt die Varianten durch. Die zweite Episode zeigt Zauberei, die unaufgefordert einsetzt. Ein kleiner Strassendieb findet Geld und wird in eine Yamswurzel verwandelt, die wiederum von einem Mechaniker verkocht und verspeist wird. Da ist der Wahnsinn nicht mehr weit. In der letzten Episode erweist sich eine Schülerin als sprichwörtliche Hexe, und räumt alle Mitschüler aus dem Weg, die zwischen ihr und ihrer besten Freundin stehen oder stehen könnten. Alle Episoden sind gut gemacht, aber eine weitere als die thematische Verbindung wäre schon auch schön gewesen.

 

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Kälte und Kameradschaft

 

Mit John Landis wurde ein weiterer Grosser des amerikanischen Kinos am vorletzten Abend auf der Piazza geehrt. Es gab viel Beifall für sein launig freundliches Erzählen über seine Arbeit, aber echter Enthusiasmus kam nicht auf.
Es sind diese Momente, in denen besonders auffällt, dass viel weniger Publikum am Abend unter freiem Himmel sitzt.
Danach dann der neue Film des russischen Regisseurs Gleb Panfilov, 100 Minutes. Die Geschichte, nach einer Kurzgeschichte von A. Solschenizyn, vom russischen Soldaten, der 1941 von deutschen Soldaten gefangen genommen wird, aber relativ schnell zu seiner Einheit zurückgeschickt wird. Dort wird er für einen Spion gehalten und umgehend für 10 Jahre in ein Lager für politische Gefangene geschickt. Hauptsächlich wird der harte Alltag im Lager erzählt, es ist kalt, schmutzig und das Essen ist widerlich. Aber in allen Szenen schwingt immer auch eine Art Verklärung der Solidarität und Kameradschaft mit. Die Geschichte will angeblich ergründen, was Menschen in solchen Situationen am Leben, am Hoffen, am Durchhalten hält. Ein etwas altmodischer Film sowohl in der Machart als auch in der Behandlung des Themas.

 

Die Zielgerade

 

 

Morgenlicht mit PardoKuh
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Während in Locarno die Sonne alle Bewegungen verlangsamt, laufen die letzten Filme in den kühlen Kinos.
Anders als üblich werden die Gold – und Silberleoparden nicht auf der Piazza Grande vergeben, sondern in einer gesonderten Veranstaltung am Nachmittag.

Ein bisschen Statistik geht noch: Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Regisseuren ist in Locarno ziemlich ausgeglichen, gleiches gilt für die Jurymitglieder. Es geht also, wenn man will.

 

 

Ausweglos

Der tunesische Film Streams von Mehdi Hmili zeigt, wie durch patriarchale, sexualisierte Strukturen Schritt für Schritt Leben zerstört wird. Statt den Vergewaltiger einzusperren, wird das Opfer sowohl des Ehebruchs als auch der Prostitution bezichtigt und eingesperrt. In der Folge prügelt ihr Sohn einen Mitspieler seines Fussballvereins krankenhausreif, aus dieser Abwärtsspirale gibt es bald kein entkommen mehr. Während die Mutter nach dem Gefängnis versucht irgendwie wieder Fuss im Leben zu fassen, flüchtet sich der Sohn zu Kleinkriminellen und versinkt in einer immer dunkleren Welt. Auch in dieser Welt hat der Stärkere die Macht und übt sie mit Schwanz und Fäusten aus, ein Verhalten, gedeckt von einem politischen und sozialen System, das diese Strukturen vorlebt.

 

Der letzte Abend

Zwar wurden auf der Piazza Grande am Abend nicht die Preise vergeben, aber alle Jurymitglieder und alle Preisträger durften auf die Bühne. Ein Preis wurde dann doch ausschliesslich auf der Piazza bekannt gegeben, der Publikumspreis für den besten Film auf der Piazza Grande. Völlig verdient gewann Hinterland von Stefan  Ruzowitzky.

 

Dario Argento
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Einen allerletzten Ehrenleoparden gab es dann doch noch, ein spontaner Leopard, als besten Nachwuchsdarsteller des Festivals und für sein Lebenswerk bekam Dario Argento den Preis, überreicht von John Landis. Viel Kino auf einer Bühne.

 

Musikalisch

Zum Abschluss dann Respect,, die Lebensgeschichte der Soulsängerin Aretha Franklin, von Liesl Tommy. Der Film erzählt nicht nur von ihrer Karriere als Sängerin, sondern auch von der amerikanischen Geschichte der 50er und 60er Jahre. Eine Lebensgeschichte, der es an Drama nicht mangelt und dazu mitreissende Musik, ein guter Film für einen warmen Sommerabend und für die grosse Leinwand.

 

 

Die Leoparden

 

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Der wunderbar schräge Film Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas (Vengeance is Mine, All Others Pay Cash) des indonesischen Regisseurs Edwin gewinnt den goldenen Leoparden. Das ist aus vielen gründen toll, erstens, weil es wirklich ein gelungener Action-Film ist, der aber zweitens eine fabelhafte Frauenfigur sowie eine genreunübliche entspannte Sicht auf Sexualität in die Geschichte integriert.
Nicht nachvollziehbar ist der Leopard für die beste Regie, der an Abel Ferrara geht.

In der Nebenreihe Cineasti del presente gewinnt der tschechische Dokumentarfilm Brotherhood von Francesco Montagner. Auch wenn der Film einige Schwächen hat, ist es ein verdienter Preis.
Im gleichen Wettbewerb gewinnt Hleb Papou mit Il Legionario den Preis für die beste Nachwuchsregie. Auch das eine erfreuliche Entscheidung der Jury.


Bei den Kurzfilmen international gewinnt der sehr schöne brasilianische Film

Fantasma Neon (Neon Phantom) von Leonardo Martinelli den Pardino d’oro, der Pardino d’argento geht an Les démons de Dorothy (The Demons of Dorothy) von Alexis Langlois. Der Kurzfilm In flow of words von Eliane Esther Bots gewinnt den Preis für die beste Regie, und kommt damit in den Wettbewerb der European Film Awards.

Im nationalen Wettbewerb gehen die Preise an:

Chute (Strangers) von Nora Longatt Pardino d’oro und After a room von Naomi Pacifique Pardino d’argento.

Alle Preise: hier

Geschlossen bis nächstes Jahr
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Das Kino ist zurück, der Film ist zurück auf der Leinwand und zurück beim Publikum. Am 3. August 2022 wird dann die 75. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno eröffnet werden.

#Locarno See oder Kino?

Pardofrühstück
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Sommersonne

 

Nach den ersten Tagen mit Regen ist jetzt die Hitze in Locarno angekommen.
Die Frage See oder Kino drängt sich auf…
Auch wenn das Sitzen langsam schwerfällt und die Ohren jede einzelne Maske verfluchen, die Entscheidung fällt aufs Kino.

 

Krieg in den Köpfen

 

Brotherhood von Francesco Montagner.
Ländliches Bosnien, Schafherden, ein paar verstreute Häuser, sonst nicht viel, auch nicht viel zu tun. Während der Vater eine zweijährige Haftstrafe als Syrien-Heimkehrer verbüsst, sind die drei Brüder auf sich selbst gestellt. Vom Vater haben sie klare Anweisungen, wer was zu übernehmen hat. Die Jungs zwischen 18 und 12 gehen sehr unterschiedlich mit der Situation und den Aufgaben um. Besonders der Mittlere scheint gleichzeitig jeder Anweisung, auch den religiösen, exakt folgen zu wollen, und ist doch derjenige, der das schlechtesten schafft. Eine Langzeitbeobachtung, in der sich nicht viel bewegt, die Entwicklung, das Erwachsenwerden der Jungs stagniert irgendwo in Perspektivlosigkeit und Verblendung.

 

Kurzfilme – Gewalt

 

Kazneni udarac (Elfmeter) von Rok Biček ist ein sehr stimmungsvoller, aber auch grausamer Film. Zwei kleine Jungs spielen Fussball, träumen dabei von den Grossen des Sports, von ihren Wünschen, ihren Aussichten. Bis eine Gruppe viel älterer Jungs ankommt, zunächst schmeicheln sie dem aufgeweckteren der beiden Kleinen, schiessen sanfte, leichte Bälle auf sein Tor, die er gut halten kann. Als er sich sicher fühlt, glaubt bei den Älteren mitspielen zu dürfen, fangen sie an, gezielt und brutal Bälle direkt auf das Kind zu schiessen. Das kann nicht gut ausgehen, und tut es auch nicht.

Um häusliche Gewalt geht es in Imuhira (Zuhause) von Myriam Uwiragiye Birara.
Eine junge Frau mit einer Kopfwunde flüchtet sich zu ihrer Familie. Dort ist sie aber weder willkommen noch erfährt sie Unterstützung. Ein Film, der seine Stimmung fast ausschliesslich aus den schönen Bildern zieht, die wenigen Dialoge unterstützen, was man auch so verstanden hätte.

Das genaue Gegenteil passiert in Four Pills at Night von Leart Rama. Die Bilder von einer Techonparty irgendwo am Rand von Prishtina erzeugen zwar Stimmung, aber das, was sie erzählen sollen oder wollen, funktioniert nur über die Dialoge, die allerdings wie Fremdkörper in diesem Film wirken.

Dōng dōng de shèng dàn jié (Weihnachten) von Fengrui Zhang, hier stimmt die Balance zwischen spärlichen Dialogen und Bildern wieder. Ein Vater, sein Sohn, irgendwo in der chinesischen Provinz. Es ist Weihnachten, aber, Chinesen feiern kein Weihnachten, weshalb der Wunsch des Jungen, nach einem Geschenk unerfüllt bleibt. Die Bilder zeichnen ein intimes Bild der beiden Figuren, verloren in ihrer Entfremdung und in der Weite der Stadt.

In Strawberry Cheesecake von Siyou Tan wehren sich drei Schülerinnen gegen die Direktorin ihrer Schule, die droht sie rauszuwerfen, weil sie eine E-Zigarette geraucht haben. Die Wahl der Mädchen fällt auf Psychoterror durch blutigen Horror. Schön gemacht.

 

 

Warten im Schatten
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Berge, Teufel und Familie

 

Um sich vor dem Teufel Alkohol und ihren Sohn vor allen Teufeln zu bewahren, lebt eine Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn weit oben, einsam in den Tiroler Bergen. Soweit der Hintergrund in Peter Brunners Luzifer. Gefangen im christlichen Wahn und der übersteigerter Mutterliebe hat der, nur wenige Worte stammelnde, Johannes wohl nie eine Chance auf ein eigenständiges Leben und so liegt sein gesamter Fokus auf dem religiösen Irrsinn seiner Mutter und der naiven Hingabe an seine Raubvögel. Die düstere Idylle wird plötzlich bedroht, als das Stück Land gebraucht wird, um einen Skilift zu bauen. Auf ersten Drohungen gegen die Mutter folgen handfeste Taten, der leibhaftige Teufel scheint die beiden gefunden zu haben. Die Spirale aus Gewalt und Wahnsinn dreht sich immer enger zusammen.
Tolle Bilder der dramatisch wirkenden Berglandschaft, schaurige Aufnahmen von herannahenden Drohnen, die wie böse Insekten, einfallen und das sensationelle Schauspiel von Franz Rogowski machen diesen düsteren Film aus. Im Vergleich zu Brunners früheren Filmen ist Luzifer, trotz seiner Qualitäten, deutlich konventioneller, was schade ist. Warum auch hier wieder ein Warnhinweis für sensible Zuschauer nötig war, erschliesst sich nicht.

 

 

Bald geht es los
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Ida Red von John Swab, der Abendfilm auf der Piazza, kommt ohne Warnung aus, und das, obwohl bereits in den ersten Minuten Blut aus Köpfen spritzt, die mit grosskalibrigen Waffen durchlöchert wurden. Ida Red ist eine klassische (amerikanische) Kinogeschichte. Eine mörderische Familie, die, obwohl die Mutter, als Kopf der Bande, im Gefängnis sitzt, einen Ort in Oklahoma fest im Griff hat. Blut ist hier dicker als Gesetz, als Vernunft oder als das eigene Leben. Der Film verhandelt das alles in einem atemberaubenden Tempo, und reiht Gewalt an mehr Gewalt: Wer nicht mit uns geht, ist gegen uns. Auf jeden Fall packend.

 

Mondschein und Statistik

 

Auf den ersten Blick scheint in Locarno alles wie all die Jahre vorher, aber bei genauerem Hinsehen fällt auf, die Kinos sind zwar gut besucht, aber längst nicht so voll wie üblich. Auch auf der Piazza Grande ist es, trotz vieler Zuschauer, deutlich leerer als üblich, nicht nur auf Grund der Begrenzung auf 5.000 Plätze (statt möglicher 8.000). Die genauen Zahlen wird man sich noch anschauen müssen, aber subjektiv ist es weniger voll.
Weil weniger Menschen angereist sind?
Weil doch die Angst vor Ansteckung grösser ist, als der Wunsch nach Kunst?
Dafür bietet Locarno dieses Jahr mehr Uraufführungen als sonst, auch auf der Piazza. Auch das mag an dem gerade erst wieder anlaufenden Kinobetrieb liegen.

Und wieso ist im Film der Mond immer voll?
Nur mal so in den Raum gefragt.

 

Mond auf der Leinwand
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Reden aber nichts sagen

 

Manchmal sollte man, wenn einen kein Film wirklich anspricht, gar nicht ins Kino gehen. Aber, nein, tapfer I giganti von Bonifacio Angius ausgewählt, obwohl die Beschreibung nicht wirklich aufregend klingt. Das Bauchgefühl hatte Recht. Der Film hat zwar eine sehr schöne Bild-und Lichtgestaltung, mit viel dunkelstem Schwarz und Braun, und das wenige, das beleuchtet ist, schimmert expressionistisch in schmutzigem Gelb. Das hilft aber nicht darüber hinweg, dass die Geschichte der 5 alten Freunde, die sich in einem Haus treffen, Drogen konsumieren und aneinander vorbeireden, nicht wirklich interessant ist. Das Beste, das man dazu sagen könnte wäre: Ein absurdes Gedicht.

 

Kurzfilme –Vermissen

Se posso permettermi von Marco Bellocchio ist der corti d’autore dieses Programs, aber so richtig überzeugen mag der Film nicht. Ein Mann, der anscheinend gerade seine Mutter verloren hat, verbringt seine Zeit auf Strassen und Plätzen und beobachtet Menschen. Unvermittelt macht er dann Bemerkungen, gibt (unerwünschte) Ratschläge : Sie sehen so traurig aus…..So hohe Absätze sind nicht gut für das Gleichgewicht….. Sie essen ganz schön viel…. Ungefragt, zum Teil grenzüberschreitend, immer an Frauen gerichtet. Und in Wahrheit ist alles sowieso nur ein Tagtraum. Naja.

Fantasma neon von Leonardo Martinelli hingegen schafft eine Brücke zwischen Kritik am Brasilianischen Staat und getanztem Musical, und das auch noch mit Leichtigkeit. Seine Protagonisten, alles Essenslieferanten, wechseln von kurzen Statements zu ihrer Lage, und der Lage im Land, zu Tanzeinlagen auf der Strasse. Mühelos, schön, und doch auf den (wunden) Punkt gebracht.

And then they burn the sea von Majid Al-Remaihi ist ein experimenteller Abschiedsbrief an eine Mutter, die ihre Erinnerung verliert. Ein bisschen verwirrend.

Für Real News nutzt Luka Popadić sowohl Spielszenen als auch originale Nachrichtenbilder. 1999, der Kosovokrieg ist in vollem Gang, eine Gruppe internationaler, aber auch serbischer ,Journalisten wird vom serbischen Militär zu Schauplätzen der NATO Bombardierungen gebracht, um zu berichten. Ein junger, amerikanischer Journalist, will sich dem gewünschten Verhalten aller Kollegen nicht beugen, stellt Fragen, schaut genauer hin. Und wird jedes Mal zurückgepfiffen. Dann wird im April das Gebäude des serbischen Fernsehens bombardiert, es sterben Techniker und Journalisten, er muss sich entscheiden, vor Ort bleiben und weiter berichten, oder so berichten, wie er es für richtig hält und nach Hause geschickt werden.

Yi yi von Giselle Lin ist ein weiterer Film, der nicht weiss, ob die Bilder oder die Dialoge die Geschichte transportieren sollen. Fatalerweise wählt die Regisseurin Bilder mit eher wenig Aussagekraft und lässt fasst alle Dialoge in grossen Totalen stattfinden. Das Ergebnisberührt nicht wirklich, entgegen der Ankündigung.

 

 

 

Pardoletten
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Und noch ein Film, den man sich problemlos hätte sparen können:
Zeros and ones von Abel Ferrara.
Laut Katalog findet die Geschichte in einem postapokalyptischen Rom nach einer Belagerung statt. Aber ein Wer oder ein Was erschliesst sich überhaupt nie im Film. Statt dessen durchweg nicht nur dunkle, sonder vor allem grieselige Bilder, auf denen selten irgendetwas zu erkennen ist. Das was an Handlung da sein könnte versinkt damit in Unsichtbarkeit. Das Ganze unterlegt mit Musik, die wahlweise böse wummert oder symphonisch ein kommendes Drama ankündigt – das dann nicht kommt. Ein wirrer Quatsch, mit aufdringlichen Bezügen zu allen Coronamassnahmen – ständig desinfiziert jemand Hände, oder auch Dollarnoten, werden Masken auf und abgesetzt –
in dem einzig die Zufahrten auf die ständig irgendetwas filmende Sony-Kamera halbwegs gut im Bild sind.
Warum dieser Film ausgewählt wurde ist wirklich unverständlich.

 

 

Stühle intakt
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Auf der Piazza Grande gibt es, nach dem Ehrenleoparden für sein Lebenswerk an den Kameramann Dante Spinotti, einen bunten Animationsfilm.

Yaya e Lennie – The walking Liberty von Alessandro Rak ist ein Sciencefiction Märchen, mit Anklängen an Endzeitactionfilme. Sehr schön gezeichnet, modelliert, animiert, phantasievoll und ein ganz kleines bisschen kitschig. Die junge Yaya und ihr etwas tumber Kumpel Lennie durchstreifen eine Welt, in der der Dschungel die Städte überwuchert, Menschen nur noch selten anzutreffen sind. Eine Gruppe hat allerdings ein totalitäres System aufgebaut, fängt Kinder ein, unterwirft und beutet aus, dieser „schönen neuen Welt“ gilt es unter allen Umständen nicht in die Hände zu fallen.

Und damit nähert sich das Festival langsam seinem Ende, ein kompletter Festivaltag noch und die Preisverleihung. Echte Favoriten gibt es nicht, wenn man sich umhört.

#Locarno Halbzeit

 

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Lebensweisen

Film kann bilden, bietet Blicke über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus. Im Idealfall entsteht eine Beziehung zu den Protagonisten und ihrer fremden Welt.

Bukolika von Karol Palka ist so ein Idealfall. Mit grosser Feinfühligkeit portraitiert er zwei Frauen, die abgeschieden im ländlichen Polen leben. 6 Monate herantasten und 3 Jahre Drehzeit, Dokumentarfilmer brauchen Geduld, es kann sich aber auszahlen. Mutter und Tochter leben in einem winzigen Haus, ein Zimmer, eine Küche, nichts weiter. Die Bilder im Inneren des Hauses erinnern an Stillleben alter holländischer Maler, Abstufungen von Schwarz, Details zeigen sich nur langsam, oft ist das einfallende Licht durch das kleine Fenster die einzige Lichtquelle, bildet Lichtstreifen, die nur einen Ausschnitt beleuchten. Kein Kommentar, kein Werten, keine Erklärung. Die Frauen können alles zwischen 30 und 80 sein, Spannungen zwischen Mutter und Tochter entladen sich kurz und heftig, um dann wieder einer ländlichen Ruhe und Gleichmut zu weichen. An manchen Stellen des Films setzt kontrapunktisch schwere, laute, basslastige Musik ein, ein Widerspruch zur Szene, der dem Film eine weitere Dimension hinzufügt.

 

Maskeraden

 

Maskerade
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An sich gilt in allen Kinos Maskenpflicht, heisst: Masken über Mund und Nase ziehen und dort lassen. Erstaunlich, wieviele Menschen das nach so langer Zeit immer noch nicht ganz schaffen. Aber die freundlichen, hilfsbereiten und aufmerksamen Saalhelfer leisten bereitwillig Aufklärung und erinnern an den korrekten Sitz der (nervigen) Masken.

 

 

Kurzfilme – Träume

Ein weiteres, durchgängig phantastisches Kurzfilmprogramm.

Der Dokumentarfilm Happyness is a journey von Ivete Lucas und Patrick Bresnan zeigt eine Nacht lang die Arbeit amerikanischer Zeitungsausträger. Als Einpersonen-Unternehmer sind sie auf sich allein gestellt, auch wenn es darum geht, den wirtschaftlichen Fall abzufedern. Spannend an dem Film ist die Machart. Es wird durchgängig in Splitscreen gearbeitet, was einerseits die Möglichkeiten bietet, mehr Bilder von Situationen zu zeigen, was aber auch einen starken Einfluss auf die Zeitwahrnehmung hat. Über den Film als Ganzes gibt es eine zeitliche Kontinuität, am Anfang steht das Packen und Abholen der Zeitungen, dann das Austragen bis zum Nachhausekommen. Innerhalb der Sequenzen ermöglicht die Bildteilung allerdings eine Verschiebung der Zeit, da Handlungen und Situationen nicht parallel und nicht konsekutiv ablaufen. Der Effekt ist verblüffend und man bekommt den Eindruck einer Universalität des Moments.

In Atrapaluz von Kim Torres schafft sich ein einsames Teenagermädchen ein Cyborg-Alterego. Die Geschichte ist still und gefühlvoll, auch ein wenig verwirrend, wie das Leben Jugendlicher, wenn man selbst nicht mehr dazu gehört.

Cavales von Juliette Riccaboni ist eine Geschwistergeschichte und eine Geschichte von Träumen und deren Einfluss auf das reale Leben. Die Geschwister werden weitgehend von ihrer Mutter sich selbst überlassen, wodurch eine besonders starke Verbindung der beiden besteht. Dem grossen Bruder erscheinen in Träumen die Gewinnerpferde von Pferderennen, er setzt, er gewinnt, und ist der Held seiner kleinen Schwester. Bis die Mutter mit einem Liebhaber auftaucht, der nächste Traum ist verwirrend und zeigt weniger das Siegerpferd, als die Gefahr, in der sich die Schwester befindet.

Der Animationsfilm Mr.Pete and the iron horse von Kilian Vilim nutzt den Stil früher Mickeymouse Filme, um, fast gänzlich in Schwarz, Rot und Weiss gehalten, einen Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung zu zeichnen. Extrem beeindruckend gestaltet, die Stilelemente alter Animationsfilme bis hin zur Musik perfekt nutzend, und schafft dabei trotzdem Eigenes.

Somleng reatrey von Chanrado SOK und Kongkea VANN überzeugt vor allem durch die sehr schöne Kameraarbeit. Ein mobiler Nudelverkäufer im nächtlichen Kambodscha. Neonlicht, Strassenlaternen, eine Gaslampe am Wagen, daraus entstehen Bilder, die für sich eine ganz starke emotionale Sprache sprechen. Aber auch hier sind Träume und Wünsche das Thema. Was will der Sohn, der mit beim Verkauf hilft, aus seinem Leben machen? Was ist mit den Hoffnungen für die Tochter, die sich im Nachtleben verliert?

 

Pause auf der Wiese
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Selbstfindung

 

Die Stärke von Actual People von Kit Zauhar ist gleichzeitig seine Schwäche. Gedreht wie ein beiläufig entstandener Dokumentarfilm, bei dem die Kamera einfängt, was sie eben kann in Situationen, in denen Menschen reden, feiern, streiten. Das führt dazu, dass man hauptsächlich hektischen Dialogen folgt, Studentinnen, die Stress an der Uni haben oder Liebeskummer, Partys planen, saufen bis nichts mehr geht. Oft bleibt die Kamera in einer Einstellung, oder bewegt sich situativ mit den Figuren. Wege zum Selbst, laut Katalog, auch für die Regisseurin/Hauptdarstellerin. Anfangs ist das furchtbar anstrengend, mit der Zeit wird es etwas besser, aber es bleibt ein eher geschwätziger Film.

 

Experimenteller Spass

Statt eines japanischen Animationfilms auf der Piazza Grande, ein experimeteller Riesenspass.
 The case of the vanishing Gods von Ross Lipman ist uneingeschränkt witzig und intelligent gemacht. Eine Bauchrednerpuppe kommt zu einem Psychiater (ebenfalls eine Marionette), weil sie von Albträumen gequält wird und nicht weiss, wer sie ist. Daraus entspinnt sich ein wahnwitziger Reigen. Die Ursprünge des Bauchredens kommen ebenso vor, wie sämtliche denkbaren Variationen von Bauchrednerei und die – meist – bösen Puppen in der Kinogeschichte. Das alles ist geschickt und gekonnt zusammengefügt, 71 Minuten Kinovergnügen.

 

 

Die Hard auf isländisch

 

 

Von allen Seiten schön, Piazza Grande
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Der Tag fängt gut an. Sonnenschein und dann um 9 am Morgen die beste Persiflage auf alle Bad Ass und Hard boiled Action-Thriller überhaupt!

Hey, wir haben das Jahr 2021, kein Schwein kümmert sowas mehr!“ Die Antwort des einen Superbullen an den anderen Superbullen, der ihm gerade, mitten in der ersten Phase des Showdowns, seine Liebe gestanden hat. Aber von Anfang:
Leynilögga  (Cop Secret) von Hannes Þór Halldórsson ist ein spannender Thriller, mit absolut allen genreüblichen Elementen: dem harten, saufenden Bullen im Angeberauto, der nie nach den Regeln spielt, die extrem bösen Verbrechern, die immer einen Schritt voraus sind, Verfolgungsjagden, Schiessereien, Politiker, die Angst um ihren Ruf haben, korrupte Polizisten, einfach alles! Aber der Film ist eben auch eine Persiflage und zeitgemäss politisch korrekt, aber mit sehr viel Humor. Dennoch, der Thriller wird durchgehalten und funktioniert, Showdown, parallel an vier Schauplätzen, am Ende inklusive. Aber alles ist immer ein bisschen neben dem, was man gemeinhin für normal hält im Genre. Genderfragen werden ebenso nebenbei verhandelt, wie sexuelle Orientierung, und das marode isländische Finanzwesen. Das Ergebnis braucht sich vor vergleichbaren Filmen nicht zu verstecken.

Einige Filme der Auswahl tragen den aktuellen Diskussionen und Sichtweisen Rechnung, ob das am neuen Team um Nazzaro liegt, oder ob einfach langsam mehr Filme existieren, die bei aller Genretreue mehr dem Zeitgeist entsprechen, muss sich weisen.

Kurzfilme – vielleicht sexy

Das Schönste in Fou de Bassan von Yann Gonzalez ist die sanft Sommerhitze suggerierende Saxophonmusik (Aymard Caillol, Antonin Roux). Dazu, in Blau getauchte, sehr gepflegte Bilder von SM und Lederlesben. Treffpunkt? Strassenstrich? Alles möglich, nicht wichtig, mit 4 Minuten gerade kurz genug, dass es keine Rolle spielt.

Criatura von María Silvia Esteve, noch einmal Frauenliebe, diesmal traurig, verloren, mit vielen bedeutungsschweren Bildern und Off-Texten. Eine Aufarbeitung womöglich.

Initiationsriten im U-Bahnschacht: The life underground von Loïc Hobi. Um dazuzugehören muss ein Junge, wie die anderen vor ihm, direkt vor der heranfahrenden U-Bahn über die Gleise springen. Aber will er überhaupt dazu gehören? Gehören die Machospiele und Sprüche überhaupt zu ihm? Oder will er nur seinem Kumpel gefallen?

FIRST TIME [The Time for All but Sunset – VIOLET] von Nicolaas Schmidt. Der Film schickt eine Cola-Werbung aus den 80er Jahren vorneweg, dann geht das Leinwandformat wieder auseinander: Hamburger U-Bahnstationen von aussen, interessante Einblicke in zum Teil scheussliche Architektur. Danach ca. 40 Minuten in einer statischen Einstellung in der Hamburger U-Bahn, ein junger Mann fährt und fährt, und fährt im Kreis, dazwischen trinkt einmal er, einmal sein Sitznachbar Cola. Ist das Satire oder die längste Werbung überhaupt?

 

 

Projektionskabine
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Hauptsache Liebe

Ein weiterer Film, der sich mit homosexueller Liebe beschäftigt, ist die georgisch-schweizer Koproduktion Wet Sand von Elene Naveriani. In einem kleinen Dorf am schwarzen Meer erhängt sich ein älterer Mann, die Nachbarn sind neugierig, tratschen und einige scheinen den Mann nie gerne in ihrer Mitte gehabt zu haben. Der Barbesitzer Amnon erklärt sich bereit, die Enkelin des Verstorbenen zu benachrichtigen, als diese aus Tiflis anreist, zeigt sich die ganze Dimension der Heuchelei im Ort. Männer, die ihre Frauen prügeln, spielen sich zu Sittenwächtern auf, als es um die Homosexualität des Mannes geht, und auch die Enkelin gerät schnell in ein schlechtes Licht. Die Geschichte entwickelt sich zwar langsam, wie im Rhythmus der Wellen, die vor der Bar auf den Strand laufen, ist deshalb aber nicht weniger eindrücklich. Ein in sehr schönen Bildern erzähltes Drama vom Anderssein in einer Gegend, wo das bis heute nicht akzeptiert wird.

Free Guy von Shawn Levy läuft am Abend auf der Piazza Grande, auch hier: Anderssein und Liebe. Eine Nebenfigur oder Statist in einem Computerspiel entwickelt ein Eigenleben, und verliebt sich in den Avatar einer der Entwicklerinnen. Ein bisschen ist es die Geschichte von den Geistern, die man ruft, oder eben programmiert, ein wenig auch ein Aufruf zur Selbstermächtigung, egal wie sehr man in einer Nebenrolle zu stecken scheint, und natürlich ist es auch eine Liebessromanze. Viel Action, viel Computeranimation, laut, bunt, albern, aber auch sehr witzig und kurzweilig und leicht genug für die einsetztende Hitzewelle.

 

#Locarno Das Wochenende

Berge und See Im Regen

 

Dunkle Wolken über Locarno
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Samstag in Locarno, das erste Festivalwochenende und dann das: Schwere dunkle Wolken hängen sowohl über dem See als auch über den Bergen. Wenn es noch nicht regnet, dann kann es nicht mehr lange dauern.
Zeit sich in einem Kinosaal in Sicherheit zu bringen.

Mis hermanos suñan despiertos von Claudia Huaiquimilla ist eine Anklage gegen das menschenverachtende Jugendjustizsystem Chiles. Ein Gefängnis für jugendliche Straftäter, die meisten eher 14/15 Jahre alt, Kinder eigentlich. Kinder aus den unteren sozialen Schichten, Kinder, die nicht mal mehr Träume haben, weil es für sie anscheinend nichts mehr zu träumen oder zu hoffen gibt. Sie werden weggesperrt, verwahrt, verwaltet, aber mehr nicht, und jedes dieser Kinder, dass das System nicht lebend verlässt, gilt den Behörden als ein Problem weniger, das gelöst werden müsste. Auf diesem faktischen Hintergrund baut die Regisseurin ihren Spielfilm, mit teilweise Amateurdarstellern, sie erzählt langsam, so, dass sich der Zuschauer der Verzweiflung und Mutlosigkeit der Insassen nicht entziehen kann. Kurze Phasen, in denen der eine oder andere es doch wagt zu träumen, mischen sich mit dem Alltag. Was bleibt, neben der Aussicht auf Nichts, ist eine starke Bindung und Solidarität unter den Kindern. Ein sehr schöner, schwerer Film.

In der Theorie wäre genug Zeit gewesen, von einem Kino zum anderen zu gehen, in der Praxis endete der erste Film, als der zweite anfängt. Ein dummer Rechenfehler. Daher: Programm im Gehen umdisponieren, Karte stornieren, neue Karte für andere Vorstellung reservieren, parallel in einen Keks beissen. Festivalalltag.

 

Kurzfilme – Dinge und Maschinen

 

Il faut fabriquer ses cadeaux von Cyril Schäublin zeigt die schöne neue Welt des virtuellen Erlebens. Allerdings mehr in der Theorie, in den Gesprächen darüber, als in der Praxis. Menschen in Betonlandschaft reden über holographisches Küssen, oder über Passwörter, um die Gedanken anderer zu erreichen. Schräg, ein bisschen beängstigend und ein bisschen zu wenig Film.

Dokumentarisch und komisch ist Ding von Pascale Egli und Aurelio Ghiradelli. Zwei Frauen, die ihre emotionale Liebe nicht auf Menschen oder Tiere richten, sondern auf Dinge, ernsthaft, ohne Zynismus. Die eine verliebt sich immer wieder in verschiede Dinge, mal in einen Kran, in einen Drucker etc., ihre aktuelle Liebesbeziehung gilt der Terrassenecke ihrer Nachbarn. Die andere liebt schon immer die schön geschnitzten Notenständer von Bechstein-Flügeln, dafür ist sie auch bereit zu stehlen, damit ihr Geliebter bei ihr sein kann. Es gibt wirklich mehr auf der Welt, als man sich vorstellen kann.

Im Animationsfilm Night lässt Ahmad Saleh die allegorische Nacht sich um Verletzte und Trauernde des Krieges kümmern. Sie schenkt Schlaf, sie schenkt Ruhe und damit die Chance auf Resilienz. Sehr schön gemacht.

A máquina infernal von Francis Vogner Dos Reis ist eine als Horrorfilm gezeigte Kapitalismuskritik. Die Maschinen einer fast ruinierten Metallfabrik grunzen, gurgelen und schnappen sich nach und nach die Arbeiter. Eine sehr schöne Arbeit mit den üblichen Geräuschen und Bildmotiven des Horrorfilms in einem Setting, das den Horror aus seiner Struktur bezieht.

 

 

Schockieren – oder nicht

 

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Angekündigt mit: Einige Bilder könnten sensible Zuschauer schockieren:
After Blue (Paradis sale) von Bertrand Mandico.
Was im Film diesen Warnhinweis rechtfertigt, erschliesst sich nicht. Angedeutete Selbstbefriedigung bei Frauen? Angedeuteter Sex zwischen Frauen? Die zwei vage erkennbaren verrotteten Leichen?
Ansonsten gibt es eine Szenerie, die an das Albumcover House of the Holy von Led Zeppelin erinnert, alles etwas verwaschen, verwunschen und in einem esoterischen Duktus. Ein Planet, auf dem nur Frauen leben, wo alles besser werden soll, als es auf der Erde war. Dazu sexuelles Begehren, ein bisschen „Heldinnenreise“, eine verschwurbelte Mischung aus Märchen, Mystik, Western und Sciencefiction und, um die 70er Jahre Bildästhetik komplett zu machen, Kaleidoskopeffekte bei Bildüberlagerungen, nicht zu vergessen: 130 lange Minuten durchgehend Musik .
Wenn das ein radikaler Film sein soll, dann hat die Kunst noch einen weiten Weg vor sich. Während der Vorstellung sind immer wieder Zuschauer rausgegangen, die eher gelangweilt als schockiert waren.

 

Monster

 

Beim Rausgehen ist klar, auf der Piazza Grande wird es am Abend nicht nur ungemütlich, sondern wirklich grausig.
Nach kurzer Pause also in die Schlange am Fevi stellen, und schauen, ob mit der Reservierung für die Piazza, wie versprochen, auch ein Platz im Fevi sicher ist.
Und ja, es funktioniert.

Die Uraufführung des Schweizer Films Monte Verità von Stefan Jäger zieht am Samstag Abend viel Publikum an. Zunächst aber gibt es einen Ehrenleopard für die Produzentin Gale Anne Hurd, eine Ehrung, die auch die Zuschauer begeistert. Monte Verità hält nicht, was er verspricht. Weder zeigt er wirklich Einsichten in das, Anfang des 20.Jahrhunderts, als radikal und innovativ geltende Sanatorium, Zufluchtsstätte für Anthroposophen, noch zeigt der Film ein Bild von sich aus den Korsetten – auch des Patriarchats – befreienden Frauen. Statt dessen, wenig packende Handlung, Darsteller, die nicht wirklich ihr Potenzial zeigen können, Musik, die mit dem Zaunpfahl winkend darauf hinweist, welche Gefühle gerade angebracht wären. Das ist schade, denn das Projekt, mit österreichischer und deutscher Beteiligung, war sicher teuer, da wäre viel mehr möglich gewesen.

Um Mitternacht dann, als Belohnung: The Terminator.
Auf der Piazza Grande wäre das sicher noch besser gewesen, aber auch im Fevi Kino ist die Leinwand sehr gross und der Sound super.
Und um zwei Uhr morgens hat dann auch endlich der Regen aufgehört.

 

 

Weite Landschaften

 

Piazza mit PardoKuh
(c) ch.dériaz

 

Noch türmen sich Wolkenberge über dem See, aber sie scheinen keine Regen zu bringen, rein dekorativ also.

Wolken über weiter Landschaft gibt es in Zahori von Mari Alessansrini. Die weite, karge Landschaft Patagoniens, wo die wenigen Menschen, die dort leben, von der Weite verschluckt werden. Eine zarte Geschichte vom Erwachsenwerden der jungen Mora, aber auch von den Kämpfen für Träume und gegen die gnadenlose Natur. Die Wege der einzelnen Figuren kreuzen sich, verbinden sich für einen Moment und driften wieder auseinander, als würde der ständig herrschende Wind sie verblasen. Der Film schafft, dass diese kargen Geschichten eine Spannung erzeugen und Interesse für die Figuren hervorrufen.

 

Kurzfilme – schwere Kost

 

Man trifft sich immer zweimal? Kaum sind die 130 mühsamen Minuten von gestern verdaut, kommt Bertrand Mandico mit einem 37 Minuten Kurzfilm schon wieder auf die Leinwand. In Dead Flash verbrät er hauptsächlich Reste aus anderen seiner Filme, was im Prinzip gut werden könnte. Wird es in diesem Fall aber nicht. Die erste Hälfte besteht wieder aus esoterischen 70er Jahre Effekten, kombiniert mit Takes, die sicher zu After Blue gehören, der zweite Teil für sich wäre sogar witzig, wenn er für sich allein stünde. Als Einheit ergibt das alles überhaupt keinen Sinn, keinen Fluss, und keinen Charme.

Dihay von Lucia Martinez Garcia ist ein experimenteller Dokumentarfilm. Die Regisseurin kündigt ihn an, als „ das in die Welt Kommen meiner kleinen Schwester“, und so irritiert ganz zu Anfang, dass man einen Jungendlichen sieht, der sich sehr schön und weiblich schminkt und zurecht macht. Vom kleinen Bruder zur kleinen Schwester in assoziativen Bildern. Hübsch.

Mask von Nava Rezvani ist der einzige narrative Film dieser Auswahl. Eine junge Iranerin lässt sich, auf Betreiben ihres Freundes, die Lippen aufspritzen. Als dieser das Resultat sieht, reagiert er nicht erfreut, sondern aggressiv-ablehnend. Eine Geschichte über das schwierige Selbstverständnis iranischer Frauen.

The Sunset Special von Nicolas Gebbe ist als Kurzfilm aus einer Multimediaarbeit hervorgegangen und arbeitet mit diversen Computersimulationen, Überlagerungen und Versatzstücken aus der Welt der Werbung. Etwas lang, aber nicht uninteressant.

 

(c) ch.dériaz

Die Taschenkontrollen haben sich tatsächlich beruhigt, es wird reingeschaut, mal ordentlich, mal nur ein kleiner Blick , aber es gibt keine tägliche Diskussionen mehr. Sehr angenehm, das Kontrollballett ist auch so reichhaltig genug.

 

 

Viel Action, viel Blut

 

Vengeance is mine, all others pay cash
(c) ch.dériaz

 

Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas (Mein ist die Rache, alle anderen zahlen bar) von Edwin ist so etwas wie ein indonesischer Tarantino-Film. Kickboxen nach Strassenregeln, grosse Gefühle, Rache, Missbrauch, aber auch Witz, alles drin. Ein junges Paar mischt die fiesen Typen ihrer Gegend auf, angetrieben werden beide von sexuellem Missbrauch und Traumatisierung in früher Kindheit. Dieser Hintergrund und der Hang, sich mit allem und jedem zu prügeln, bringt sie zusammen, belastet aber im Alltag schwer die Beziehung. Brutal, blutig und auch sehr warmherzig.
Im übrigen gab es zu diesem Film keinen Warnhinweis…

 

Leinwandansichten
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Anlässlich des 70. Geburtstages der UN Flüchtlingskonvention, ist Gillian Triggs, beim UNHCR für Flüchtlingsangelegenheiten zuständig, auf der Piazza Grande zu Besuch, nicht um einen Leoparden in Empfang zu nehmen, sondern um für die Notwendigkeit der Flüchtlingskonvention zu sprechen. Und aufzurufen, auch von Seiten der Kunst, das Thema zu behandeln, weil auf diesem Weg möglicherweise mehr Empathie und Verständnis geschaffen werden kann.
Und dann muss man eigentlich hart schneiden, um auf den Film des Abends zu kommen.

Die Piazza füllt sich
(c) ch.dériaz

Der Jordanische Film The Alleys von Bassel Ghandur ist kein freundliches Wohlfühlmärchen. Der Mikrokosmos eines Stadtviertels in Amman, „Kleine Leute“ leben dort, Einzelhändler, Friseur, aber auch der lokale Mafiaboss und seine Leute, man kennt sich seit Generationen, und trotzdem, oder gerade deshalb, hat der Klatsch im Viertel einen hohen Stellenwert und ist gleichzeitig brandgefährlich. Aus diesem Klatsch, angefacht durch eine Erpressung wegen einer ausserehehlichen Beziehung, entsteht immer düsterer werdende Gewalt. Rache für dies, die wiederum Rache für jenes auslöst, und die Verhältnisse werden immer verworrener, auch deshalb weil sich immer jemand findet, der Teile der Wahrheit verschleiern oder beschönigen möchte. Ein ausgefeiltes Drama, actionreich auch ohne Verfolgungsjagden, eher lakonisch wie Filme des Neorealismus. Sehr spannend, sehr gut, aber auch sehr blutig. Auf jeden Fall beachtlich für einen Erstlingsfilm.

#Locarno Das Kino ist zurück

 

PardoKuh in Gesllschaft
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Taschenkontrollen

 

Kontrollen werden in Locarno ernst genommen, das heisst, dass sowohl Impfbelege als auch Testnachweise nicht nur gescannt werden, sondern es werden auch wirklich die dazu gehörenden Ausweise geprüft. So kramt man ständig in Taschen oder Rucksäcken nach nach dem, was gerade vorgezeigt werden soll. Dafür sind diese Taschen dann wieder Objekt der Kontrolle und da wird dann der Ernst doch etwas übertrieben.
Selbst wenn man die Sinnhaftigkeit von Taschenkontrollen nicht in Frage stellt, dass man immer wieder über einzelne Trinkflaschen oder sonstigen Tascheninhalt „diskutieren“ muss, ist nervenaufreibend. Neueste Idee der Kontrollierer: Rucksäcke abgeben lassen.
Nein, so geht das nicht!
Die Reaktion auf die Weigerung brachte dann eine genaue Untersuchung des Tascheninhalts und der Rucksack durfte mit ins Kino.

Kurzfilme, wild

 

Neues bei den Kurzfilmen: Eine neue Sektion corti d’autori, also Kurzfilme von schon erfolgreichen Filmemachern, wurde ins Leben gerufen. Und seit diesem Jahr werden die nationalen und internationalen Kurzfilme nicht mehr in getrennten Programmen gezeigt , sondern gemischt mit den corti d’autori vorgeführt. Das erhöht das Sehvergnügen und die Vielfalt der einzelnen Programme.

Diese erste Auswahl ist insgesamt sensationell:
Caricaturana des Berlinale Siegers Radu Jude nimmt eine Idee Eisensteins bezüglich Daumiers Karikaturen auf, und baut daraus eine filmische Variation zum Thema Bewegung und Kontext. Sehr witzig und gewitzt.

Steakhouse von Špela Čadež ist ein böser Animationsfilm über (eheliches) Miteinander, das sich als toxisches Gegeneinander herausstellt. Schön gezeichnet, zunächst in Ellipsen und Parallelmontagen erzählt, um dann einer Art Horrorfilmmontage zu weichen.

In flow of words von Eliane Esther Bots ist ein einfühlsam erzählter Dokumentarfilm über Simultandolmetscher im Den Haager Tribunal. Essayistisch gestaltet, mit eigenwilliger Visualisierung der Einsichten und Ansichten der Dolmetscher. Und dabei auch ein Stück europäische Geschichte.

Es muss von Flavio Luca Marano und Jumana Issa erzählt von einer Frau, deren Tag alles andere als gut läuft. Kurz vor der Pensionierung wird sie entlassen, die Polizei hält sie wegen einer Nichtigkeit an, und summiert dann noch weiterer Fehler dazu; als wäre das noch nicht genug, folgt am Ende des Tages der Verlust des Solistenparts im Chor. In Summe: ein Scheisstag, mit einem schrägen, coolen Ende.

Les Démons de Dorothy von Alexis Langlois fährt alles auf, was man sich an Stereotypen zu lesbischen Gore-Porn-Horror-Filmen so ausdenken kann, nutzt alle visuellen, kostümbildnerischen und Maskentricks und schickt die arme titelgebenden Dorothy in einen Albtraum. Der Albtraum wohl vieler Filmemacher, die jenseits des Allgemeintauglichen Geschichten erzählen wollen. Ganz grossartig.

 

Lieblingssitz
(c) ch.dériaz

 

Heilige, Sünder und der Kommunismus

 

Definitiv so weit ein toller Festivaltag mit wirklich spannenden und ungewöhnlichen Filmen.
Auch Nebesa von Srdjan Dragojević reiht sich nahtlos ins filmische Vergnügen.
Der Film ist barock, böse und blasphemisch!
Die Geschichte spannt sich von 1993 bis 2026 – zählt der Film damit schon zum Sciencefiction Genre? – und fängt zunächst brüllend komisch an. Der liebenswerte, freundliche und kriegsvertriebe Stojan lebt mit Frau und Tochter in ärmlichsten Verhältnissen, bis ihm beim Wechseln einer Glühbirne plötzlich ein Heiligenschein wächst.
Die Nachbarn wittern den Teufel oder werfen sich vor dem frisch gebackenen Heiligen auf die Knie, die einzige Lösung den Heiligenschein loszuwerden, scheint: sündig werden. Leichter gesagt als getan. Bis es dann plötzlich doch sehr leicht wird, und damit das ganze Komödiantische ins Böse kippt. Ein Märchen über Gier, (Aber)Glauben, eine Welt in Veränderung, bevölkert von skurrilen Figuren, wahren und falschen Heiligen, und Realitäten, die instabil und unzuverlässig sind. Ein komplexes Weltbild, das man sich leicht ein zweites Mal ansehen kann. Und Heiligenschein wird man selbst dann nicht mehr los, wenn man sich in einen ausgemachten Dreckskerl verwandelt hat.

Selbstwahrnehmung

 

Auf der Piazza Grande, diesmal ohne Regen, der französische Film Rose von Aurélie Saada. Die Geschichte einer Frau – Mutter und Grossmutter – die mit 78, nach dem Tod ihres Mannes, lernt, sich aus sich selbst heraus zu definieren. Die Befreiung von Zwängen und das Ichwerden hat nette und lustige Seiten, aber insgesamt stellt sich doch die Frage, warum alte Frauen, die sich herausnehmen, „egoistisch“ zu werden, im Film immer auf Opposition der Familie treffen. Und warum müssen diese Geschichten fast immer in Form eher sanfter Komödien erzählt werden? Es wird Zeit für starke Frauenfiguren, auch jenseits der 70, die vielleicht auch mal richtig auf den Tisch hauen, „Ich“ sagen und ernstgenommen werden (dürfen).

 

Stuhlfriedhof
(c) ch.dériaz

 

Die Stühle, die auf der Piazza jeden Abend verlässlich und laut zerbrechen, scheinen  einen feinen Sinn für Humor zu haben, und wählen gerne dramaturgische Pausen, um sich krachend  zu zerlegen.

 

Sommerstimmung

 

 

 

Morgensonne
(c) ch.dériaz

 

Einige Änderungen in Locarno sind wirklich schade, so wurde zum Beispiel das Forum Spazio Cinema, zwischen den grossen Mehrzweckhallen-Kinos, zurückgebaut. Was heisst, dass man in dieser Ecke so gut wie keine Möglichkeit mehr hat sich irgendwo halbwegs zivilisiert hinzusetzen. Die Zeit zwischen zwei Vorstellungen reicht aber nicht immer, wieder stadteinwärts zu gehen, so bleiben nur Wiesen in der prallen Sonne (oder im Regen), Bordsteinkanten und einige wenige Steinbänke. Auch ein Austausch mit anderen Festivalbesuchern wird so schwieriger. Gut ist hingegen, dass es endlich ein halbwegs verlässliches öffentliches WLAN gibt, für Besucher ohne Schweizer Handyvertrag nicht unerheblich.

 

Brüder

Ein sehr starker Erstlingsfilm ist Il legionario von Hleb Papou. Der Film vereint Bruderzwist, Rassismus in den Reihen der Polizei und Sozialkritik und macht daraus ein packendes Drama. Als einziger Schwarzer der Bereitschaftspolizei muss sich Daniel mehr behaupten, besser sein, und den Regeln mehr genügen als seine Kollegen. Gleichzeitig ist er aber auch in einem, seit 16 Jahren besetzten und selbstverwaltetem Haus aufgewachsen, in dem immer noch seine Mutter und sein Bruder leben. Er steht emotional und professionell zwischen den Fronten. Die Kamera zeigt diesen Konflikt in sehr nahen Aufnahmen, mit viel Hintergrundunschärfe, teilweise nervösen, schnellen Schnitten, teilweise bleibt sie lang auf Details oder Gesichtern und zieht den Zuschauer damit mitten in die Geschichte, lässt teilhaben am (Gewissens)Konflikt. Ein Film, der Nahe geht und nachdenklich stimmt.

 

Kurzfilme, komplex

Die zweite Runde der pardi di domani zeigt viele künstlerischen Einfälle, aber macht es teilweise trotzdem schwer den Geschichten zu folgen.

Hotel Royal von Salomé Lamas zeigt endlose Hotelflure, Hotelzimmer in verschiedenen Zuständen der Benutzung, darüber, im Off gesprochen, eine Art Szenenanweisung, die etappenweise in etwas konfuse Gedanken eines Teilzeitzimmermädchens abdriften. Die Bilder sind gut gewählt, durch die Wiederholung der Bildkomposition entsteht ein Sog, aber kein Verständnis.

Giochi von Simone Bozzelli zeigt die dunkle Seite vom Spielen. Ein kleiner Junge, der auf seine Mutter nicht mal reagiert, als diese zu ersticken scheint. Sein grosser Bruder, der von seinem Freund wissen will, was er an ein Mädchen aus einem Tanzkurs geschrieben hat. Beziehungen, die nicht so laufen, wie – mindest – eine Seite sie gerne hätte. Und dann ist da noch eine Katze, die zumindest für die Brüder die Emotionen bündelt.

Am spannendsten, auch visuell, ist Love, Dad von Diana Cam Van Nguyen. Teils Realbilder, teils Animation, eine Art digitaler Kollage, die wiederum ein Brief an den Vater ist. Ein Vater, der nur wirklich nah war, als er ein Jahr im Gefängnis verbrachte. Der Versuch einer Annäherung.

Auch die Figur in Chute von Nora Longatti sucht Nähe. Eine junge Frau, die immer wieder, scheinbar grundlos, umkippt. Im Verlauf sieht es aus, als würde sie gezielt in der Nähe von Menschen, die Stress haben, umkippen. Manche kümmern sich um die Gestürzte, andere gehen achtlos weg. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit in einer Stadt, die leer erscheint und keine Nähe zulässt. Besonders schön sind die Bewegungen im und um die Stürzte, eine tänzerische Leichtigkeit, die surreal wirkt.

 

In der Hitze des Wahnsinns

Der soweit schrägste und intensivste Film ist Soul of a beast von Lorenz Merz.
Bilder, Geschichte., Ausstattung, Schnitt, alles schreit laut: Wahnsinn!
Ein alleinerziehender Vater, selbst noch ein Kind, der sich immer wieder kleine Ausbrüche in ein „normales“ Teenagerleben sucht, ein Leben, in dem Adrenalin und schwachsinniges Risiko dominieren. Ein Sommer, in dem die Welt aus – eventuell – kosmischen Gründen durchdreht, und eine neue Liebe, die eine Jungsfreundschaft und das ganze fragile Lebensgebilde auseinanderzureissen droht. Alles in hitzigen Bildern erzählt, oft mit hektischer, Kamera, immer wieder sehr dichte Nahaufnahmen, ein wilder, zunehmend durchdrehender Schnittrhythmus. Wild, wahnsinnig, sensationell, wenn auch an einigen Stellen etwas zu sehr ins Esoterische kippend. Atemlos.

 

Traumata und Rache

 

Was, neben der soweit sehr schönen Filmauswahl, am neuen künstlerischen Leiter Nazzaro auffällt, ist die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der er auf der Bühne steht und agiert. Keine Scheu vor dem Publikum, kein sich Herantasten und erst Warmwerden, er scheint vom ersten Tag an ganz Zuhause zu sein auf der Bühne, und ist dabei freundlich, kompetent und vielsprachig .

Hinterland von Stefan Ruzowitzky ist der erste wirklich grosse Film auf der Piazza. Ein wuchtiges Werk, das die grosse Leinwand wirklich nutzt. Angesiedelt im Jahr 1920 zeigt der Film eine kleine Gruppe Kriegsheimkehrer, zerlumpt, verwundet, nach zwei Jahren Gefangenschaft gebrochen. Sie kommen in eine Welt, die nicht mehr die ist, aus der sie aufgebrochen sind. Aber nicht die Traumata und das soziale Elend der Zwischenkriegszeit sind das Thema, sondern die Ermittlung um einen grausamen Serienmörder, der es allem Anschein nach auf Kriegsheimkehrer abgesehen hat. Die solide, spannende Krimi-und Rachegeschichte ist aber nur ein Teil, der den Film so beindruckend und gewaltig macht. Der andere Teil ist das visuelle Konzept, ein nachgebautes, gemaltes, computergestaltetes Wien, das aussieht, als hätten sich Egon Schiele und Marc Chagall zusammengesetzt, um es zu malen. Häuser, Türme, Strassenschluchten, nichts ist gerade, alles kippt und fällt, wie schlechte Zähne, oder wie sich die Welt für die traumatisierten, verwirrten Soldaten sich anfühlen muss. Die dadurch entstehende Künstlichkeit der Szenen gibt dem Film etwas, das die reine Krimigeschichte nicht hätte. Sehr beeindruckend.

 

Leoparden überall
(c) ch.dériaz

 

 

Cinema is back steht vor jedem Film kurz auf der Leinwand. Was die ersten Tage in Locarno angeht, stimmt das sicher. Ins Kino gehen, in all seinen Facetten ist wieder machbar.

 

#Locarno Die Eröffnung

Piazza Grande im Regen
(c) ch.dériaz

Die Kraft der Kultur

Als gestern Abend die 74. Filmfestspiele in Locarno eröffnet wurden, stand für Festivalpräsident Marco Solari einmal mehr die einende Kraft der (Film)Kultur im Vordergrund. Trotz aller Unkenrufe, Widrigkeiten und Pandemierückschläge glaubte das Team an das Wiedererwachen des Festivals in – fast – normaler Form und Grösse.

Das zweitälteste europäische Filmfestival versteht sich als gleichermassen lokal verwurzelt wie auch international vernetzt, es verbindet Intellektualität und Glamour zum anfassen, und es kämpft unermüdlich für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks.
Das alles wurde und wird wertgeschätzt und, nicht zuletzt, auch finanziell belohnt.
Gerade wurde die Förderung des Festivals sowohl vom Kanton als auch vom Bund erhöht. Locarnos Filmwelt hat viele Fans und Freunde, nicht zuletzt den für Kultur (und Gesundheit) zuständigen Bundesrat Alain Berset.

 

Der – fast – Neue

 

Giona A. Nazzaro
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Giona A. Nazzaro hat nach dem überraschenden Abgang von Lili Hinstin die künstlerische Leitung übernommen. Nazzaro ist in Locarno kein Unbekannter, der Filmjournalist und Festivalkurator kümmerte sich in den vergangenen Jahren immer wieder um deutschsprachige Gäste und moderierte Filmgespräche. Entsprechend unverkrampft und selbstverständlich trat er am Abend vor sein erstes Locarno Publikum, mit fröhlichem Charme und lässiger Ernsthaftigkeit.

Check und Re-check

Natürlich ist alles ein bisschen komplizierter dieses Jahr. Neben allen, hauptsächlich online zu tätigenden, Käufen und Reservierungen, wird auch an „jeder Ecke“ der Impfstatus kontrolliert. Und Kontrollen werden hier durchaus ernst genommen. Heisst: QR-Code herzeigen, scannen lassen, Ausweis hervorkramen, dann QR-Code vom Ticket beim nächsten Kontrollpunkt checken lassen, und da fehlt momentan noch die Taschenkontrolle, die ja schon seit Jahren lästiger Alltag geworden ist. Am Eröffnungsabend ging das, zumindest auf der Piazza Grande, gut und schnell, allerdings hat es auch geregnet und es waren entsprechen nur wenige Zuschauer vor Ort.
Wie das bei Vollbesetzung oder in den grossen Kinos wird, muss sich noch zeigen.

Regenwolken über der Leinwand
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Das bisschen Regen

 

PardoKuh zurück vor der Leinwand
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Das bisschen Regen und die eher unangenehm tiefen Temperaturen schrecken wahre Freunde der Piazza Grande natürlich nicht ab. Und so fanden sich am Abend dann doch gar nicht so wenige Zuschauer, eingepackt in Regencapes, auf den unbequemsten Kinostühlen im schönsten Freiluftkino, ein.
Weniger mutig war diesmal das Festivalteam, die Zeremonie fand im Fevikino statt und wurde auf die Piazza übertragen. Dennoch, schöne Worte, Vorfreude und ein erster Ehrenleopard an die Schauspielerin Laetitia Casta, die mutig auf Italienisch sprach.

Und dann endlich: Locarno ist wirklich eröffnet, der erste Abendfilm startet.

Beckett rennt

In Welturaufführung, Beckett von Ferdinando Cito Filomarino, ein Actionfilm mit einem unermüdlich rennenden John David Washington.
Beckett rennt und Leichen pflastern seinen Weg, wäre die Kurzfassung.
Man kann über den Film kaum sprechen, ohne mit jedem Satz zu viel zu verraten. Beckett, ein amerikanischer Tourist in Griechenland, findet sich nach einem Autounfall plötzlich verletzt und verfolgt und zwischen irgendwelchen Fronten wieder. Wer ihm warum nach dem Leben trachtet, ist unklar, aber ihm bleibt nichts anderes übrig als zu flüchten, mit Gipsarm, angeschossen, allein und schmutzig. An jeder Ecke Verrat, trauen kann er anscheinend niemandem und das Warum der ganzen Geschichte erschliesst sich auch nur teilweise. Washington trägt den Film mit seiner sehr greifbaren Körperlichkeit und Präsenz, spannend ist es auch – irgendwie. Aber man fragt sich schon die ganze Zeit, warum die „Bösen“ den ersten Schuss überhaupt abfeuern, denn ohne diese dumme und sinnlose Aktion, hätte keiner Probleme. Aber wahrscheinlich ist das auch eine müssige Betrachtung, die auf die meisten Dramen zutrifft, und ohne den ersten, mehr oder weniger dummen Schritt, kein Drama, heisst auch: keine Geschichte, keinen Film. Wie der Film im Fevi aufgenommen wurde, weiss ich nicht, auf der Piazza war der Applaus mehr als verhalten, aber es war auch schon spät und nass und kalt und es hätte ohnehin keiner der Beteiligten gehört.

Auch an diesem ersten Abend ist auf der Piazza einer der Plastikstühle mit lautem Krachen zerbrochen, manche Sachen ändern sich irgendwie nie.

Die Stühle
(c) ch.dériaz

#LocarnoFestival Vorfreude

Vorbereitung Locarno
(c) ch.dériaz

Locarno die 74. Vorbereitungen

In gerade mal einer Woche wird die riesige Leinwand auf der Piazza Grande in Locarno wieder mit Licht, Schatten und Bewegtbildern gefüllt sein.
Im letzten Jahr gab es nur eine „abgespeckte“ Festivalversion und vor allem:
Ohne Filme auf der Piazza, es fehlte damit das Herzstück des Festivals.
Dieses Jahr also wieder ein komplettes Programm an allen Spielorten.

Alles wie gehabt und alles auch neu.

2021 gibt es eine FestivalApp für Online Anmeldung und Sitzplatzreservierung, Maskenpflicht und verringerte Besucherzahl in den Sälen und, mit Giona A. Nazzaro, einen neuen künstlerischer Leiter.
Genug Gründe gespannt auf diese Ausgabe zu sein.
Das Programm klingt auf jeden Fall spannend.

 

Nicht ohne Handy

Das Mobiltelephon wird bei dieser Ausgabe eine zentrale Rolle bei jedem Besucher spielen. Nicht nur braucht man es, um Impf- oder Teststatus EU-konform nachzuweisen, auch ohne die FestivalApp wird es schwierig.
Nach etwas zähmen Anfang am ersten Tag, funktioniert die App aber jetzt problemlos.

die App

 

Karten kaufen oder reservieren, Sitzplätze auswählen, Programm anschauen, alles handlich und für die Hosentasche.

 

Masken, Tests, Impfungen

Ohne wird in Locarno nichts gehen, so zumindest der Plan. Ob und wie weit dann bei jedem Kino, bei jeder Veranstaltung wirklich so kontrolliert werden wird, wird sich zeigen.
Selbstverständlich gilt in allen Kinos Maskenpflicht.

Die Vorstellungen sind zeitlich etwas entzerrt, sodass Zeit zum Lüften der Säle bleibt, aber eben auch Zeit für die umfangreicheren Kontrollen. Möglicherweise werden durch all diese Massnahmen die Verspätungen, die spätestens ab der zweiten Vorstellung des Tages lästige Normalität sind, ein wenig eingedämmt.

Die Leinwand

 

Das grösste und schönste Openair Kino ist auf jeden Fall bereit.
Am 4. August, pünktlich um 21.30, wird es feierlich losgehen, erster Film des Festivals: Beckett von Ferdinando Cito Filomarino.

Alles zum Festival, zu den Filmen und zur Stimmung in Locarno gibt es dann ab 5. August hier zu lesen.

#FestivalTipp für Berlin

 

(c) Film:Schweiz


Schweizer Filme in Berlin

 

Das Filmland Schweiz führt, unberechtigter Weise, ein Schattendasein in europäischen Kinos. Mal werden die Filme nicht als schweizerisch wahrgenommen, weil sie in Koproduktion mit den jeweils „grossen“ Nachbarn entstanden sind, oder sie schaffen es, ausser zu Festivals, kaum auf ausländische Leinwände. Unwissen und Vorurteile – die sind alle auf Schweizerdeutsch – herrschen, und so entgeht dem europäischen Publikum ein interessanter und vielschichtiger Teil europäischen Kunstschaffens.
Abhilfe schafft da das bereits zum 3. Mal stattfindende Festival
Film:Schweiz.
Kuratiert und organisiert wird es von der in Berlin lebenden Schweizerin Teresa Vena. Diese Ausgabe war für April 2020 geplant, musste aber aus bekannten Gründen abgesagt werden. Nun kann das Festival endlich stattfinden, vom 29.7. bis 4.8. kann man sich im
Kino in der Brotfabrik ein Bild vom Schweizer Filmschaffen machen, das sollte man nicht verpassen.

 

Hier einige Filmtipps

 

Eröffnet und in Anwesenheit des Regisseurs wird mit Der Büezer“.
Hans Kaufmann hat den Film mit kleinem Budget und ohne weitere Förderung realisiert. Die Geschichte eines lieben Kerls, der eigentlich nur gern ein bisschen mehr Geld und eine nette Freundin hätte. Aber auf dem Bau, wo er als Installateur arbeitet, herrscht ein rauer, sexistischer Umgangston, beim Versuch eines Dates per Tinder verschwindet die Dame, nachdem sie gehört hat, dass er nur ein einfacher Arbeiter ist. Eine junge Frau, die er zufällig trifft, entpuppt sich als Mitglied einer religiösen Gruppe, und der väterliche Freund als Zuhälter minderjähriger Migrantinnen. Nach der Verzweiflung folgt die Wut, und die bricht sich in bester Taxi Driver Manier ihren Weg. Spannend ist das vor allem wegen des Spiels von Joel Basman, der von zart, schüchtern und zurückhaltend zum „Tier“ mutiert, um dann in eine Art leuchtende Ruhe zurückzufinden.

KurzfilmTipp

 

Der Kurzfilm „All Inclusive“ von Corina Schwingruber Ilić, erzählt kurz, bündig und in tollen Bildern vom Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff, dokumentarisch und satirisch. Wer danach noch eine Kreuzfahrt machen will, ist selber Schuld.

DokumentarfilmTipp

 

Das Leben vor dem Tod“  von Gregor Frei macht es dem Zuschauer am Anfang etwas schwer, gewinnt aber im Verlauf enorm. Der Dokumentarfilm begleitet über 4 Jahre den Vater des Regisseurs und dessen Nachbarn in einem kleinen Tessiner Dorf. Am Anfang steht die Idee des Vaters, der sich nicht damit abfinden kann und will, dass sein Nachbar seinen Freitod vorbereitet, und deshalb einen Film darüber machen will. Zur Unterstützung des Projekts bittet er seinen Sohn um Hilfe. Geplant ist, eine Gesprächssituation zu filmen und mit den Gesprächen das Thema auszuloten. Und diesen Anfang, an dem der Film noch keinen eindeutigen geistigen und künstlerischen „Vater“ hat, in dem es geschwätzig aber nicht interessant zugeht, gilt es zu überstehen. Danach läuft der fast experimentelle Film über die ganz grossen Fragen des Lebens wunderbar, und lässt die Zuschauer nachdenken, lachen und mitfühlen, ohne ins Trostlose zu kippen.

 

schweizer bier
Mit Glück wird es in Berlin in der Brotfabrik auch Schweizer Bier geben. (c) ch.dériaz
RadikalesKino

 

Innovativ, radikal und avantgardistisch ist der Film Das Höllentor von Zürich“
von Cyrill Oberholzer. Der Film spielt mit Kameraeffekten, Fehlfarben und Computerbildern, die Bildausschnitte, Perspektiven und Schnittfolgen sind von Danny Boyds „127 hours“ 1:1übernommen, und auch die Situation des Feststeckens, allein und in aussichtsloser Lage entspricht dem Original. Bloss, dass alles von Anfang an in rauschhaftem Wahnsinn daherkommt. Anders als im Vorbild, steckt nicht ein Mann in einer Felsspalte fest, sondern eine junge Frau, und zwar mit einem Finger im Abfluss ihrer Badewanne. Daraus wird eine Art Trip, der in seiner Bildstruktur und Bildgestaltung eine grandiose Übersetzung der psychedelischen Filme der 60er und 70er Jahre ist, aber eben mit den visuellen Spielereien, die heute machbar und (aus)denkbar sind. Eine echte Entdeckung, ein gelungener, anstrengender Film, auf den man sich einlassen muss.

 

Dürrenmatt im Film

Zusätzlich zum aktuellen Filmgeschehen gibt es einen Fokus auf Friedrich Dürrenmatt, in diesem Kontext gibt es zwei Filme und eine Lesung.
Gezeigt werden: Der Richter und sein Henker (1975)
und auch
Es geschah am hellichten Tag (1958).
Der Film nach einem Drehbuch von Dürrenmatt – der im Nachhinein daraus den Roman „Das Versprechen“ verfasste – ist dank seiner Präsenz im Fernsehen möglicherweise eine der bekanntesten Schweizer Produktionen, aber auch dieser Film gehört ins Kino.

Die Auswahl zeigt, das Filmschaffen der Schweiz ist genauso wenig homogen wie, zum Beispiel, das der USA, und es verdient auf jeden Fall ein grösseres Publikum auch ausserhalb der Schweiz. Dieses Festival leistet die dafür notwendige Pionierarbeit.
Das gesamte Programm gibt es hier.

 

 

# Die Frauen und der Film

Goldener Bobby, oder: Mit der Faust auf den Tisch schlagen
(c) ch.dériaz

 

Ein Ärgernis

Worüber wir mal wieder reden sollten: Frauen im Film(geschäft).
Nein, nicht Frauen auf der Leinwand, nicht über das immer noch altväterliche Frauenbild in vielen Filmen, sondern über die Frauen, die „hinter der Kamera“ arbeiten könnten, wenn man sie liesse.

Unter Palmen

Gerade hat in Cannes eine Frau die Goldene Palme gewonnen.
Das ist super.
Das wäre super, wenn Julia Ducournau in 74 Ausgaben der Filmfestspiele von Cannes nicht erst die zweite Frau – nach Jane Campion (1993!) – wäre, der diese Auszeichnung zuteilwurde. Und wenn nicht von den 24 Filmen im Wettbewerb nur 4 von Frauen inszeniert worden wären.
Und wenn bei den weiteren Preisträgern mehr als nur eine Kamerafrau, Caroline Champetier bei Leo Carax‘ Annette, und zwei Cutterinnen, Nelly Quettier, ebenfalls bei Annette, und Hayedeh Safiyari bei Asghar Farhadis A Hero, beteiligt gewesen wären.
Das ist zu wenig.

Zumal es, theoretisch, nicht an Frauen mangelt, die Regie führen, Kameras bedienen, Filme schneiden können. Die Filmhochschulen, um der Einfachheit halber nur diesen Ausbildungsweg zu nennen, bilden etwa gleich viele Männer und Frauen aus. Aber irgendwann nach ihrer Ausbildung verschwinden viele Kolleginnen im Nichts.

 

Die Anfänge

Als der Film sich erfand, hatte er nicht nur Gründungsväter, sondern auch viele Gründungsmütter. Aber damals hat wohl niemand dem neuen Spielzeug zugetraut, wichtig zu werden, gar Geld zu bringen. Und so kam das frauenfeindliche gesellschaftliche Korsett nicht zur Anwendung. Erst als der Film das Versuchsstadium und die Jahrmärkte verliess und anfing, wirtschaftlich interessant zu werden, griff das übliche Muster, und Frauen verschwanden langsam aus der Branche, zumindest da, wo sie sichtbar waren.

Eine Zeitlang, bevor man verstand, dass der Filmschnitt eine eigene künstlerische Gattung ist, durften Frauen noch schneiden, so wie sie Sekretärinnen sein durften. Aber je mehr der Film wuchs, je mehr Geld damit gemacht werden konnte, um so mehr wichen die Frauen. Beim Fernsehen dominierten die Frauen im Schneideraum, aber das war sprichwörtlich im Dunkeln, hinter den Kulissen. Sobald es um Kinofilme ging, wurden Männer engagiert.

Warum?

Egal ob Regie, Kamera, Schnitt oder Ton, es geht einerseits um Talent, dann um Handwerk und am Ende darum beides so zu verbinden, dass aus vielen künstlerischen Einzelteilen ein grösseres Ganzes wird.
Dafür braucht es keine primären männlichen Geschlechtsorgane.

Für manche Arbeiten braucht es eventuell mehr Kraft, aber es gibt sowohl zierliche, unsportliche Männer, wie sportliche, starke Frauen, Durchhaltevermögen ist nicht abhängig von XX oder XY, Phantasie ist an kein Geschlecht gebunden.

Warum stehen nicht mehr Kamerafrauen, Tonmeisterinnen, Regisseurinnen, Produzentinnen, Cutterinnen im internationalen Rampenlicht?

Harte Themen nur für Männer

Ein weiteres Vorurteil hält sich hartnäckig: Frauen taugen nicht für Actionfilme, für harte Geschichten, für Grausiges und Abseitiges.
Falsch!
Der Cannes Siegerfilm Titane von Julia Ducournau ist ein Science-Fiction-Film, dem es an Gewalt nicht mangelt, auch Kathryn Bigelows Filme sind kein seichtes Erzähl- oder Wohlfühlkino, und kürzlich hat Kamerafrau Agnès Godard in einem Interview gesagt, sie würde gerne einen Kriegsfilm drehen.

Die Kunst in der Filmkunst ist, das Können und Wissen jedem Stoff zur Verfügung zu stellen, unerheblich, ob man ein sensibles Kammerspiel, ein rasantes Kriegsdrama, einen wilden Akttonfilm, oder, oder, oder, vor sich hat.
Jeder Film hat seine eigenen Anforderungen, das Spannende an der Arbeit mit Geschichten setzt genau dort an, sich hineinzufühlen- oder zuwühlen, um das beste daraus zu machen. Dafür muss man im realen Leben weder eine Draufgängerin noch eine Kampfmaschine sein, es braucht nur das Verständnis für die Notwendigkeiten des jeweiligen Stoffs, mehr ist es nicht, bei keinem Film.

Kamerapreis

In diesem Jahr ging sowohl der deutsche als auch der österreichische Kamerapreis an eine Frau, an Christine A. Maier für ihre grossartige Arbeit bei Quo vadis, Aida?

Anlässlich der Verleihung in Österreich hielt Kamerafrau und Vorsitzende des österreichischen Kameraverbands, Astrid Heubrandtner, eine bemerkenswerte Rede zum Thema, sie endete mit dem Aufruf: engagiert die vielen gut ausgebildeten Frauen der Filmbranche.
So einfach könnte es sein.

 

Quoten?

Sind Quoten eine Lösung? Vielleicht.
Zumindest so lang bis sich herumgesprochen hat, dass man bei jedem Projekt eine bestimmte Person, mit bestimmten Qualitäten auswählt, unabhängig von dem, was in der Hose oder nicht in der Hose ist. Auch Festivals täten gut daran, mehr auf eine gleichmässige Verteilung zu achten, bei den Festivals, wo das schon stattfindet, gewinnen in letzter Zeit vermehrt Filme von Frauen.

Was für die Vorstandetagen von Multinationalen Betrieben gelten soll, kann gut auch für die Filmindustrie gelten.

#Diagonale: Der Schluss

 

Mit Sack und Pack ins Kino
(c) ch.dériaz

 

Mit Sack und Pack ins Kino

 

Ein letzter Film noch, bevor es wieder zurückgeht, die Wahl fällt auf Der schönste Tag von Fabian Eder.
Der Saal füllt sich, die Plätze nicht ausgeschöpft, aber doch nicht so schlecht, für einen Dokumentarfilm, um 10 Uhr am Sonntagmorgen.
Ein Film, in dem, in weiten Teilen, Menschen reden, also Talkingheads, sie reden zum Thema Holocaust. Trotzdem ist das einer der besten Filme, die dieses Jahr zu sehen waren. Zum einen, weil der Film sich und dem Zuschauer Zeit lässt, zum anderen, weil eine der zentralen Ideen darin besteht, jeden Zeitzeugen mit einem jungen Menschen – meistens deren Enkel – in ein Zugabteil zu setzen, und das dort entstehende Gespräch mit sechs Kameras zu drehen. In Ruhe, mit viel Sensibilität. Ein privater Dialog, zwischen Menschen, die einander kennen und vertrauen.
Parallel zu diesen intergenerationalen Gesprächen geht es um die, seit 2013 im Umbau befindliche, Ausstellung in der KZ Gedenkstelle in Auschwitz, zur Rolle Österreichs während des Dritten Reichs. Auch hier: sprechende Menschen. Sie tun das eloquent, ruhig, und ohne filmischen Schnickschnack.
Dazwischen immer wieder vor allem: Zeit und sehr, sehr gute Bilder.
Selten ist ein so komplexes Thema, so ruhig, sensibel und, über 112 Minuten, spannend dargebracht worden. Dieser Film ist einfach toll.

Hinter den Kulissen ist es auch spannend

Es hat sich auch gelohnt, zur Diskussion nach dem Film zu bleiben, denn da lüftet sich das Geheimnis, um die Bilder im Zug: Das Abteil ist zum Drehen nachgebaut worden, während der Gespräche lief „live“ dazu der bewegte Hintergrund, wodurch eine absolut glaubwürdige Zugfahrtillusion entstand.
In den Film kamen, von den 23 gedrehten Dialogpaaren letztlich nur 4, die anderen werden als jeweils einzelne Gespräche gezeigt werden, im Fernsehen oder auch in Schulen.
Eine besondere Freude: der Film gewann den Publikumspreis der Diagonale.
Was wieder zeigt, man kann, man darf und muss dem Kinopublikum etwas zumuten.

 

(c) ch.dériaz

 

Die Preise 2021

Den Grossen Diagonale Preis/Spielfilm gewann Evi Romen für Hochwald.
Der Grosse Diagonale Preis/ Dokumentarfilm geht an Tizza Covi und Rainer Frimmel für Aufzeichnungen aus der Unterwelt

Die beiden Preise für die beste künstlerische Montage gehen an:
Karina Ressler und Joana Scrinzi für Fuchs im Bau
und an Yves Deschamps und Hubert Sauper für den Schnitt des Dokumentrafilms Epicentro.

Die Preise für die beste Bildgestaltung gehen an zwei Filme, die ich nicht gesehen habe.
Für die beste künstlerische Bildgestaltung/Dokumentarfilm geht der Preis an:
Jordane Chouzenoux für Wenn es Liebe wäre.

Für die beste künstlerische Bildgestaltung/Spielfilm  an Ludwig Wüst, für seinen Film 3.30PM.
Auch ohne den Film gesehen zu haben, mutet diese Entscheidung etwas seltsam an, da im Katalogtext folgendes zur Kamera/Bildgestaltung zu lesen ist:

Durch eine niedrigauflösende Bodycam, die einem der Darsteller an die Brust geheftet ist, „schafft sich der Regisseur während der Dreharbeiten ab“, wie Wüst es selbst bezeichnet.

Das mag als künstlerisches Mittel toll, oder spektakulär oder einfach nur originell sein, und der Preis heisst ja auch „für beste Bildgestaltung“ statt „Beste Kamera(arbeit)“, aber schöner wäre es schon, wenn den Preis auch Kameraleute bekämen.
Aber, wie so vieles, vielleicht ist auch das wieder nur geschmäcklerisch.

Alle Preise auf der Seite der Diagonale

 

Das war’s aus Graz, die Diagonale 2021 ist vorbei, vieles war anders als gewohnt, aber die Stimmung war gut und entspannt. Und es war eine so grosse Freude, endlich wieder ins Kino gehen zu können.
Die Diagonale 2022 wird vom 5. bis 10. April stattfinden.

Wie gemalt, Licht in Graz
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